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Demokratie

Antidemokratisch und gegen die Vielen: Wie populistische Politik der Mehrheit schadet

Ein Kommentar von Tom Schaffer. Man sieht Tom Schaffer in einem schwarzen Hemd. Er blickt mit einem leichten Lächeln zur Seite. Der Hintergrund ist hellgrün.
Rechte Parteien haben Österreich erfolgreich in eine Situation geführt, in der sie weniger auf die Interessen der Mehrheit achten müssen. Ein Schlüssel für diese antidemokratische Politik ist auch das strenge Staatsbürgerschaftsrecht.

Es ist erst ein paar Wochen her, da hat die Türkis-Grüne Regierung die Abschaffung der Kalten Progression wieder einmal gefeiert. Und außerdem hat sie sie als sozial treffsicher verkauft. Alle Steuerstufen außer der höchsten steigen mit der Inflation – den kleinen und mittleren Einkommen bleibt “mehr netto”, wurde betont.

Gelogen ist das nicht, die ganze Wahrheit aber ganz sicher auch nicht. Einerseits ist es nur die Anpassung an die Inflation. Niemand hat deshalb mehr Kaufkraft. Aber tatsächlich zahlen alle Einkommensbezieher:innen in Österreich durch die Maßnahme weniger Steuern. Und während niedrige und normale Einkommen vielleicht die Anhebung von ein bis drei Steuerstufen spüren, profitieren hohe Einkommen vom vollen Ausmaß. Das sind genau die Menschen, die es dann auch nicht trifft, wenn der Staat mit weniger Einnahmen auch weniger Leistungen finanzieren kann.

Politik für die, die es nicht brauchen

Es ist nur ein Beispiel von vielen, wie die Politik immer wieder Maßnahmen setzt, die eigentlich genau jenen mehr nützen, die weniger Unterstützung brauchen. Praktisch immer, wenn Einkommenssteuern tatsächlich gesenkt werden, wird genau dasselbe Spiel gespielt. Die hohen Einkommen gewinnen mehr, die Leistungen für alle anderen geraten unter Druck.

Ähnlich war es bei der Wohnkostenbeihilfe in Österreich. In der Teuerungskrise des vergangenen Jahres schaffte die Regierung es nicht, eine Mietpreisbremse umzusetzen. Stattdessen bekamen die Mieter:innen – eher die ärmere Hälfte Österreichs – eine Einmalzahlung. Aber was machten die damit? Sie überwiesen sie direkt an die Vermieter:innen. Die gehören bekanntlich aber eher zum reichsten Zehntel Österreichs – und konnten die Mieteinnahmen dafür dauerhaft steigern. Die angeblich sozial treffsichere Maßnahme war eine ziemlich offensichtliche Umverteilung nach oben.

Allen Beispielen ist gemein, dass sie der Mehrheit nicht oder weniger helfen. Das durchschnittliche Jahres-Einkommen in Österreich liegt bei 31.407 Euro (Statistik Austria, 2021). Die große Mehrheit der Österreicher:innen hat mit den höheren Steuerstufen also überhaupt nichts zu tun. Und die große Mehrheit lebt entweder zur Miete oder zahlt ein Eigenheim ab. Nur eine kleine, reiche Minderheit kann Immobilien vermieten.

Wie ist eine Mehrheit gegen Mehrheiten möglich?

Trotzdem werden die beiden besagten Maßnahmen auf eine Weise gestaltet, die die kleinen Gruppen begünstigt, die es nicht brauchen. Wie ist das möglich in einer Demokratie – in einer Regierungsform, wo Mehrheiten entscheiden sollten?

Das hat natürlich mit den beteiligten Parteien zu tun – insbesondere der ÖVP, die bekanntermaßen mehr oder weniger seit bald vier Jahrzehnten in der Regierung ihre Interessen wahrt. Rechte, liberale und konservative Parteien sind so. Gar nicht nur, weil sie reiche Finanziers haben, die es ihnen danken, sondern auch weil sie so eine Politik für sinnvoll halten.

Die Frage ist, warum die Mehrheit der Menschen sie in die Position bringt, das zu tun – sie also augenscheinlich gegen die eigenen Interessen wählt. Dafür gibt es eine Vielzahl an Gründen. Rechte Kulturkämpfe verdecken die wirtschaftlichen Interessen, linke Parteien setzen auf die falschen Themen, eine konservativ-liberale Medienlandschaft hält nicht allzu hart dagegen. Es geht hier nicht um eine komplette Liste.

Stimmrecht: Entscheidende Teile der Bevölkerung dürfen nicht mitreden

Aber ein Grund, der wenig Beachtung erfährt, wird immer wichtiger: Große Teile der Menschen, für die diese Politik nicht funktioniert, dürfen nicht wählen. Vor allem in Städten. Gerade konservative und rechte Parteien verhindern es. Und das ist schlecht für ganz Österreich. 

Nehmen wir als stärkstes Beispiel Wien her. Ein Drittel der Menschen im Wahlalter darf dort nicht wählen. Die Menschen leben hier, haben aber keine politische Mitsprache. Dafür fehlt ihnen das Wahlrecht – in Österreich ist es an die Staatsbürgerschaft geknüpft.

Menschen mit kleinen Einkommen werden viel öfter ausgeschlossen

Die fehlenden Stimmen sind nicht gleich über die Bevölkerung verteilt. Ohne Wahlrecht bleiben vor allem Menschen mit niedrigen Einkommen. Auch wenn sie schon Jahrzehnte oder ihr ganzes Leben lang hier leben. Die Staatsbürgerschaft in Österreich zu bekommen ist nicht nur so schwierig, wie nahezu nirgendwo sonst auf der Welt. Es ist auch teuer – und an das Einkommen gekoppelt. Wer wenig Geld hat, bleibt ausgeschlossen. 

Ein Mensch, eine Stimme – das stimmt einfach bei weitem nicht mehr. Es ist eine Ungerechtigkeit für sich, die einer Demokratie nicht würdig ist. Aber die Folgen sind weitreichend für uns alle – auch Staatsbürger:innen.

Die Gruppe mit den niedrigsten Einkommen und schlechtesten Arbeitsbedingungen sind Arbeiter:innen. In Wien dürfen 60 Prozent von ihnen nicht wählen. Bei der zweitschwächsten Gruppe – den Angestellten, sind es immer noch 26 Prozent. Auf einzelne Berufsgruppen in ganz Österreich bezogen: 70 Prozent der Putzkräfte, 65 Prozent der Pflegekräfte und jeder zweite Mensch in der Gastronomie dürfen nicht wählen. Auffällig: Die Begriffe sind hier gegendert – die Berufe üben aber zum Großteil Frauen aus.

Staatsbürgerschaft: Wer hält diese Menschen von der Wahl fern?

Besonders Parteien, die Politik gegen die Interessen von kleinen Einkommen und im Interesse von Reichen und Konzernen machen, wollen das Stimmrecht möglichst von großen Teilen der Bevölkerung fernhalten. Angesichts dieser Zahlen ist es keine Überraschung, dass sie über “die Ausländer” lieber in Bezug auf Kriminalität und Sicherheit reden. Wenn ihr das gelingt, stimmt ein großer Teil der Wählerschaft dieser ausschließenden Politik zu.

Aber sogar wenn man niemandem böse Absichten unterstellen will, ist es kein großes Wunder, dass durch Wahlen legitimierte Politiker:innen jene Menschen eher aus den Augen verlieren, die sie gar nicht wählen können. Und dass die sich umgekehrt meist auch von einem System fernhalten, in dem sie zahlen aber absolut nicht mitreden dürfen.

Warum Staatsbürger:innen das nicht egal sein darf

Wem das jedenfalls nicht egal sein sollte: Staatsbürger:innen. Die moralischen Gründe sind offensichtlich. Aber auch aus Eigennutz. Die Menschen, die bei der Stimmabgabe fehlen, haben dieselben Interessen wie die meisten von uns. Sie wollen eine Politik, die ihr Leben einfacher macht, weil sie nicht die finanziellen Mittel haben, um sich alles im Leben selbst zu richten. Reiche können darauf verzichten (und sich übrigens auch die Staatsbürgerschaft “kaufen”). Der Rest von uns nicht.

Aber viele von uns dürfen nicht mitreden. Und zwar genug um potentiell viele Mehrheiten zu kippen, die Regierungen in den vergangenen Jahrzehnten hatten. Die Politik übersieht oder ignoriert oder verstärkt deshalb die Probleme dieser Gruppen eher. Und das sorgt für verständlichen Frust. Einkommensschwache Gruppen verzichten häufiger auf ihr Stimmrecht. Es ist ein Teufelskreis.

Wichtige Gesellschaftsbereiche kollabieren als Folge

Es schadet uns aber noch auf eine andere Weise. Es macht wichtige Gesellschaftsbereiche schlechter. Deutlich zeigen sich die Auswirkungen einer politischen Verfehlung etwa in der Pflege. Pflegekräfte sind oft keine Staatsbürger. Und sie haben auch schlechte Arbeitsbedingungen, niedrige Löhne und eine knüppelharte Arbeit. Sie wären etwa an der vordersten Front, wenn es um den politischen Kampf für eine überfällige Arbeitszeitverkürzung geht – weil den Beruf auf Dauer fast niemand in der heutigen Vollzeit schafft.

Der Beruf ist unter diesen Bedingungen nicht attraktiv. Viel zu wenige Staatsbürger:innen wollen ihn machen, und obwohl Nicht-Staatsbürger:innen das System am Laufen halten, werden auch zu wenige von den heutigen Bedingungen angezogen. Aber sie wären unverzichtbar für das alternde Österreich. Wir schlittern rasant in eine Pflegekrise. 

Es bräuchte schon lange eine politische Korrektur der Situation. Aber die Politik hat das viel zu lange übersehen und ist noch heute zögerlich. Und auch wenn das natürlich nicht der einzige Grund dafür ist: bei der Erklärung dafür kann man nicht einfach übersehen, dass so viele Menschen aus dieser Gruppe von der politischen Teilhabe ausgeschlossen sind. Sie haben bei Wahlen keine Stimme und können auch nicht gewählt werden. 

Darunter leiden die Betroffenen und ihre Kolleg:innen und Menschen mit ähnlichen Einkommen – aber auch unsere Alten und Kranken. Eines davon wird jede:r von uns einmal sein. Demokratien funktionieren deshalb besser als andere Staatsformen, weil sie alle mitreden lassen. Das populistische Staatsbürgerschaftsrecht und das Ausschließen von Mitmenschen aus der Politik macht unser System schwächer. Es schadet fast allen in Österreich.

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