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Autofreie Tage, breitere Radwege: Wie die Stadt Wien zu einer kindersicheren Stadt werden kann

In Wien gibt es eine Kinder- und Jugendstrategie für eine kindersichere Stadt. Sie ist aber kaum bekannt und droht zu verstauben.

 
 

„Wien zur kinder- und jugendfreundlichsten Stadt zu machen“, das wollte der frühere Wiener Jugendstadtrat Jürgen Czernohorszky im Juni 2020. Seither sind fast zwei Jahre vergangen, Koalition und Stadtrat haben gewechselt und kaum jemandem ist die Strategie bekannt, die damals vorgestellt wurde. Was braucht es, damit Wien auch im Verkehr sicher und kinderfreundlich wird?

“Erwachsene müssen auch bei Rot stehen bleiben”, “Ich wünsche mir einen Tag ohne Autos” oder “Breitere Radwege, damit die Eltern neben uns fahren können” – das sind nur einige der Wünsche von Kindern für ihre Stadt. 20.000 von ihnen wurden in einem noch nie dagewesenen Beteiligungsprozess im Herbst 2019 von der Stadt Wien befragt. Man wollte mit der “Kinder- und Jugendstrategie” endlich auch die Jüngsten in die Verkehrsplanung miteinbeziehen.

Wien ist mit seinen 1.700 Spielplätzen und fast 1.000 städtischen Parks zwar internationalen Rankings zufolge eine der kinderfreundlichsten Städte der Welt. Es gibt viele Stadtentwicklungsgebiete wie das Sonnwendviertel, das Nordbahnhofviertel und die Seestadt Aspern, die für Kinder einiges zu bieten haben. Gerade, weil dort auch der Verkehr vergleichsweise beruhigt abläuft. Der Verkehrsbereich selbst ist aber in großen Teilen der Stadt noch ausbaufähig und mitunter sehr gefährlich.

Kinder nehmen Gefahren anders wahr

Das kritisiert auch die Verkehrspsychologin Bettina Schützhofer. Es bräuchte eine kinderfreundliche Verkehrsinfrastruktur, damit sich diese frei und sicher in der Stadt bewegen können. Dazu müsse man zuerst einmal verstehen, wie sie ticken: Kinder verstehen erst etwa ab dem Alter von 12, wie Verkehrsregeln funktionieren und auf Situationen anzuwenden sind. Jüngeren muss man noch jede Situation einzeln erklären. Sie können überhaupt erst am Ende der Volksschule ihre Umgebung dreidimensional wahrnehmen – also auch Geschwindigkeiten und Abstände richtig einzuschätzen. “Ich muss dem Kind sagen, wann es die Straße queren kann. Wenn beispielsweise das Auto beim rosa Haus ist, geht das noch. Wenn es aber schon beim blauen ist, ist es zu nahe”, sagt Schützhofer.

Auch auf eine weitere Gefahr macht die Verkehrspsychologin aufmerksam: Kinder lieben Rollenspiele. Sie füttern dann Teddybären, trinken Tee mit Puppen oder werden zu Superheld:innen und fühlen sich dadurch unverwundbar. Dieses magische Denken schalten die Kinder auch im Straßenverkehr nicht ab. Sicherheit sei für sie nicht so wichtig, weil sie viele Gefahren gar nicht erst als solche wahrnehmen. Deshalb sind Kinder auch aus dem Vertrauensgrundsatz ausgenommen. Wichtiger ist ihnen Spiel und Spaß – und ein saubere, grünere und leisere Stadt. Eine Stadt, die ihnen keine passende und sichere Umgebung für sorgloses Spielen liefert, ist einfach auch keine kinderfreundliche Stadt.

Mehr als 20.000 Kinder befragt

Das steht in ähnlichen Worten auch in der bereits erwähnten Wiener Kinder- und Jugendstrategie. Die 66-seitige Broschüre mit über 190 Maßnahmen ist auf den ersten Blick zwar ein wirklich beeindruckendes Dokument, denn in den allermeisten Fällen werden die Jüngsten unter uns gar nicht erst in städtische Planungsprozesse eingebunden. Auf den zweiten Blick entpuppt sich das Papier aber als zahnloses Monstrum. Es gibt keine Richtwerte, an denen Erfolg oder Misserfolg gemessen werden könnte. Das Dokument ist auch nur wenigen bekannt. 

Von den Medien wird es – wenn überhaupt – wohl nur im Juni beachtet werden. Dann, wenn der Tätigkeitsbericht der Kinder- und Jugendanwaltschaft veröffentlicht wird. Ihr obliegt es, die Umsetzungen der Maßnahmen gemeinsam mit dem Kinder- und Jugendparlament und der zuständigen Magistratsabteilung MA46 zu überprüfen und entsprechend zu bewerten.

Nur: Wenn es beispielsweise im Abschnitt zu Mobilität und Verkehr heißt, dass die “Sicherheit von Kindern im Straßenraum durch Verkehrsberuhigung und Freihalten der Sichtbeziehungen in Kreuzungsbereichen erhöht” werden soll, woran sollen hier tatsächliche Fortschritte überhaupt gemessen werden?

Andere Maßnahmen wie niedrigere Haltegriffe für Kinder in den Öffis oder Verkehrsdurchsagen, die für mehr Bewusstsein gegenüber den jüngsten Straßenverkehrsteilnehmer:innen sorgen sollen, sind da schon eher überprüfbar: Beides wurde bis jetzt nicht umgesetzt. Zeit bliebe noch bis 2025. Bis zu diesem Zeitpunkt ist das Strategiepapier ausgerichtet. Aber die coronabedingten Einschränkungen sorgen schon jetzt für Verzögerungen: Das Kinder- und Jugendparlament hätte etwa schon im Februar tagen sollen, wurde aber auf Mai verschoben.

Wien droht zurückzufallen

“Wien muss aufpassen, nicht von anderen Städten überholt zu werden”, warnt unterdessen die Verkehrsexpertin Barbara Laa. Städte wie Rotterdam, Vancouver oder Barcelona seien Wien bereits voraus.

Laa forscht an der Technischen Universität Wien zu nachhaltiger Verkehrsplanung und ist Sprecherin der Initiative #platzfürwien. Diese hat 18 Forderungen an die Stadtregierung gestellt, die bis 2030 umgesetzt werden sollen. Sie ähneln einigen Maßnahmen aus der Kinder- und Jugendstrategie, sind aber viel konkreter formuliert. Mit jeder der Forderungen würde man die Stadt auch für Kinder sicherer machen. “Tempo 30 auf allen Straßen wäre rasch umsetzbar”, meint Laa etwa. So verkürze sich der Anhalteweg, Autofahrer:innen bremsen eher und es kommt seltener zu Unfällen.

Seit Jahren ist die Zahl der dabei verletzten Kinder zwar rückläufig, aber noch immer landen in Wien pro Jahr mehr als 400 Kinder im Krankenhaus. Die etwas besseren Zahlen aus 2020 lassen sich mit der eingeschränkten Mobilität während der Lockdowns und Schulschließungen erklären.

Auch autofreie Schulvorplätze, einen Ausbau der Rad-Infrastruktur und Fahrradkurse für alle Kinder in der vierten Volksschulklasse sind Teil der Forderungen. Insgesamt rechnet die Initiative mit jährlichen Kosten von rund 100 Millionen Euro. Man kann auf die Unterstützung von fast 60.000 Unterzeichner:innen vertrauen. Einigen gehen die Forderungen aber nicht weit genug.

“Alle Forderungen sind zu schwach”

Wer sich um die Sicherheit seiner Kinder sorgt, dürfe auch nicht auf die Klimakrise vergessen, mahnt der Stadtklimatologe Simon Tschannett. Deshalb sind für ihn die Forderungen von #platzfürwien und die Maßnahmen aus der Kinder- und Jugendstrategie nicht genug. “Es braucht drastische Veränderungen. Ganz Wien muss zur Begegnungszone werden”, sagt Tschannett im Gespräch mit MOMENT. Auch von Prestigeprojekten wie dem geplanten Supergrätzl in Wien-Favoriten hält er wenig. Dieses ist an die Superblocks in Barcelona angelehnt, in denen Autos weitgehend verboten sind.

Solche Projekte seien in Wien einfach “lebensfern und unrealistisch”, weil sie viel zu lange brauchen. Angesichts der Klimakrise habe man aber keine acht bis zehn Jahre mehr Zeit, sondern müsse sofort drastische Maßnahmen ergreifen – gerade beim Sorgenkind Verkehr. Tschannett bemängelt auch die schlecht ausgebaute Infrastruktur und die viel zu langen Rotphasen beim Radfahren. “Radstehen”, sage sein fünfjähriger Sohn dazu. Die beiden würden gerne öfter das Rad nehmen. Aber die Angst ist ständiger Begleiter.

Rotterdam, Tirana und Vancouver zeigen, wie es geht

Wie es gehen könnte, zeigt etwa die Stadt Rotterdam. 2006 wurde sie zur unattraktivsten Stadt der Niederlande gewählt. Seither hat man dort aber Millionen in den Ausbau öffentlicher Plätze und sicherer Radwege gesteckt. Es gibt jetzt viele Gemeinschaftsgärten, Natur-Spielplätze und Sportareale. Mit Traumstraßen-Programmen (niederländisch: “Droomstraat”) will man die Bewohner:innen stärker in die Entscheidungen einbinden.

In Tirana, der Hauptstadt Albaniens, ist mittlerweile sogar die gesamte Innenstadt autofrei. Die 500-Tausend-Einwohner Stadt hat dafür im Abstand von drei Monaten immer eine Straße mehr zur autofreien Zone erklärt. Dadurch ist die Luftverschmutzung um 15 Prozent zurückgegangen. Wie in Rotterdam und Wien gibt es auch hier Beteiligungsmöglichkeiten für die Jüngsten – ein Konzept, das international zu funktionieren scheint.

Vancouver hat es gar geschafft, durch familienfreundliches Wohnen doppelt so viele Kinder wie noch vor zehn Jahren ins Stadtzentrum zu holen. Die kanadische Hafenstadt setzt dabei auf verdichteten Wohnbau. Die nächste Schule, Tagesbetreuungseinrichtungen und Supermärkte sind für jedes Kind weniger als einen Kilometer entfernt und sicher zu Fuß erreichbar.

Ganz so weit wird Wien zumindest mit seiner auf 2025 ausgelegten Strategie wohl nicht gehen. Von einer autofreien Innenstadt oder einer 1-Kilometer-Stadt wie in Vancouver ist beispielsweise nichts zu lesen.

Stadt Wien: Kinder- und Jugendstrategie ist „politisch verbindlich“

Aus dem Büro des zuständigen Jugendstadtrats Christoph Wiederkehr heißt es aber auf Anfrage, dass die Kinder- und Jugendstrategie jedenfalls politisch verbindlich sei. Sie wurde nämlich vom Wiener Gemeinderat beschlossen. Man wiederholt gegenüber MOMENT jene Punkte, die auch schon in der Strategie zu finden sind. Genaue Zielvorgaben werden aber auch hier nicht genannt. Zusätzlich verweist man noch auf den etwas älteren und ebenso politisch verbindlichen “Stadtentwicklungsplan STEP 2025”. Aber auch darin gibt es keine konkreten Maßnahmen, sondern “vielmehr eine Vision vom Wien der Zukunft”, wie man dem Vorwort entnimmt.

Vonseiten der Magistratsabteilung MA46, die für die Verkehrsplanung verantwortlich ist, ist Ähnliches zu hören. Man betont vor allem, dass die Sicherheit der Schulwege ein zentrales Thema sei. So werden beispielsweise gerade die meisten Kreuzungen in der Nähe der Volksschulen sicherer gemacht – etwa durch zusätzliche Rotumrandungen der Schutzwege, besser sichtbare Verkehrsschilder und einer Verbesserung der Sicht an unübersichtlichen Stellen. Außerdem wurde das Angebot an Gratis-Radfahrkursen ausgeweitet und an alle Erstklässler:innen wurden Schulwegpläne verteilt, auf denen grüne Linien die sicheren Schulwege markieren.

Ob die Kinder- und Jugendstrategie auch entsprechend umgesetzt wird, werden die nächsten Jahre zeigen. Zumindest nach außen hin scheint aber trotz Verzögerungen der Wille zur Umsetzung vorhanden zu sein. Fest steht: Im Mai (wenn das Kinder- und Jugendparlament tagt) und im Juni (wenn deren Bericht veröffentlicht wird) wird man mehr wissen.

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