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Arbeitswelt

Arbeitssoziologe Flecker: “Wir müssen die Utopie jetzt fordern”

Arbeitssoziologe Jörg Flecker ist einer von zahlreichen ForscherInnen aus der ganzen Welt, die ein Manifest unterzeichnet haben, das eine neue Arbeitswelt nach der Corona-Krise fordert. Warum es ein Recht auf einen Arbeitsplatz geben muss, niemand mehr auf Lohnarbeit angewiesen sein darf und warum das alles gar nicht so utopisch ist, wie es klingt, erzählt er im MOMENT-Interview.
MOMENT: Sie fordern gemeinsam mit tausenden anderen Wissenschaftlern, dass Arbeit nach der Corona-Krise völlig neu gedacht werden muss. Was ist darunter genau zu verstehen?

Flecker: In einer Demokratie sollten die ArbeitnehmerInnen einen viel größeren Einfluss auf Entscheidungen in ihrem Unternehmen haben, denn sie sind ja von diesen direkt betroffen. Das würde wohl auch viele Verbesserungen bei den Arbeitsbedingungen und auch eine Arbeitszeitverkürzung ermöglichen.

Allerdings ist zu befürchten, dass eine Demokratisierung alleine nicht alle Probleme löst. Auch die ArbeiternehmerInnen müssen bei betrieblichen Entscheidungen die Wettbewerbsfähigkeit im Auge haben – denn sie sorgen sich darum, dass sie auch im nächsten Jahr noch einen Arbeitsplatz haben.

Die MitarbeiterInnen einer Chemiefabrik werden nur schwer bewirken können, dass plötzlich nur umweltfreundliche Produkte hergestellt werden. Da braucht es auch eine Dekommodifizierung der Arbeit.

 

MOMENT: Dekommodifizierung: Was genau ist unter diesem Begriff zu verstehen? 

Flecker: Damit ist gemeint, dass die Arbeitenden ihre Arbeitskraft nicht tagtäglich verkaufen müssen, sondern auch ohne Job überleben können. Dieser Prozess hat historisch gesehen bereits teilweise stattgefunden. Seit der Einführung von Sozialversicherungs- und Pensionssystemen sind Menschen abgesichert, wenn sie ihren Job verlieren, krank werden, oder irgendwann zu alt sind, um arbeiten zu können. Davor gab es keinerlei Absicherung, und die meisten von uns können sich gar nicht mehr vorstellen, was das bedeutete.

Jetzt müssen wir dieses Konzept weiterdenken. In der Menschenrechtserklärung ist ein Recht auf Arbeit und ein Recht auf eine freie Berufswahl festgeschrieben. Dekommodifizierung würde bedeuten, dass es jederzeit möglich ist, aus seinem Job auszusteigen, sich eine Auszeit zu nehmen oder eine Weiterbildung zu machen, ohne berufliche Nachteile zu erleiden. Es wäre niemand mehr gezwungen, unter menschenunwürdigen Bedingungen zu arbeiten, nur weil er oder sie Angst vor Jobverlust und den damit einhergehenden existenziellen Bedrohungen hat.

 

MOMENT: Wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen die Lösung?

Flecker: Nicht für jede Gruppe von Menschen wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen gut. Für einige sehr wohl, wie etwa für KünstlerInnen. Wir haben ja jetzt gesehen, wie prekär ihre Situation ist, obwohl sie einen enorm wichtigen Beitrag zur Gesellschaft leisten. 

Mich stört an der Diskussion um das Grundeinkommen, dass es als Utopie gehandelt wird. Und in Experimenten, wie in Finnland, ging es um Beträge, von denen kein Mensch leben kann. In der Diskussion sollte man besser bei der Erhöhung des Arbeitslosengeldes beziehungsweise der Notstandshilfe, der Lockerung von Zumutbarkeitsbestimmungen, der Anhebung der Mindestsicherung oder der Sozialhilfe ansetzen und zeigen, wie die bestehenden sozialstaatlichen Leistungen in ein Grundeinkommen überführt werden können.

 

MOMENT: Wenn wir gerade von KünstlerInnen sprechen. Sie haben vorhin von einem Recht auf einen selbst gewählten Arbeitsplatz gesprochen. Aber es können ja nicht alle KünstlerInnen werden. Wer soll die Jobs machen, die sonst keiner will?

Flecker: Es werden bestimmt nicht alle KünstlerInnen werden wollen. Aber auch dann, wenn sich die Hälfte der Bevölkerung dazu entschließen sollte, wäre das vielleicht gar kein Problem. Wahrscheinlich geht es sich aus, dass die restlichen fünfzig Prozent die Güter und Dienstleistungen herstellen, die wir zum Leben brauchen, wenn sich die andere Hälfte den schönen Künsten widmet. Angesichts der technologischen Fortschritte ist nicht mehr so viel Arbeit für die Versorgung notwendig. Das Problem ist, dass es im gegenwärtigen Wirtschaftssystem ja nicht in erster Linie um die Versorgung der Bevölkerung geht, sondern um die Vermehrung von Kapital. Und deshalb gibt es auch viele Jobs, die niemand will.

 

MOMENT: So schön das klingt, aber momentan ist ja gerade das Gegenteil der Fall: Extrem viele Menschen, die unter allen Umständen arbeiten würden, finden keinen Job. Ist nicht damit zu rechnen, dass Arbeitsbedingungen und Löhne sich noch schlechter entwickeln?

Flecker: Genau das ist das Problem unseres derzeitigen Arbeitsmarktes. Die Gewinnerzielung ist das Kriterium, wonach sich die Investoren und Unternehmen ausrichten. Durch dieses Nadelöhr muss das Schaffen von Arbeitsplätzen, wenn sich die Beschäftigungspolitik auf die Privatwirtschaft beschränkt und die Arbeitsmarktpolitik auf die Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt fixiert ist. Das erscheint mir heute als ein viel zu enger Ansatz. Wir haben auf der einen Seite viele Menschen, die einen Job suchen, auf der anderen einen großen, gesellschaftlichen Bedarf an Arbeit, der im Moment nicht gedeckt ist – etwa in der Pflege oder im Bildungsbereich. Wenn Arbeitsplätze nur durch das Nadelöhr des privaten Gewinnstrebens geschaffen werden, dann werden wir Arbeitsfähigkeiten und den gesellschaftlichen Bedarf nicht zusammenbringen. Es müssten viel mehr Jobs über öffentliche Dienste und gemeinnützige Initiativen, insbesondere auf lokaler Ebene geschaffen werden. Schon alleine wegen der enormen Massenarbeitslosigkeit müssen wir das Schaffen von Arbeitsplätzen neu denken. Die Ansätze der letzten Jahrzehnte sind völlig unzureichend geworden.

 

MOMENT: Aufgrund der aktuellen Krise scheint sich hier vieles nicht nach vorne, sondern nach hinten zu bewegen. Zum Beispiel, wenn wir sehen, wie Laudamotion die Löhne ihrer MitarbeiterInnen unter die Armutsgefährdungsgrenze drücken wollte. Was kann man gegen solche Entwicklungen tun? Sollen wir alle Laudamotion, beziehungsweise die Muttergesellschaft Ryanair boykottieren?

Flecker: Ein Boykott erscheint mir sinnvoll, weil mit der Macht der KonsumentInnen viel erreicht werden kann. Aber man sollte sich nicht zu sehr darauf verlassen. Bei der nächsten Suche nach einem günstigen Flug könnten sich viele gute Vorsätze in Luft auflösen.

Was hier geschehen ist, zeigt uns deutlich, was unter den derzeitigen Bedingungen einer Massenarbeitslosigkeit passiert: Die Arbeitenden und die Gewerkschaften sind von einzelnen Unternehmen erpressbar. Dagegen helfen branchenweite kollektivvertragliche oder gesetzliche Mindestlöhne. Derzeit versuchen die Gewerkschaften ein Mindestlohnziel von 1.700 Euro brutto umzusetzen. Doch die Fluggesellschaft wollte ja nicht mal die Hälfte davon bezahlen – für einen Vollzeitjob! Daran sehen wir, in was für eine gefährliche Entwicklung wir uns bewegen.

 

MOMENT: Sie glauben also gar nicht selbst daran, dass die Utopie, die sie beschreiben, bald Wirklichkeit wird, sondern sind pessimistisch?

Flecker: Manche glauben, dass diese Krise viele Probleme sichtbar gemacht hat, wie eben die bislang geringe Wertschätzung und Entlohnung der Pflegeberufe oder anderer lebenswichtiger Tätigkeiten in der Daseinsvorsorge oder im Handel. Trotz der aktuellen Wertschätzung besteht aber das Risiko, dass die ArbeiterInnen wie die Mütter am Muttertag nur beklatscht und ihre Leistungen den Rest des Jahres als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Viele Menschen meinen, dass sich etwas ändern muss und aufgrund der Krise auch ändern wird. Ich dagegen glaube, dass die Krise selbst nicht sehr geeignet ist, um uns nach vorne zu bringen. Wir sehen ja in vielen Bereichen einen Rückschritt: Etwa in den Geschlechterrollen, wenn von Frauen erwartet wird, neben dem Beruf die Kinder nicht nur zu betreuen, sondern auch zu unterrichten. Oder im Verhältnis gegenüber älteren Menschen, die pauschal den Risikogruppen zugeordnet werden.

 

MOMENT: Erst wird alles schlimmer, bevor es besser werden kann?

Flecker: Gerade wegen der Rückschritte sollte jetzt das unmöglich Erscheinende gefordert werden, denn nun werden sozioökonomische Bedingungen für die nächsten Jahre oder länger einzementiert. Es sollte nicht so ausgehen, wie nach der Finanz- und Wirtschaftskrise, als sich die neoliberalen Kräfte wieder durchgesetzt haben, nachdem sie eine Katastrophe verursacht hatten. Diejenigen, die viel Reichtum auf den Banken liegen hatten, wurden von denen saniert, die über kein Vermögen verfügen, ohne dass es hier jemals zu einem Ausgleich gekommen wäre oder das Finanzsystem in Richtung höherer Sicherheit umgebaut wurde. Heute geht es gerade auf Basis der Erfahrungen in der aktuellen Wirtschafts- und Klimakrise um nicht weniger als eine sozial faire und ökologisch verträgliche Gesellschaftsordnung – und das wird wohl eine post-kapitalistische Gesellschaft sein. 

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