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Klimakrise

Rot-Pinke Halbzeitbilanz: Wie steht es um das Klima der "Klima-Musterstadt" Wien?

Kaum eine andere Stadt in Europa wird von der Klimakrise so hart getroffen wie Wien. Laut Koalitionsprogramm sind sich SPÖ und NEOS dieser „großen Herausforderung sehr bewusst“.
Es mangelt nicht an aufwendigen Grafiken, Superlativen und vollmundigen Ankündigungen. Nur zu gern eröffnet Uli Sima (SPÖ) einen „Mega-Radhighway“ oder verkündet die Wiener Mobilitätsstadträtin eine „Mega-Radweg-Offensive“ in der „Fahrradhauptstadt Wien“.

Nicht immer entspricht der Schein auch dem Sein: Der „Mega-Radhighway“ ist bis dato 800 Meter lang, die „Mega-Radweg-Offensive“ sieht für dieses Jahr 20 Kilometer vor, davon handelt es sich bei 36 Prozent um Bestandsverbesserungen, nur bei 15 Prozent um „echte Fahrradstraßen“. Und just einen Tag nachdem die Stadtzeitung „Mein Wien“ ganz harmonisch „Gemeinsam fürs Klima“ titelt, lässt die Stadt ein Protestcamp gegen die umstrittene Stadtstraße von der Polizei wenig harmonisch räumen.

„Nicht nur reden, sondern machen“, heißt es im Wiener Klimafahrplan, der 100 Maßnahmen parat hält, damit Wien bis 2040 „klimaneutral“ wird. Mit Mai ist Halbzeit für die Wiener Regierungskoalition aus SPÖ und Neos. 2,5 Jahre im Amt, Zeit für eine Bilanz: Wie steht es ums Wiener Klima? Wie ernst meint es die selbsternannte „Fortschrittskoalition“ mit dem Umweltschutz?

Das Wiener Klima

Im Vergleich zum österreichischen Durchschnitt leben die Wiener:innen besonders emissionsarm. Eine Stadt funktioniert eben anders. Im Schnitt verursachen die Wiener:innen pro Kopf 4,2 Tonnen Treibhausgase (THG) pro Jahr (Quelle, S.172) – im Vergleich zu 8,3 Tonnen im Bundesschnitt. Auch die Bewohner:innen von Graz, der zweitgrößten Stadt hierzulande, verursachen mit 5,3 Tonnen pro Kopf und Jahr mehr als in Wien lebende Menschen. (S. 9)

Gleichzeitig wird Wien von der Veränderung des Klimas so stark betroffen sein wie kaum eine andere europäische Stadt. Seit 1880 hat sich die Jahresdurchschnittstemperatur in der Hauptstadt um ca. zwei Grad Celsius erhöht (weltweit um ca. 1,2 Grad). Bis 2050 werden die Höchsttemperaturen im Sommer um bis zu 7,6 Grad steigen. Wien im Sommer wäre dann vergleichbar mit der nordmazedonischen Hauptstadt Skopje heute.

Die Erhitzung der Stadt birgt gesundheitliche Risiken, zunehmende Hitze ist vor allem für ältere und chronisch kranke Personen gefährlich. Bis 2030 rechnet Wien in einem „Worst-Case“-Szenario mit rund 1.000 Hitzetoten jährlich, bis 2050 mit ca. 3.000 Toten jährlich. Das wären etwa zehn Mal so viel wie heute.

„Die Fortschrittskoalition ist sich“ – laut Koalitionspakt – „der großen Herausforderung durch den Klimawandel sehr bewusst“. Und identifiziert drei zentrale Problemfelder: Verkehr, Gebäude, Energie.

Verkehr und Mobilität

Wien hat in Sachen Mobilität den geringsten CO2-Ausstoß pro Kopf, rund ein Drittel weniger als im Bundesschnitt. Das liegt daran, dass die Wiener:innen öfter Rad und Öffis fahren oder zu Fuß gehen als die Bewohner:innen anderer Bundesländer. Trotzdem ist der Verkehr so etwas wie Wiens (und auch Österreichs) umweltpolitisches Sorgenkind. Mit 36 Prozent (Stand 2020, S. 173) machen die Verkehrsemissionen den Hauptteil des gesamten THG-Ausstoßes in der Hauptstadt aus. Und: Die Emissionen sind im Vergleich zu 1990 (27 Prozent) sogar gestiegen.

SPÖ und Neos haben sich vorgenommen, den CO2-Ausstoß im Verkehr bis 2030 zu halbieren. „Dafür sind der konsequente Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel, die Ausweitung des Rad- und Fußverkehrs sowie der Umstieg auf CO2-freie Antriebe die zentralen Instrumente“, heißt es im Koalitionsabkommen. Bis 2030 will die Stadt den Anteil des motorisierten Individualverkehrs an der Mobilität auf 15 Prozent senken. Diesem Ziel nähert man sich derzeit in Minischritten: 2021 lag der Anteil des Individualverkehr bei rund 26 Prozent, 2014 bei 28 Prozent. 

Den Autoverkehr zu verringern, ist laut der Mobilitätsorganisation “VCÖ – Mobilität mit Zukunft” derzeit Wiens größte Herausforderung. „Das ist auch deshalb schwierig, weil viele Jahrzehnte autoverkehrfördernde Strukturen geschaffen wurden“, erklärt VCÖ-Sprecher Christian Gratzer. Positiv beurteilt dieser die Umsetzung der flächendeckenden Parkraumbewirtschaftung. Diese sei „gut gelungen“, da dadurch in den neuen Parkpickerl-Bezirken viel Platz frei wurde – eine Möglichkeit, um mehr Raum für Fußgänger:innen und Radfahrer:innen oder mehr Grün zu schaffen. Zu begrüßen sei außerdem, dass Hauptradrouten verstärkt ausgebaut werden. Gratzer fordert jedoch, auch das „untergeordnete Straßennetz“ auf Bezirksebene für Fußgänger:innen und Radfahrer:innen attraktiver zu gestalten, beispielsweise indem mehr Einbahnen geöffnet werden.

Auch Öffis bräuchten im öffentlichen Raum mehr Platz, fordert Gratzer. An etlichen Stellen stecken Bus und Bim im dichten Innenstadtverkehr fest – „damit stehen viele Öffi-Fahrgäste im Stau, die durch ihr Mobilitätsverhalten dazu beitragen, dass es weniger Staus in den Straßen gibt“.

Nach wie vor hält die Wiener Stadtregierung am Bau der Stadtstraße fest, ein Zubringer zur „Lobau-Autobahn“, deren Bau Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) nach jahrelangen Protestaktionen im Dezember 2021 auf Eis legte. 

Dass SPÖ und NEOS dennoch auf die Stadtstraße pochen, steht laut VCÖ „im krassen Widerspruch zu den Klima- und Mobilitätszielen der Stadt“. Gerade die Öffi-Stadt Wien habe großes Potential, sich vom motorisierten Individualverkehr weitestgehend zu verabschieden. Wenn sie das will. 

 

Gebäude

Deutlich besser sieht die Lage in Sachen Gebäude aus. Machten diese 1990 noch 29 der Gesamtemissionen aus, sind es 2020 „nur“ noch 19 Prozent (S. 173) . Die größte Hürde auf dem Weg zur zu einem klimafreundlicheren Gebäudesektor sind fossile Heizsysteme. Etwa 440.000 Gasheizungen sind derzeit in Wien verbaut, „Spätestens Mitte des Jahrhunderts“ sollen diese laut Koalitionsvertrag vollständig durch ökologischere Heizsysteme ersetzt werden. „Technisch ist das umsetzbar“, erklärt Lukas Kranzl, Energieökonom an der Technischen Universität Wien. „Es braucht keine neuen Technologien, keine ‚Rocket Science‘ – alles dafür Nötige ist bereits vorhanden“. Letztlich sei es eine „Frage des Willens“, auch des politischen.

Wer in Wien seinen Heizkessel tauschen will, bekommt dafür von der Stadt bis zu 35 Prozent der Kosten erstattet, maximal 12.250 Euro. Außerdem wurde bereits, wie im Koalitionsabkommen angekündigt, ein Leitfaden „Wärmepumpen – der Dekarbonisierungsmotor im urbanen Bestand“ ausgearbeitet. Darin enthalten sind eine “Reihe von Tipps und Tricks” zur Umrüstung von fossilen Heizsystemen auf erneuerbare Energieversorger. Ein Programm zum Ausbau der Fernwärmeleitungen befindet sich derzeit “in Umsetzung”. 

Wie viele fossile Heizsysteme seit Regierungsangelobung durch umweltfreundliche Alternativen ersetzt wurden, ist von der Stadt nicht zu erfahren. Auf Anfrage übermittelt ein Sprecher zwar eine ganze Liste an Konzepten, Initiativen, „Umsetzungsprogrammen“ und den Link zu einer Plattform mit „besonders innovativen Projekten“ – die Frage nach der Anzahl getauschter Gasheizungen könne man allerdings „nicht beantworten“. 

Positiv bewertet Kranzl die „Hauskunft“ der Stadt Wien. An einer Anlaufstelle sind sämtliche Informationen und Beratungsangebote zu Förderungen, bürokratischen Abläufen und der Umsetzung gebündelt. Eine solche Vereinfachung könne ein entscheidender Anreiz sein. Insgesamt ist Kranzl in Sachen Heizsysteme „vorsichtig optimistisch“.

Doch die umweltfreundlichste Heizung nützt nichts, wenn die Wärme nicht im Raum bleibt.  Die sogenannte thermische Sanierung kann Abhilfe schaffen und den Heizwärmebedarf im Durchschnitt um zwei Drittel senken – maßgeblich sind Wärmedämmungen sowie Dach- und Fenstertausch. „Technisch und in der Praxis ist es möglich, einen großen Teil der bestehenden auf Neubaustandard zu sanieren“, bekräftigt Kranzl. Das mag bei alten Gebäuden, wie bei Gründerzeithäusern, aufwendiger und kostspieliger sein, aber nicht unmöglich. Im Schnitt betragen die Zusatzkosten für eine Tiefensanierung zwischen 200 und 300 Euro pro Quadratmeter – Kranzl pocht darauf, die Gelegenheit zu nutzen und thermisch zu sanieren, wenn ohnehin eine Sanierung ansteht.

Bereits jetzt können Eigentümer:innen bei der Stadt einen Zuschuss für thermische Sanierungen beantragen. Dieser beträgt zwischen 20 und 40 Prozent der Baukosten. SPÖ und NEOS haben unlängst mit dem Projekt “Wir SAN Wien” eine Sanierungsoffensive angekündigt. Außer einem Link zur bereits erwähnten “Hauskunft” und einem Link zu diversen “Vorzeigeprojekten” findet sich auf der zugehörigen Website aber wenig Konkretes. Symptomatisch heißt es im Koalitionsvertrag, die Förderung thermischer Sanierung soll weiter forciert werden, “insbesondere durch aktive Kommunikation”. 

Energieökonom Kranzl warnt jedoch vor zu viel Technologie-Optimismus: „Technisch ist vieles möglich, aber das alleine wird nicht ausreichen. Bei unbegrenzt steigender Nachfrage nach Energiedienstleistungen nutzen die besten Technologien nichts“.

 

Energie

Der Energiesektor  ist nach dem Verkehr Wiens zweitgrößter THG-Verursacher (S. 175). Stand 2020 machte der Energiesektor 30 Prozent der THG Wiens aus, 1990 waren es anteilig 28 Prozent. In absoluten Zahlen sind das 2,34 Millionen Tonnen im Jahr 1990 und 2,53 Millionen Tonnen im Jahr 2019 (S. 212).  Bis 2030 soll pro Kopf 30 Prozent weniger Endenergie als 2005 verbraucht werden. Bis dahin soll außerdem dreimal so viel erneuerbare Energie wie damals erzeugt werden. 

Zentrale Bausteine sind die Stromerzeugung mittels Photovoltaik (PV), die Förderung von sogenanntem „grünen Gas“ und „eine Mehrfachnutzung von Flächen für die Energieerzeugung (Verkehrsflächen, Wandflächen, Deponien, Agrarflächen etc.) sowie von temporär ungenutzten Flächen (z.B. Bauland, Friedhofserweiterungsflächen)“.  

Mit Blick auf die Energieerzeugung zeigt sich Michael Rohrer, Energie-Experte bei der Österreichischen Energieagentur, grundsätzlich zufrieden. „Der PV-Ausbau in Österreich und in Wien hat letztes Jahr stark an Fahrt aufgenommen, und die Zielerreichung von Wien bezüglich PV-Ausbau erscheint aus derzeitiger Sicht sehr wahrscheinlich“. Laut Statistik Austria wurden in der Hauptstadt im Jahr 2021 ca. 102 GWh an elektrischer Energie aus Photovoltaik erzeugt, fast doppelt so viel wie im Jahr zuvor. Bis 2030 will Wien die Erzeugung grüner Energie auf das Dreifache steigern – laut Rohrer ist das „durchaus plausibel und wahrscheinlich erreichbar“.

Von der Stadt ist zu erfahren, dass die angestrebte Verdreifachung dieses Jahr “auf ihre technische und wirtschaftliche Machbarkeit geprüft” werde. Entsprechende Förderungen für Privatpersonen und Unternehmen sollen eingerichtet werden. Bis 2025 soll auf jedem dafür in Frage kommenden Wiener Dach Solarenergie produziert werden. 

In puncto Energieverbrauch, der laut Klimafahrplan bis 2030 zur Hälfte aus erneuerbarer Energie stammen soll, sind in Wien laut Rohrer „starke systemische Veränderungen im Verkehrssektor“ sowie „Importe von erneuerbaren Energien“ nötig. Wie VCÖ-Sprecher Gratzer pocht auch Rohrer auf eine Mobilitätswende hin zu mehr öffentlichen und Radverkehr. Der Umstieg zur Elektromobilität führe zwar zu einer Reduktion des Diesel- und Benzinverbrauchs – lässt jedoch den Stromverbrauch ansteigen. „Da Wien wenig Möglichkeiten für die erneuerbare Stromerzeugung hat, muss ein Großteil dieser elektrischen Energie aus anderen Bundesländern oder dem Ausland importiert werden, um die Wiener Ziele zu erreichen“, gibt Rohrer zu Bedenken. Derzeit importiert Wien laut städtischem Energiebericht 88 Prozent seiner Energie , 14 Prozent erzeugt die Stadt selbst (knapp zwei Prozent werden exportiert).

Einen weiteren kritischen Punkt sieht der Energie-Experte in Sachen Fernwärmeversorgung. Diese müsse einerseits ausgebaut werden – Stichwort: Gasheizungen – andererseits grüner werden. Denn derzeit besteht die Wiener Fernwärme bis zu 65 Prozent aus Gas . „Die Stadt Wien ist sich dieser Herausforderungen bewusst“ und insgesamt auf einen guten Weg, glaubt Rohrer. Die Regierung hat hierzu bereits ein Konzept erarbeitet, das den schrittweisen Umstieg auf Fernwärme und erneuerbare Heizformen bis 2040 skizziert. “In Umsetzung” ist außerdem die Erschließung der Tiefengeothermie im Wiener Stadtgebiet, entsprechende Pilotprojekte werden derzeit entwickelt.  

Klima-Musterstadt?

Damit Österreich die Klimaziele der Europäischen Union erreicht, müssten sämtliche Bundesländer laut Österreichischer Energieagentur ihre Emissionen bis 2030 gegenüber 2005 um 48 Prozent reduzieren. Wien schaffte bis heute, also im Zeitraum von gut 17 Jahren, Minus 13 Prozent und befindet sich daher “nicht auf dem Pfad der Zielerreichung”, teilte der Dachverband Erneuerbare Energien Österreich Anfang März in einer Aussendung mit. Vom selbstgesteckten Ziel “Klimaneutralität 2040” ist die Stadt meilenweit entfernt. 

Der Ausbau der Erneuerbaren sowie die Pläne der Stadtregierung zur thermischen Sanierung klingen in Teilen durchaus vielversprechend. Zentrales Hemmnis auf dem Weg zu einer umweltfreundlicheren Stadt ist die Verkehrspolitik. Autos fasst die Stadtregierung nach wie vor nur mit Samthandschuhen an. Gehsteige, Radwege und Bäume haben gegenüber Parkplätzen oft das Nachsehen. Zu groß ist offenbar die Furcht, potentielle Wähler:innen zu vergraulen. 

Von der Klimamuster-Stadt ist Wien damit weit entfernt. In Sachen Klimakommunikation hingegen spielen Rot und Pink in der Champions League: Die Regierung lässt keinen Anlass ungenutzt, um selbst die kleinsten umweltpolitischen Fortschritte mit Superlativen auszustatten und als großen Wurf zu präsentieren. Dass sich hinter vielen “großen Würfen” oftmals nur eine Homepage mit Links zu ohnehin Bekanntem befindet, mag dem Image von SPÖ und NEOS helfen, dem Klima jedoch nichts.

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