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Kapitalismus
Ungleichheit

Selbstverschuldete Armut? Das Märchen von der Selbstverantwortung

Martina Salomon - die Herausgeberin und ehemalige Chefredakteurin des Kurier - schreibt in verlässlichen Abständen Leitartikel, in denen sie Armut als selbstverschuldet darstellt. Das wird auch durch Wiederholung nicht wahrer, aber darum geht es auch nicht. Natascha Strobl analysiert.

Salomon beschwert sich also wieder einmal über die mangelnde Eigenverantwortung von armen Menschen. Die Erzählung ist nicht neu. Sie wird aber immer wieder mit neuen, besonders gemeinen Sprachbildern ergänzt.

Martina Salomons Leitartike im Kurier: Armut ist Selbstverantwortung

Ein Leitartikel von Martina Salomon im Kurier. Screenshot von: X/@Klassismusfrei_

Salomon zeichnet in ihrem Artikel ein Bild von Menschen, die quasi keine lebenspraktische Erfahrung haben und von einer schlechten Entscheidung in die nächste torkeln. Diese Menschen sind zu blöd zu verstehen, dass man sich nicht jeden Tag Fertigpizza oder den Lieferdienst gönnen kann und sie sind zu blöd für sich selbst zu kochen. Sie können brutto von netto nicht unterscheiden, sitzen den ganzen Tag vorm Fernseher und sind eigentlich für gar nichts wirklich zu gebrauchen. Das zeigt sich auch daran, dass sie als Frau Teilzeit arbeiten oder sich überhaupt keinen Job suchen. 

Sprich: Sie seien faul und gänzlich selbst Schuld an ihrer Situation. Wer soll mit solchen Tachinierer:innen Mitleid haben?

Eigenverantwortung: Arme verdienen keine Hilfe

Dieses Bild ist in unterschiedlichen Varianten ein Standardbild neoliberaler Propaganda. In den USA sind es die “Welfare Queens” (übersetzt etwa: “Sozialstaatsköniginnen”), die dieses Klischee bedienen müssen. Damit sind alleinerziehende Mütter gemeint, die mit ihren Essensmarken nur Ungesundes kaufen, zu viele Kinder haben und das rare Geld sowieso nur in Kosmetiksalons stecken. (Achja, und weil man Klassenkampf von oben und Rassismus gut kreuzen kann, sind sie Schwarz und kommen aus städtischen Gebieten.) 

In Großbritannien schimpft die Propaganda über die “Chavs” (“Prolos”). Leute, die zu grelles Make Up und zu enge Kleidung tragen. Sie kommen aus den Gegenden der ehemaligen Industriestädte, die von der Politik der neoliberalen Regierung unter Margarete Thatcher verwüstet wurden. Und sie haben natürlich keinen geregelten Tagesablauf. 

In Deutschland ist es das Klischee Hartz IV-Empfänger:innen, die kaum einen korrekten Satz über die Lippen bekommen und den ganzen Tag Reality-TV-schauen. All diese Propaganda eint, dass man kein Mitleid mit diesen Gestalten hat. Sie haben es verdient, arm zu sein. Sie haben es nicht verdient, dass man ihnen hilft. 

Genau deswegen gibt es diese Propaganda-Bilder ja auch.

Selbstverschuldete Armut? Fakten stören nur

Fakten stören in dieser Erzählung nur. Dann müsste man nämlich eingestehen, dass es für Armut systemische Ursachen gibt. Oder sind Alleinerziehende besonders lebens-unpraktisch und wenig eigenverantwortlich? Das ist die Gruppe mit der höchsten Armutsgefährdung. 

Salomon verschleiert auch einen interessanten Fakt. Sie behauptet, dass jeder 5. zur Schuldnerberatung geht, weil er schlecht mit Geld umgegangen ist. Zum einen kann “schlecht mit Geld umgegangen” alles bedeuten. Man kann etwa einen variablen Kredit angenommen haben, ohne zu wissen, dass Inflation, Pandemie und Krieg 4 Jahre später diese Kredite in schwindelerregende Höhen treiben. 

Zum anderen bedeutet es aber, dass 80 % der Menschen, die bei der Schuldnerberatung andocken, das eben nicht wegen „schlechten Umgangs mit Geld“ tun.

Doch es geht nicht um Fakten, es ist ein Kampf um Moral. 

Das zeigt sich in den skurrilen Essenstipps von Salomon. Man bekomme ja auch billiges Obst und Gemüse in den Supermärkten (ach?). Oder: Nudeln mit Butter seien die gesunde Alternative zur Fertigpizza. (ach?)

Vorarbeit für Kürzungen beim Sozialstaat

Es geht darum, arme Menschen abzuwerten. Dann kann man in weiterer Folge Kürzungen im Sozialstaat rechtfertigen. 

Das zeigt sich besonders gut an der Stelle, als Salomon darauf verweist, dass die Schule den Part von Eltern übernehmen muss (netto-brutto-Unterscheidung etwa) und dazu zähle auch Benehmen. Damit sagt sie, dass Kinder aus armen Familien auch kein Benehmen hätten. Sie sind also nicht nur materiell keine vollwertigen Mitglieder der Gesellschaft, sie sind es auch moralisch nicht. 

Deswegen muss man diesen Menschen auch Ernährungstipps geben. Sie sind zu doof, um für sich selbst zu sorgen. Damit ist dann aber auch der Höhepunkt der Hilfsbereitschaft erreicht. Es scheint eher so, als hätten nicht arme Menschen wenig lebenspraktische Erfahrung, sondern jene, die unbedarfte Tipps verteilen und sich dabei besonders schlau vorkommen. 

Diese Menschen würden keinen Tag die Herausforderungen von armen Menschen überstehen. 

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