Menschenrechte unter Druck: “Am Ende wollen Alle schon immer dagegen gewesen sein”

“Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Solidarität begegnen“ heißt es im ersten Artikel der aktuellen Fassung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948.
Was ist ein Menschenrecht?
Ein Menschenrecht ist ein Recht, mit dem jeder Mensch geboren wird und das er auch nicht verlieren kann. Es ist das absolute Minimum dessen, was wir allen Menschen an Würde zugestehen. Ein Menschenrecht gilt für alle, sonst ist es keines.
Welche Menschenrechte gibt es überhaupt?
Prinzipiell unterscheidet man oft zwischen bürgerlichen und politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen sowie kollektiven Menschenrechten. Zur ersten Kategorie gehört zum Beispiel das Recht auf Leben, das Verbot der Folter, das Recht auf persönliche Freiheit, auf Familie und Privatleben, Religionsfreiheit und politische Mitbestimmung, außerdem die Meinungsäußerungsfreiheit und die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit.
Zu wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten gehören beispielsweise das Recht auf Arbeit und angemessene Arbeitsbedingungen, Gesundheit, soziale Sicherheit, Nahrung und Wasser, Wohnung und Bildung.
Kollektive Rechte können laut der Menschenrechtsorganisation “Amnesty International” nicht von einzelnen Personen, sondern nur von Gemeinschaften mit anderen wahrgenommen werden. Dazu zählen das Recht auf Selbstbestimmung der Völker, auf Entwicklung und auf eine gesunde Umwelt. “Über” all diesen Rechten steht das generelle Diskriminierungsverbot, das für alle Menschenrechte relevant ist.
Wie sind Menschenrechtsdokumente entstanden?
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte stammt aus 1948. Die Genfer Flüchtlingskonvention aus 1951. Die Europäische Menschenrechtskonvention aus 1953. Warum sind so viele wichtige Menschenrechtsdokumente in den 50ern entstanden?
“Das sind direkte Antworten auf die Erfahrung zweier Weltkriege und natürlich der Shoah”, erklärt Shoura Hashemi, Juristin und Geschäftsführerin der Menschenrechtsorganisation “Amnesty International Österreich“. “Das Vorhaben, so eine menschenverachtende Katastrophe nie wieder zuzulassen, wollte man dann in rechtlich verbindende Dokumente gießen”, fasst Hashemi zusammen.
Auch damals gab es Kritik an ihnen. “Zum Beispiel auch aus dem globalen Süden, dass man ja keine universellen Menschenrechte annehmen könne, weil jede Kultur oder Religion ihre eigenen Rechte definiert.” Das habe sich aber zum Glück nicht durchgesetzt, so Hashemi.
Zudem müsse man auch sagen, dass die Vereinten Nationen (UNO) viel weniger Staaten waren, als sie sich auf die allgemeine Erklärung der Menschenrechte einigten. “Ich glaube, wir würden in der heutigen Zeit nie wieder auf einen Konsens wie eben Mitte der 40er und 50er kommen”, befürchtet Hashemi. Deswegen sei es so wichtig, an den entstandenen Dokumenten festzuhalten, damit sie nicht verwässert oder ausgehebelt werden.
Warum sind Menschenrechte weltweit bedroht?
In den letzten Jahrzehnten nehmen weltweit rechtsstaatliche und liberale Demokratien ab und autoritäre Herrschaften von einer einzelnen Person oder einer einzelnen Gruppe nehmen zu – auch in Europa.
Auch Shoura Hashemi erklärt, dass mit menschenverachtenden Narrativen Politik gemacht wird, um Sündenböcke für aktuelle Herausforderungen zu suchen. “Gerade Populist:innen spielen mit dem Narrativ, dass wenn man irgendwem etwas wegnimmt, es eben anderen besser geht – was überhaupt nicht stimmt.”
In Österreich habe man laut Hashemi mit der letzten Regierungsbildung gerade noch “die Kurve gekratzt”. Ursprünglich war nämlich eine Koalition zwischen der ÖVP und der FPÖ geplant. “Ich kann mich an geleakte Protokolle erinnern, in denen Forderungen ganz klar menschenrechtswidrig waren. Zum Beispiel die Änderung der Europäischen Menschenrechtskonvention.”
Trotzdem ist Österreich nicht von den Entwicklungen ausgenommen. „Jetzt ist ein besonders gefährlicher Moment [für die Menschenrechte], weil wir uns in einer umfassenden geopolitischen Krise befinden, in der die Justiz und die Medien an ganz vielen Orten systematisch torpediert werden“, sagt auch etwa die Schweizer Völkerrechtsprofessorin Evelyne Schmid kürzlich zur „Republik„. Sie kritisiert damit etwa auch einen offenen Brief neun europäischer Staatschefs – darunter Österreichs Bundeskanzler Christian Stocker – die dem Europäischen Gericht für Menschenrechte vorwarfen, seine „Kompetenzen zu überschreiten“, weil er „die falschen Leute“ schütze. „Dieser Brief stellt einen fundamentalen Angriff auf den Kerngedanken der Menschenrechte dar.“
Was sind die größten Menschenrechtsverletzungen weltweit?
“Die Welt ist aus den Fugen geraten”, sagt Shams Asadi. Sie leitet das Menschenrechtsbüro in Wien. Unsere Hauptstadt hat sich 2014 zur “Menschenrechtsstadt” erklärt, um Menschenrechte in all ihren Kompetenzbereichen zu fördern und zu stärken. Die heute größten Menschenrechtsverletzungen finden freilich woanders statt. Bei dieser Frage sind sich Asadi und Hashemi einig: Es sind die große Menge an bewaffneten Konflikten derzeit.
Bei Amnesty International stand Gaza stark im Fokus. Mit der Veröffentlichung ihres Genozidberichts Anfang Dezember bezeichnete die Menschenrechtsorganisation den Vorgang Israels gegenüber Palästinenser:innen als Genozid. Deshalb wurden Vorwürfe zwischen Antisemitismus bis zur Unterstützung der palästinensischen Terrororganisation Hamas laut. Diese lehnt Hashemi entschieden ab: “Es ist wirklich unser Job, alle zu kritisieren, die Menschenrechtsverletzungen begehen. Wir kritisieren die Hamas. Sie sind eine bewaffnete Gruppe, an die wir nicht so leicht herankommen.” Man könne ihnen nicht einfach Briefe schicken oder Petitionen starten, wie Amnesty International das sonst macht. “Israel hat eine demokratisch gewählte Regierung – da haben wir eine gewisse Handhabe. An sie kommen wir medial besser heran und haben Kontakte”, erklärt Hashemi.
Sie stellt fest, dass Politik und Medien mittlerweile immer mehr von Genozid in Gaza sprechen. “Ich wünschte mir, es wäre früher passiert. Schon von Anfang an haben mir Kolleg:innen gesagt: Am Ende wollen Alle schon immer dagegen gewesen sein”, sagt Hashemi.
Weniger Beachtung für andere Konflikte
Andere Schwerpunkte von “Amnesty International” sind die Ukraine, Afghanistan oder Iran. “Wir arbeiten zur Ukraine relativ viel, aber wir merken, dass unsere Berichte zu dem Thema medial nicht mehr so oft aufgegriffen werden”, so die Geschäftsführerin von Amnesty International. Im Herbst soll ein großer Bericht über Syrien veröffentlicht werden. Als unsichtbare Flecken bezeichnet Hashemi aufgrund von Personalmangel den Sudan, aber auch Kongo oder Eritrea: “Das sind die Bereiche, wo wir auf jeden Fall mehr machen müssen.”
Besonders betroffen von Menschenrechtsverletzungen weltweit seien laut Shams Asadi oft Frauen: “Ob es dabei um ihre Sicherheit geht, Ernährung der Familie, Überbelastung durch die Arbeit gerade im Pflegebereich, illegale Schwangerschaftsabbrüche, aber auch Vergewaltigungen von Frauen als Waffe im Krieg.”
“Menschenrechte stehen alle miteinander in Verbindung – die Konsequenzen tragen wir weltweit.”, sagt Asadi. Der Druck auf Menschenrechte betrifft und gefährdet aber auch ganz direkt alte Demokratien. “Es ist nicht zu glauben, wie nur ein Mensch das ganze System ändern kann. Das ist eine Katastrophe aus demokratischer und menschenrechtlicher Sicht”, bewertet Asadi die menschenrechtliche Situation in den USA seit dem zweiten Amtsantritt von Trump. “Migrant:innen werden abgeschoben, obwohl sie seit Jahrzehnten dort wohnen und ihre Kinder dort geboren sind. Die Bevölkerung von Los Angeles protestiert gegen Trumps Politik und wird von Militäreinheiten bekämpft, weil sie für Menschenrechte aufstehen”, nennt Asadi ein Beispiel.
Verbesserungsbedarf – auch in Österreich
Österreich hat auch so seine Probleme. Das Wahlrecht – also politische Teilhabe als Menschenrecht – sieht Asadi in Österreich beschnitten. Bei der Wien-Wahl zum Beispiel durften mehr als 35 Prozent der Wiener:innen wegen fehlender österreichischer Staatsbürgerschaft nicht wählen. “Wien allein kann das Problem nicht beseitigen. Mit dem Bund gemeinsam sollte zum Beispiel der Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft erleichtert werden.”
Genauso kritisch sieht Asadi den Kurs der Bundesregierung, Asylsuchenden ihr Recht auf Familiennachzug zu verwehren. Das sei ein Verstoß gegen das an vielen Stellen verbriefte Recht auf Familie und Privatleben. “Das sollte eigentlich nicht in Frage gestellt werden”, so die Menschenrechtsbeauftragte.
Frauenrechte sieht die Leiterin des Menschenrechtsbüros Wien ebenfalls verletzt. Einerseits seien Frauen eher von Armut betroffen, durch unbezahlte Care Arbeit und Diskriminierung am Arbeitsmarkt. “Ich finde, Österreich hat einen großen Nachholbedarf.”
Andererseits seien Frauen auch massiver Männergewalt ausgesetzt – im schlimmsten Fall bei Femiziden. Die Verantwortung sehe sie auch beim Staat, der Frauen besser schützen müsse. Hier hat Shoura Hashemi zumindest Hoffnung für die Politik der aktuellen Frauenministerin Eva-Maria Holzleitner. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, einen neuen Nationalen Aktionsplan gegen Gewalt an Frauen aufzustellen.
Zum Bedauern von “Amnesty International Österreich” wird das Recht auf Schwangerschaftsabbruch und damit auch dessen Entkriminalisierung nicht thematisiert. “Das war für uns sehr enttäuschend, dass davon nichts im aktuellen Regierungsprogramm steht”, erzählt Hashemi.
Außerdem konnte die Menschenrechtsorganisation bei ihrem Amnesty International Jahresbericht 2024/25 in Österreich einen Rückschritt bei der Meinungsäußerungsfreiheit und Versammlungsfreiheit feststellen. Das bezieht sich vor allem auf den Umgang von Protestierenden bei Demonstrationen und die Diskreditierung von Klimaaktivist:innen durch Politiker:innen.
Wie werden Menschenrechte verbindlich?
Shams Asadi bewertet das Monitoring von Menschenrechtsverletzungen weltweit als elementar, um sie von der Theorie in die Praxis zu bringen. Shoura Hashemi merkt an: “Das große Problem der Menschenrechte ist die Durchsetzung. Es gibt eben keine Menschenrechts-Polizei, die dann Sachen tatsächlich auch exekutieren kann”, erklärt Shoura Hashemi von “Amnesty International Österreich.” Das bräuchte es aber in Wahrheit.
Stattdessen müssten Staaten die Menschenrechte als verbindlich und als rote Linie begreifen, die nicht überschritten werden darf. Diese müssten auch über jegliche Parteipolitik stehen.