Wo Männergewalt gegen Frauen beginnt
Weltweit wird alle zehn Minuten eine Frau von einem Mann getötet, fast immer von jemandem, der ihr nahe stand. In Europa sind Frauen doppelt so häufig wie Männer einem tödlichen Angriff durch einen (Ex-)Partner ausgesetzt. Österreich zählt seit Jahren zu den EU-Ländern, in denen Frauen überdurchschnittlich oft Opfer solcher Tötungen werden. Diese Zahlen sind erschütternd, aber aus Sicht der Gewaltforschung nicht überraschend.
Denn Gewalt gegen Frauen wird seit den 1980er-Jahren als Kontinuum verstanden. Die britische Soziologin Liz Kelly prägte den Begriff 1988: Gewalt ist kein singuläres Ereignis. Hier ein Frauenmord, dort eine Vergewaltigung, von verrückten, abartigen Einzeltätern? Nein. Es ist ein zusammenhängendes Gefüge, das unsere gesamte Gesellschaft strukturiert. Zwischen dem “harmlosen”, das wird man ja wohl noch sagen dürfen, Witz bis zum Mord an einer Frau gibt es eine Verbindungslinie. Gewalt passiert auf vielen Stufen: symbolisch, strukturell, institutionell. Jede Stufe der Gewalt stabilisiert die nächste.
Ganz unten findet sich die symbolische Gewalt, die kulturelle Basis dafür, dass wir Männern Dominanz über Frauen zugestehen.
Gefahr im Alltag
Die Autorin Kate Manne nennt das die ganz alltägliche Disziplinierung von Frauen. Sexistische Witzchen, die Entwertung weiblicher Expertise, sexualisierte Werbung, „Komplimente“, Catcalling, die Erwartung, dass Frauen fürsorglich sind, das Erfahrungswissen, dass wir im öffentlichen Raum begutachtet, beurteilt, betatscht werden können.
Schon Mädchen werden sozialisiert, die Straße als potenziellen Gefahrenraum zu begreifen: Fragt man Frauen, was sie am Heimweg tun, um ihre Sicherheit zu erhöhen, kommt eine elendslange Liste: Schlüssel zwischen den Fingern, Heimweg teilen, nicht zu spät joggen, keinen Blickkontakt aufnehmen, keine Kopfhörer aufsetzen. Fragt man Männer ist die Antwort: Nichts. Weil sie es nicht müssen.
All das kann man noch harmlos finden. Ist es aber nicht. Länder, in denen Alltagssexismus und starre Geschlechterrollen weit verbreitet sind, akzeptieren männliche Kontrolle und Grenzverletzungen durch sie eher und weisen auch deutlich mehr schwere Gewalt gegen Frauen auf. Das gilt unabhängig von Religion, Einkommen oder Bildungsgrad.
Symbolische Gewalt ist deshalb die Grundstufe des gesamten Systems. Sie erschafft die Idee in all unseren Köpfen, Männer wie Frauen, dass Frauen weniger Anspruch auf Raum, Sicherheit, Geld, Zeit und Respekt haben. Auf dieser ersten Stufe wird ein für allemal geklärt: Männliche Dominanz ist normal.
Wo sich Gewalt zeigt
Dazu kommt die ökonomische Gewalt. Gewalt ist ja nicht nur ein körperlicher Akt, sie zeigt sich auch in unserer wirtschaftlichen Ordnung:
- Frauen werden für die gleiche Arbeit schlechter bezahlt.
- Branchen, in denen viele Frauen arbeiten, werden systematisch abgewertet. Mit dem Prestige fällt auch die Bezahlung.
- Frauen werden seltener befördert, darum gibt es auch viel weniger Frauen in Führungspositionen.
- Frauen leisten zwei Drittel der unbezahlten Arbeit daheim und haben darum weniger Zeit für bezahlte Arbeit. Sie haben also folgerichtig:
- Weniger Einkommen, weniger Pension, weniger ökonomische Macht.
All das macht sie weniger sicher. Denn Studien zeigen eindeutig: Ökonomische Abhängigkeit verdoppelt bis verdreifacht das Risiko, Gewalt zu erleben und erschwert das Entkommen aus ihr. Ich muss es mir eben auch leisten können, einen Gewalttäter zu verlassen.
Dazu kommt dann die institutionelle Gewalt. Gewalt gegen Frauen gibt es überall, wo Institutionen versagen. Wenn die Polizei Anzeigen abwiegelt, statt hart zu verfolgen; wenn die Staatsanwaltschaft Verfahren einstellt, weil zu mühsam; wenn Gerichte Täter mild behandeln; wenn Medien Täter narrativ entschuldigen und für Verständnis werben; dann entsteht ein System, das Täter entlastet und Betroffene belastet.
Europaweite Erhebungen zeigen:
– Eine von drei Frauen erlebt körperliche oder sexualisierte Gewalt.
– Jede zweite Frau erlebt sexuelle Belästigung.
– Die meisten Täter sind Männer, die die Frauen kennen.
– Die Anzeigequoten sind extrem niedrig, was internationale Forschung mit fehlendem Vertrauen in Institutionen, Scham, Schuldzuweisung erklärt.
Gewalttaten sind häufig, Verurteilungen sind selten
Nur eine Zahl: Europaweit liegt die Verurteilungsquote für Vergewaltigung in vielen Ländern unter zehn Prozent, auch in Österreich. Kriminologische Forschung zeigt: Wenn man keine Konsequenzen fürchten muss, dann erhöht sich die Wiederholungs- und Eskalationsgefahr. Institutionelle Untätigkeit ist also kein Fehler im System, auch sie ist Teil des Kontinuums der Gewalt gegen Frauen.
Erst hier kommt die sichtbare Stufe, all jene Formen, die wir üblicherweise als „Gewalt“ erkennen, die interpersonale Gewalt. Kontrolle, Stalking, Drohungen, psychische Gewalt, sexuelle Übergriffe, körperliche Attacken und schließlich: Der Femizid. Aber dort beginnt die Gewalt eben nicht. Schwere Gewalt entsteht fast nie plötzlich. Sie ist das Ende einer sukzessiven Eskalation: Kontrolle, Entwertung, ökonomische Abhängigkeit, Drohungen, Schläge, dann Tötung. Jeder Femizid hat einen Vorlauf. Und zwar einen langen.
Lange Eskalation
Die Täterforschung zeigt: Die allermeisten Täter haben lange vorher mit Grenzverletzungen begonnen, die sozial geduldet oder verharmlost wurden. Femizide sind nicht ein eskalierter Einzelfall, sondern die logische Konsequenz eines Systems, das auf allen Ebenen Ungleichheit herstellt und aufrechterhält. Sie entstehen nicht trotz unserer sozialen Ordnung, sondern durch sie.
Immer wieder folgt auf solche Analysen der Satz: „Not all men.“ Aber die Männlichkeitsforschung zeigt: Es geht nicht um individuelle Schuld, sondern um strukturelle Positionierung. Gewalt gegen Frauen ist in patriarchalen Systemen eine Option, die Männern sozial zur Verfügung steht. Weil sie geduldet, verharmlost und kaum geahndet wird.
Und während Frauen täglich Strategien entwickeln müssen, um Gefahren zu vermeiden, profitieren Männer gleichzeitig von der strukturellen Ordnung, die Gewalt ermöglicht.
Alle Männer haben Vorteile dadurch
Die Soziologin Raewyn Connell nennt das die patriarchale Dividende. Alle Männer, auch die “guten”, ziehen Vorteile aus der Geschlechterhierarchie, selbst wenn sie sie nicht aktiv herstellen. Auch sie bekommen mehr bezahlt, ihnen wird mehr Kompetenz zugeschrieben, ihnen wird eher zugehört und geglaubt, sie müssen weniger unbezahlte Arbeit leisten, ohne soziale Folgen fürchten zu müssen, sie werden mit viel geringerer Wahrscheinlichkeit, sexualisiert oder bedroht zu werden.
Diese strukturelle Dividende erklärt auch, warum das Kontinuum so stabil ist: Gewalt wird nicht nur durch einzelne Täter reproduziert, sondern durch institutionelle und kulturelle Rahmenbedingungen. Man kann die Gewalt gegen Frauen nicht verstehen, ohne ihre ersten Stufen ernst zu nehmen. Und man kann sie nicht verhindern, ohne die sozialen Bedingungen zu verändern, die sie ermöglichen.
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit ist Gewaltprävention. Die Aufwertung von Frauenberufen ist Gewaltprävention. Eine bessere Strafverfolgung ist Gewaltprävention. Die Absicherung des Sozialstaats ist Gewaltprävention. Verpflichtende Väterkarenz ist Gewaltprävention. Das Infragestellen männlicher Dominanz ist Gewaltprävention.










