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Radfahren vervielfachen? Was taugt die Verkehrspolitik von SPÖ und Neos in Wien?

Im Vergleich zu anderen Großstädten ist Wien für Radfahrer:innen wahrlich kein Paradies. SPÖ und Neos versprechen massive Verbesserungen. Expert:innen sehen vor allem Symbolpolitik.

Der Anteil der Radwege an der Gesamtverkehrsfläche soll sich verzehnfachen. So steht es im Koalitionsprogramm der Wiener SPÖ-Neos-Regierung. Das geht nicht nur deutlich über die Forderungen hiesiger Radverkehrs-Initiativen hinaus, sondern würde Wien in Sachen Radverkehr zur Musterstadt machen.

Kann das klappen? 

Aus Radfahrer:innensicht sind Investitionen in den Wiener Radverkehr allemal begrüßenswert: Im internationalen Vergleich liegt der Anteil Radwege an der Gesamtverkehrsfläche mit rund 1 Prozent in Wien deutlich unter dem Durchschnitt. Gleichzeitig werden rund 9 Prozent der Wege in Wien mit dem Rad zurückgelegt, Tendenz (Corona-bedingt) steigend.

An einigen Stellen in der Stadt stauen sich zu Stoßzeiten gelegentlich mehr Menschen auf den engen Radwegen, als auf den zweispurigen Autostraßen daneben. Die Zahl der Radfahrer:innen sollte eigentlich noch steigen, aber die Infrastruktur ist schon jetzt überfordert.

Geht es nach SPÖ und Neos, soll im Rahmen der „Qualitätsoffensive Radwege“ daher der „Anteil der Fahrradwege an der Gesamtverkehrsfläche Wiens auf 10 Prozent“ steigen.

Was sind Radwege? Eine Frage der Definition

Die Initiative „Platz für Wien“ forderte bereits vor den Wien-Wahlen im Herbst 2020 einen Ausbau des Radwegenetzes. Was im Koalitionsabkommen steht, übertrifft ihre Erwartungen deutlich – und stößt gerade deswegen auf Skepsis. „Es kann sich dabei nur um ein Übersetzungsproblem handeln“, wundert sich Ulrich Leth, „Platz für Wien“-Sprecher und Verkehrsexperte der TU Wien.

Denn Radverkehrsfläche muss nicht unbedingt Fahrradweg bedeuteten. Zur Radverkehrsfläche zählt nicht nur ein baulich abgetrennter Radweg, sondern auch das Radfahren auf der Busspur oder der Passantenslalom durch die Fußgängerzone. Eine Verzehnfachung ist deshalb zuallererst eine Frage der Definition.

Von den aktuell insgesamt 1.654 Kilometern Radverkehrsnetz sind lediglich 168,6 Kilometer tatsächlich baulich getrennte Radwege. Eine Verzehnfachung des Radwegeanteils würde 1.464 zusätzliche Kilometer bedeuten. „Dann hätten wir in Wien in jeder zweiten Gasse einen Radweg“, sagt Barbara Laa – ebenfalls „Platz für Wien“-Sprecherin und Universitätsassistentin an der TU Wien. „Das ist nicht umsetzbar – absolut ausgeschlossen!“ Und auch nicht notwendig. Wenn etwa Wohngebiete sowieso verkehrsberuhigt werden, brauchen sie keine eigenen Radwege

Die Worte passen nicht zum Budget

Hätte die rotpinke Koalition wirklich vor, so viel für den Radverkehr zu tun, dann passt das nicht zum Budget, das sie sich dafür gegeben hat: Insgesamt 26 Millionen Euro jährlich wollen SPÖ und Neos für den Radverkehr ausgeben – das sind immerhin 20 Millionen mehr als bisher. Aber ein Kilometer Radweg kostet zwischen 250.000 und 500.000 Euro. Der Bau von 1.464 Kilometern zusätzlich würde so bis zu 732 Millionen Euro kosten. Mit einem Jahresbudget von 26 Millionen würde das Unterfangen also bis zu drei Jahrzehnte dauern.

Was genau man sich als Radfahrer:in in Wien künftig erwarten darf, scheint auch in den Reihen von SPÖ und Neos noch nicht so ganz klar. Auf konkrete Fragen bekommt man meist vage Antworten. Der versprochene Ausbau sei „ein Ziel, das angestrebt wird“, erklärt Angelika Pipal-Leixner, Mobilitätssprecherin der Wiener Neos. Wie viele Kilometer es genau werden, sei noch offen. Bei der Initiative handele es sich um „die Vision für die mittelfristige Zukunft“, ein Zeitraum von rund 15 Jahren, schätzt Pipal-Leixner.

Projekte statt Kilometer

Im Wiener Rathaus scheinen nicht Kilometer, sondern „Projekte“ die Maßeinheit der Wahl zu sein. Projekte, wie die fahrradfreundliche Straße in der Canovagasse beim Karlsplatz. Oder der Zweirichtungsradweg auf der Favoritenstraße. Radfahren gegen die Einbahn in der Liniengasse. Projekte, über die sowohl Neos als auch SPÖ viel lieber sprechen als über Definitionen, Zahlen und Zeiträume. Insgesamt 21 Projekte sind im Jahr 2021 in Planung, in Umsetzung oder bereits fertiggestellt; feinsäuberlich aufgelistet und visuell untermalt auf einer eigenen Website.

Auf Nachfrage, was denn nun und bis wann genau verzehnfacht werden soll, heißt es aus dem Büro der Verkehrsstadträtin Ulli Sima: „Sie können mir glauben, alle arbeiten auf Hochdruck, um die Radinfrastruktur in dieser Stadt weiter zu verbessern. Ich bin mir sicher, dass wir am Ende der Legislaturperiode eine sehr gute Bilanz vorlegen können und bis dahin Jahr für Jahr tolle Projekte umsetzen“. Heuer strebe man „8,5 Kilometer neue und verbesserte Radverkehrsanlagen“ an.

Radwege: Eine Frage der Qualität 

Diplomatisch nennt TU-Expertin Laa das eine „Diskrepanz zwischen dem, wie kommuniziert wird, und dem, was tatsächlich umgesetzt wird“. Übersetzt: Es passt nicht zusammen. Leth nennt es „Symbolpolitik ohne Wirkung“, von einer Stadt, die sich selbst zur „Klimamusterstadt“ ernennt und gleichzeitig „Asphaltwüsten“ baue. Die Radfahrpolitik der Stadt bestehe überwiegend aus PR-Kampagnen, in der Realität würde sich kaum etwas ändern.

Eine Einschätzung, die auch Angelika Rauch teilt. Die Verkehrsexpertin und „tbw research“-Geschäftsführerin wünscht sich seit langem deutlich mehr Engagement in der Wiener Radverkehrspolitik. Wie attraktiv eine Stadt für den Radverkehr ist, hängt aber nicht nur am Umfang des Radverkehrsnetzes. Es muss auch ”intelligent“ sein. Bestehende Routen müssten besser miteinander verbunden und Lücken auch über Bezirksgrenzen hinweg geschlossen werden.

Radwege: Eine Frage des politischen Willens

Rauch kritisiert, dass Radwege in Wien bis heute als eine Art Luxusgut gehandhabt werden: Dort, wo es passt, dürfen sich gerne ein paar Radler:innen tummeln – das heißt dort, wo es Autos keinen (Park-)Platz wegnimmt. Aber Raum ist gerade im innerstädtischen Bereich knapp: Wer Platz für die einen schaffen will, muss diesen meistens anderen wegnehmen. Um eine Stadt für Radfahrer:innen attraktiv zu machen, müsse die Koalition den Autofahrer:innen den Kampf ansagen. Dass ausgerechnet die SPÖ nun mit Autofahrer:innen auf Konfrontationskurs geht, hält Rauch für schwer vorstellbar.

Neos-Verkehrssprecherin Pipal-Leixner hält die Kritik am Koalitionspartner für teils überzogen und ungerechtfertigt. Auch mit der SPÖ sei eine „progressive Verkehrspolitik“ zu machen. Pipal-Leixner, die selbst regelmäßig auf dem Rad unterwegs ist und dabei oft „an jeder Ecke Verbesserungspotential“ sieht, ist sich sicher: „Es gibt sehr viel zu tun“. Dass der im Koalitionsprogramm angekündigte Ausbau bis dato noch etwas stockend verlaufe, liege daran, dass viele der Projekte seien noch im Planungsprozess und sollen in den kommenden Jahren umgesetzt werden. „Der Ehrgeiz“, so die Neos-Politikerin, „ist auf alle Fälle da“.

Ein Jahr ohne viel Vorzeigbares

Mit Ende November wird die rot-pinke Stadtregierung ein Jahr alt. Den vollmundigen Ankündigungen aus dem Regierungsprogramm stehen 8,5 Radkilometer gegenüber, die bis zum Jahresende fertiggestellt sein sollen. Derzeit werden noch überwiegend Vorhaben der Vorgängerregierung (aus SPÖ und Grünen) fertiggestellt. Ob der politische Wille, den Radverkehr in Wien attraktiver zu gestalten, am Ende über Symbolpolitik und schöne Zeichnungen hinausreicht, wird sich zeigen müssen.

Wer auf den schmalen Streifen zwischen Bus, Bim und Gegenverkehr durch die Stadt radelt, wird den Unterschied zwischen Wahlversprechen und echter Politik bei der nächsten Wahl sicherlich kennen.

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