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Ungleichheit

Care Leaver:innen: Mit 18 auf sich allein gestellt

Eine junge Frau verdeckt ihr Gesicht mit dem Arm und kratzt sich am Kopf. Care-Leaver:innen müssen mit 18 plötzlich allein zurecht kommen.
Fast 13.000 Kinder und Jugendliche wachsen in Österreich in Fremdbetreuung auf. Sobald sie die Volljährigkeit erreichen, fallen sie aus der Betreuungspflicht. Die sogenannten “Care Leaver:innen” sind danach großteils auf sich allein gestellt. 

“Es ist schon manchmal unfair. Man sucht sich ja nicht aus, in welche Familie man hinein geboren wird”, beschreibt Sarah das Gefühl, das sie manchmal hat, wenn sie ihr Leben mit Gleichaltrigen vergleicht. 

Mit zehn Jahren wurden sie und ihre Zwillingsschwester Laura aus der Obhut ihrer Familie genommen. Alkoholismus sowie Gewalt gefährdeten auf Dauer das Wohl der Schwestern, weshalb sie in einer Einrichtung in Villach untergebracht wurden. “Am Anfang war das schon schwierig. Aber mit der Zeit merkte ich, dass es besser war, als zu Hause zu bleiben”, erinnert sich Laura. 

Bald ändert sich vieles

Knapp zehn Jahre später sind die Schwestern im Außenbetreuten Wohnen untergebracht. Die Mutter starb vor einigen Jahren. Kontakt haben sie noch zu einigen wenigen Familienmitgliedern. Sarah macht derzeit die Abendmatura am WIFI, Laura besucht Höhere Lehranstalt für Sozialbetreuung und Pflege. 

Beide möchten nach ihrem Abschluss studieren. Sarah weiß noch nicht genau was, Laura hingegen hat sich schon Medizin ins Auge gefasst. Dass sich bald viel für die beiden 20-Jährigen ändern wird, steht fest. Eine der gravierenden Sachen ist, dass sie dann aus der Betreuungspflicht fallen – und somit komplett auf sich allein gestellt sind.

13.000 Jugendliche wachsen außerhalb der Familie auf

Sind Familien oder Erziehungsberechtigte nicht in der Lage, sich um Kinder entsprechend zu kümmern, oder gefährden diese sogar, können sie aus der Obhut genommen und in Pflegeeinrichtungen, Pflegefamilien oder Wohngemeinschaften untergebracht werden. Im Jahr 2022 war das bei 12.888 Jugendlichen der Fall. Diese wurden im Rahmen der sogenannten „Vollen Erziehung“ außerhalb der Familie unterstützt. Diese Unterstützung endet – mit wenigen Ausnahmen – im Regelfall mit der Volljährigkeit. Danach verlassen die Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen die sogenannte “Care”, und gelten als “Care Leaver:innen”. Für viele Betroffene beginnt damit eine äußerst herausfordernde Zeit.

Das Durchschnittsalter fürs Ausziehen liegt in Österreich bei 25 Jahren. Care Leaver:innen sind im Regelfall schon mit 18 Jahren dazu genötigt, ihr Leben allein auf die Reihe zu kriegen. Junge Erwachsene mit intakten Familienstrukturen können dabei oft auf deren Unterstützung zählen. Bei Care Leaver:innen ist das meist nicht der Fall. 

Care-Leaverin Melanie schaut vom Balkon auf anonyme Dächer in Wien

Melanie war Care-Leaverin und blickt auf diese Zeit zurück

“Man weiß oft nicht, wo man mit Anliegen hinmuss”

Melanie ist sich sicher, dass 18 einfach zu früh ist, um so viel Verantwortung zu übernehmen. Die 31-Jährige kam mit 15 in eine Pflegeeinrichtung. Ein paar Monate nach ihrem 18. Geburtstag und der Matura zog sie zum Studieren von Kärnten nach Wien. 

“Mein Glück war, dass ich immer sehr ehrgeizig und selbständig war”, erzählt sie. Als älteste von neun Geschwistern, die alle auch in Betreuung waren und zum Teil noch sind, habe sie schon früh gelernt, Verantwortung zu übernehmen. Dennoch sei alles für sie nicht leicht gewesen. 

Vor allem die psychischen Belastungen, die mit allem einhergegangen sind, haben sich mit den Jahren mehr und mehr gezeigt.  “Man will sich lange nicht eingestehen, dass man Therapie braucht und doch sehr viele traumatische Sachen erlebt hat”, sagt Melanie. Rückblickend hätte sie sich auch viel mehr Angebote gewünscht. “Man weiß einfach oft nicht, wo man mit welchen Anliegen hinmuss”, betont sie.

Lehre bleibt oft als einzige Option

Seit 2023 werden Care Leaver:innen in Wien Unterstützungsmöglichkeiten angeboten. „Beratungs-Gutscheine“ werden von der Stadt Wien, in Zusammenarbeit mit der MA 11, SOS Kinderdorf und der Volkshilfe Wien, bereitgestellt. Care Leaver:innen der Wiener Kinder- und Jugendhilfe haben damit Anspruch auf 45 Stunden kostenfreie Beratung. Diese können ab dem Zeitpunkt der Volljährigkeit oder dem Ende der Betreuung in Anspruch genommen werden und stehen bis zum 24. Geburtstag zur Verfügung. Beratungen wurden laut Volkshilfe vor allem zu den Themen Wohnen, Schriftverkehr mit Behörden und Jobsuche in Anspruch genommen.

Das Problem ist, dass Kinder nicht die Chance haben alles werden zu dürfen, was sie wollen.

Für Tanja Wehsely, Geschäftsführerin der Wiener Volkshilfe, ist die Initiative ein guter und wichtiger Schritt. Für eine strukturelle Besserung der Situation von Care Leaver:innen brauche es viel mehr. „Das Kernproblem ist, dass sie nicht die Netzwerke haben, die Kinder und Jugendliche sonst haben. Eine Familie, Eltern, Geschwister, Oma, Opa, Tanten und Onkeln“, betont sie. 

Dass die Betreuung im Regelfall mit 18 aufhört, lasse den Jugendlichen oft keine Wahl für den Ausbildungsweg. Sie müssen sich praktisch für die Lehre entscheiden. „Dass du als Jugendlicher in Österreich eine Lehre machen musst, damit du dir ab 18 dein Leben weitestgehend selber leisten kann, finden wir nicht in Ordnung. Wir finden die Lehre wunderbar, das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass Kinder nicht die Chance haben alles werden zu dürfen, was sie wollen. Wir haben Jugendliche und Kinder, die könnten auch Nobelpreisträger werden, wenn sie genug Unterstützung bekommen würden. Das ist aber nicht die Perspektive, die wir ihnen anbieten können“, betont Wehsely.

Studium ist bei Care-Leaver:innen die Ausnahme

Fälle wie jene von Sarah und Laura, wo auch nach dem 18. Lebensjahr noch ein Betreuungsverhältnis besteht, sind eher die Ausnahme und meist an gewisse Bedingungen geknüpft. So mussten auch Sarah und Laura für die weitere Betreuung nach der Volljährigkeit einen Antrag stellen und gute Schulnoten vorweisen.

„Es ist gibt die Möglichkeit, die Betreuung bis zum 21. Lebensjahr auszudehnen“, erklärt Georg Streißgürtl, der an der Universität Klagenfurt zum Thema „Care Leaver:innen“ forscht. Über diese „Kann-Bestimmung“ entscheiden die Bundesländer eher freihändig. Es gebe keine Rechtssicherheit. „Einige Bundesländer gewähren diese Unterstützung vermehrt und andere eher weniger“, sagt der Forscher.

„Sie dürfen nicht scheitern“

Immer wieder wird von Betroffenen und Expert:innen deshalb die Anhebung des Betreuungsalters auf 24 gefordert. Auch flexible Formen der Betreuung werden immer wieder vorgeschlagen. „Es gibt stationäre Unterstützungsformen, die sogenannten Wohngruppen oder auch betreute Wohnformen, mobile Unterstützungen. Was bislang auch noch nicht vorgesehen ist, wäre die Möglichkeit einer Rückkehr in die Betreuung“, erklärt Streißgürtl. 

Auch Wehsely betont, wie wichtig das wäre: „Care Leaver haben kein Recht darauf, ins Betreuungsverhältnis zurückzukehren. Das heißt, sie dürfen nicht scheitern. Wenn doch, ziehen manche in ihre Herkunftsfamilie zurück, da wo sie eigentlich herausgenommen wurden. Oder sie landen in der Wohnungslosigkeit. Da beißt sich wirklich die Katze in den Schwanz.“

 

Anlaufstellen für Care Leaver:innen:

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    Kommentare 1 Kommentar
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  • flow
    17.03.2024
    Sorry, aber das stimmt einfach nicht. Die "Kinder- und Jungendhilfe" (früher: Jugendamt) zahlt die Fremdunterbringung (den Begriff Fremdbetreuung gibt es nicht) bei Bedarf bis 21. Und in der FU werden die Jugendlichen natürlich -meist über mehrere Jahre- darauf vorbereitet mit 18 ein selbstständiges Leben zu führen. Meist gibt es danach noch eine weiterführende ambulante Betreuung. Wenn die Jugendlichen mit 18 noch nicht in der Lage sind, selbständig zu leben, werden sie bis 21 Jahre weiter betreut. Wer dann noch weitere Hilfe braucht, wird an eine Einrichtung, die Erwachsenen hilft, übermittelt. Eigentlich logisch, dass das "Jugendamt" nicht bis zur Pension zuständig sein kann. Für Erwachsene gibt es eben andere Hilfseinrichtungen. Im besten Fall vom gleichen Träger, so dass ein nahtloser Übergang möglich ist. Das mit der Lehre ist natürlich auch Unsinn. Die Lehre beginnt man ja in der Regel mit 15. Also während der Zeit in Betreuung. Viele machen auch Matura und können natürlich mit 18 studieren. Dass mehr Jugendliche in FU eine Lehre machen, liegt nicht an der FU sondern daran, dass diese Jugendliche öfter aus einer sozialen Schicht kommen, in der ein Studium eher selten ist. Jugendliche in FU werden natürlich gefördert Matura zu machen und dann zu studieren, wenn sie das wollen. Jugendliche aus schwachen sozialen Schichten machen in FU öfter Matura als Jugendliche, die bei ihren Familien aufwachen, da die Betreuungseinrichtungen das mehr fördern als die Herkunftsfamilien.
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