Daria Kuklina: Russische Kriegsgegnerin in Österreich verhaftet, wird sie abgeschoben?
Am 22. November wurde Daria Kuklina unter falschem Vorwand in das Büro ihrer Unterkunft gelockt und festgenommen. Erst 2 Tage später erfahren sie und ihre Anwältin: Die russische Friedensaktivistin soll abgeschoben werden. Und das, obwohl sie traumatisiert ist und besonderen Schutz bekommen sollte.
Daria Kuklina ist russische Staatsbürgerin und im April nach Österreich geflohen. In ihrem Heimatland drohen ihr bis zu 15 Jahre Haft. Denn sie ist Kriegsgegnerin. Als sie am 27. Februar mit einem beschrifteten Schild in Westsibirien alleine gegen den russischen Angriffskrieg protestiert, wird sie von der Polizei vorgeladen. Sie bekommt eine Geldstrafe – offiziell wegen eines Verstoßes gegen die Covid-Maßnahmen. Im März protestiert sie erneut und die Staatsanwaltschaft öffnet den bereits geschlossenen Fall.
Die Informatikstudentin bekommt Angst und beschließt, das Land zu verlassen. Schnell steht sie in Kontakt mit Menschen in Österreich, die ihr helfen wollen. Doch das österreichische Konsulat in Russland ist wegen des russischen Angriffskrieges im April schon nicht mehr besetzt. Also sucht sie beim italienischen Konsulat in Moskau um ein Touristen-Visum an und bekommt es. Von Moskau fliegt sie schließlich über Antalya nach Wien.
Die Sicherheit in Österreich gab Daria Halt
Von Wien geht es weiter nach Linz, wo Thomas Gegenhuber, Professor an der Johannes-Kepler-Universität, und die Volkshilfe sie unterstützen. Daria Kuklina sucht in Österreich um Asyl an und schreibt sich im Studium „Artificial Intelligence“ an der JKU Linz ein.
Gut geht es ihr zu diesem Zeitpunkt nicht. „Als sie ankam, war sie instabil, fast suizidal“, beschreibt es ihre Anwältin Julia Kolda gegenüber MOMENT.at. Sowohl die Fluchterfahrung als auch die Verfolgung in Russland haben die 22-Jährige traumatisiert. Allgemeinmediziner sowie Psychiater bestätigen ihre psychische Krankheit.
Doch schnell bessert sich ihr Zustand. Daria geht in Psychotherapie, lernt Deutsch und findet Anschluss und Freund:innen. In Linz trifft sie ihren jetzigen Lebensgefährten.
Österreich wies den Fall ab
Am 12. September wird ihr Asylantrag abgelehnt. Da sie wegen des geschlossenen, österreichischen Konsulats das Visum in Italien beantragt hat, weist das Bundesamt für Fremden- und Asylwesen (BFA) die Zuständigkeit ab. Italien solle entscheiden.
Ihre Anwältin legt Beschwerde gegen den Bescheid ein. Denn das österreichische Amt hätte handeln können. Es liegt im freien Ermessen des BFA, das Verfahren zu übernehmen und sich selbst als zuständige Behörde zu erklären. Das wäre auch Ziel der Beschwerde von Anwältin Julia Kolda. Auch wenn die Behörde bis 17. Jänner keine Überstellung vornehmen würde, wäre Österreich automatisch für den Asylantrag zuständig.
Aber die Abweisung des Asylantrags ist rechtlich bereits Grundlage genug für eine Überstellung nach Italien. Die Beschwerde dagegen schiebt das Vorhaben auch nicht auf. Der Bescheid informierte Kuklina darüber aber nicht. Üblich sei, dass davor eine Aufforderung zur Ausreise mit einer Frist gestellt wird. Aber auch als die Anwältin am 22. Oktober mit der Behörde telefonierte, sagte die ihr sogar ausdrücklich, dass keine Überstellung geplant sei.
Daria festzunehmen sei rechtlich nicht nachvollziehbar und psychisch belastend
Die Festnahme wirf Rätsel auf. Sie kommt aus dem Nichts und ist für ihre Anwältin nicht nachvollziehbar. Nachdem sie keinerlei Information von den Behörden erhalten haben, vermuten die beiden zuerst, dass sie in Schubhaft genommen wurde. Doch dann hätte sie einen Bescheid erhalten müssen: „Ich habe die Zustellvollmacht für Daria. Das bedeutet, ein Dokument gilt dann als amtlich zugestellt, wenn ich es erhalten habe.“ Das ist nicht passiert. „Außerdem wäre eine Schubhaft nur mit einer bestimmten Begründung zulässig. Und zwar, wenn erwartet wird, dass sich die Person der Außerlandesbringung entziehen könnte“, sagt die Anwältin zu MOMENT.at. Dafür gäbe es keine Anhaltspunkte und die Behörde hätte das ihr gegenüber auch nicht behauptet.
Erst am Morgen des 24. Novembers bekommt Darias Anwältin offiziell eine Benachrichtigung von den Behörden. Daria ist nicht in Schubhaft, sondern wurde direkt zur Abschiebung festgenommen. Anwältin Julia Kolda beschreibt dieses Vorgehen als „extrem unverhältnismäßig“. Der Überstellungsbescheid hatte keine gesonderte Aufforderung, das Land zu verlassen, oder eine Frist dafür enthalten, wie das sonst üblich wäre. Somit liegen ihrer Meinung nach die Gründe für eine Festnahme nicht vor.
Hätte ein Gericht die Beschwerde abgelehnt, was noch nicht passiert ist, wäre Daria freiwillig nach Italien gefahren, um dort Asyl zu beantragen. „Aber vorbereitet, betreut, mit ihren Medikamenten und den notwendigen Kontakten“, erzählt Anwältin Julia Kolda. Das sei wichtig, um die psychische Gesundheit der 22-Jährigen nicht noch mehr zu belasten. Die Behörden scheinen das nicht ausreichend beachtet zu haben. Stattdessen wurde sie unter falschem Vorwand ins Büro ihrer Unterkunft gelockt und festgenommen. Das könne eine Retraumatisierung ausgelöst haben, die einer Körperverletzung gleichkomme. „Genau vor so einem Vorgehen haben der Psychiater und Psychotherapeut ausdrücklich gewarnt“, sagt die Anwältin.
Vulnerablen Personen sollte besonderer Schutz zukommen
Österreich muss bei jeder Außerlandesbringung prüfen, ob Leben und Gesundheit der Person dadurch gefährdet wird. Thomas Gegenhuber stellt das infrage: „Bisher gibt es keine Hinweise, dass Italien überhaupt einen geeigneten Betreuungsplatz, eine Unterkunft und die medizinische Versorgung gewährleisten kann. Laut der offiziellen Länderinformation ist die Situation in Italien äußerst prekär.“
Mit der Abweisung des Asylantrags hat Österreich an Italien eine Übernahmeanfrage gesendet. Italien hat darauf nicht reagiert. Doch wenn eine bestimmte Zeit vergangen ist, wird das rechtlich trotzdem als Zusage gewertet. „Italien weiß wahrscheinlich nicht einmal, dass eine junge, vulnerable Person kommen könnte. Sie haben jetzt schon zu wenig Plätze“, befürchtet Darias Anwältin. Dabei darf nach aktueller Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Überstellung einer vulnerablen Person nach Italien nur geschehen, wenn eine Bestätigung vorliegt, dass es in Italien einen Platz mit Betreuung gibt.
Überraschende Wende kurz vor Abschiebe-Termin
Rechtlich darf die Polizei sie nur für 72 Stunden festhalten. Bis zum 25. November um 17 Uhr sollte Daria also entweder freigelassen oder nach Italien abgeschoben werden. Wie es dort weitergehen würde, davon hat Daria Kuklina keine Vorstellung. Zumindest hat die Polizei erlaubt, dass ihr Freund sie davor noch besuchen darf.
Am Donnerstag (24.) überschlugen sich dann kurz nach der Veröffentlichung unseres Artikels die Ereignisse. Das Bundesasylamt ordnete die Enthaftung von Kuklina an. Sie wurde wieder ihrer Unterkunft zugeordnet und ist auf dem Weg zurück nach Oberösterreich. Ihre Anwältin geht davon aus, dass am Freitag damit keine Abschiebung stattfinden wird. Ob das auch bedeutet, dass Österreich sich für die russische Kriegsgegnerin als zuständig erkennt, ist derzeit sowohl der Öffentlichkeit als auch dem Umfeld von Daria Kuklina unbekannt.
Update 24.11.,16:40: Der Artikel wurde um die ganz neue Information erweitert, dass Daria Kuklina vorerst enthaftet wurde.