Die mächtigen Netzwerke der Abtreibungsgegner:innen
Zwei junge Menschen stehen am Fleischmarkt in Wien und beten. Sie sind vielleicht Anfang 20. Der junge Mann trägt Hemd und Pullover, die Frau eine Outdoor-Jacke. Ein kleiner weißer Pavillon schützt die beiden vor dem Regen. Er sieht auf das Display seines Smartphones und liest ein Gebet vor, sie steht mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen daneben.
Sie haben eine Mission: Die nur wenige Meter entfernte Abtreibungsklinik pro:woman soll schließen. Die beiden gehören zum Verein Jugend für das Leben, der laut eigener Website Schwangerschaftsabbrüche „undenkbar machen“ will. 40 Tage und Nächte wollen Aktivist:innen hier beten. Die ungewollt Schwangeren, die in den nächsten Wochen einen Termin haben, werden vor ihren Augen die Klinik betreten müssen.
Beten gegen Schwangerschaftsabbrüche
Wer an einem regnerischen Tag in der Kälte steht und betet, muss überzeugt von der Sache sein. Mit Medien wollen die beiden jungen Leute aber nicht über ihre Aktion sprechen. „Man muss aufpassen“, sagt die Frau.
So still diese beiden Aktivist:innen auch sind, auf den eigenen Kanälen promotet Jugend für das Leben die Aktion. Mit Video-Aufrufen, Newslettern und Instagram-Storys. Der erzkonservative christliche Verein hat Verbindungen zur gescheiterten Initiative fairändern. Prominente Politiker:innen von ÖVP und FPÖ unterstützten die Initiative. Das Ziel: Schwangerschaftsabbrüche bei schwer behinderten Föten strafbar machen.
Plastik-Embryos am Fleischmarkt
Elke Graf kennt die Strategien von Abtreibungsgegner:innen nur zu gut. Sie ist Geschäftsführerin des Ambulatoriums pro:woman. Seit Jahren werden ungewollt Schwangere vor der Klinik belästigt, meist von einer anderen Anti-Abtreibungs-Gruppe, die sich um die Ecke eingemietet hat. Der österreichische Ableger von Human Life International verteilt Broschüren oder sogar Plastik-Embryos an Frauen im scheinbar gebärfähigen Alter, die sich am Fleischmarkt aufhalten.
Klar ist: Diese Anti-Abtreibungs-Gruppen meinen es ernst. Aber was können sie bewirken?
Texas: Erfolg der Anti-Abtreibungs-Lobby
Anfang September ist in Texas ein extrem restriktives Abtreibungsgesetz in Kraft getreten. Erlaubt sind Abbrüche nur noch innerhalb der ersten sechs Wochen. Weil viele zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts von der Schwangerschaft wissen, kommt das neue Gesetz einem völligen Abtreibungsverbot gleich. Das bedeutet noch lange nicht, dass ungewollte Schwangerschaften nicht mehr abgebrochen werden. Aber Abtreibungen werden teurer, wenn Frauen reisen müssen. Oder schlicht gefährlicher, wenn sie die Sache selbst in die Hand nehmen.
Die fundamentalistische Anti-Abtreibungs-Organisation Faith 2 Action schreibt sich auf die Fahnen, ihre eigenen Entwürfe hätten als Vorbild für das Gesetz gedient. Ziel der Organisation sei, den „kulturellen Krieg um Leben, Freiheit und Familie“ zu gewinnen.
Abtreibungsgegner:innen haben beeinflusst, wie wir über Abbrüche sprechen
Erica Millar forscht und lehrt an der australischen Latorbe University unter anderem zu Schwangerschaftsabbruch. Laut Millar haben es Abtreibungsgegner:innen geschafft, den Eingriff negativ zu besetzen. Im Allgemeinen verbinde man mit Abbrüchen das Bild einer Frau, die aus einer Notsituation heraus eine belastende Entscheidung treffen muss. Dieses Bild entspricht aber nicht unbedingt der Realität. Viele ungewollt Schwangere erleben eine Abtreibung als befreiend, sagt sie.
„Der Anti-Abtreibungs-Aktivismus in den USA ist mächtig. Es steckt viel Geld dahinter, er hat großen Einfluss“, sagt Millar. Organisationen in anderen westlichen Ländern würden sich immer wieder Strategien und Aktionen abschauen.
So wie Jugend für das Leben am Fleischmarkt in Wien. Die Idee, 40 Tage und Nächte vor einer Abtreibungsklinik zu beten, kommt aus den USA. Laut der Website von 40 Days for Life gibt es solche Aktionen in mehr als 60 Ländern auf der Welt. In ihrem Slogan versprechen sie den „Anfang vom Ende von Abtreibung“. Nicht nur Ideen, auch Geld kommt aus den USA.
Im Paket mit LGBT-Feindlichkeit
Neil Datta ist Sekretär des EPF, eines progressiven Netzwerks von EU-Mandatar:innen. Er hat recherchiert, wie viel Geld in Europa für Anliegen fließt, die er unter „Anti-Gender“ zusammenfasst. Denn: „Anti-Abtreibungs-Aktivismus ist Teil eines größeren Pakets“, sagt Datta. Große Organisationen würden in Europa nicht nur gegen Schwangerschaftsabbrüche lobbyieren, sondern auch gegen Frauenrechte und die LGBT-Community.
Innerhalb von zehn Jahren haben 56 solche Organisationen über 700 Millionen Euro in Europa ausgegeben. 81 Millionen davon kommen aus den USA, 188 Millionen aus Russland und über 430 Millionen aus der EU. Unter anderem Milliardär:innen und Oligarchen spenden für die Gruppen.
„Katholisch extremistischer Kult“ in Polen
Wie mächtig die Anti-Abtreibungs-Lobby mittlerweile auch in Europa ist, zeigt ein Blick nach Polen. Dort hat der Verfassungsgerichtshof das ohnehin stark eingeschränkte Abtreibungsgesetz noch verschärft.
Mitgewirkt hat daran der Think Tank Ordo Iuris. Neil Datta nennt ihn „den modernen Ausdruck eines katholisch extremistischen Kults“. Von Ordo Iuris kommen Ideen wie LGBT-freie Zonen in Polen (mehr dazu hier). Schon vor Jahren hat der Think Tank einen Entwurf für ein völliges Abtreibungsverbot vorgelegt. Sein Einfluss auf die polnische Politik ist weiter groß.
Die Leute von Jugend für das Leben werden ihre Mission über die nächsten 40 Tagen sehr wahrscheinlich nicht erfüllen können. Bisher haben sich längst nicht genug Leute gemeldet, um den Posten neben der Klinik Tag und Nacht zu besetzen. Das Ambulatorium am Fleischmarkt hingegen ist seit über 40 Jahren in Betrieb.
Trotzdem sollten die Entwicklungen in Polen auch Menschen in anderen europäischen Ländern zu denken geben, meint Neil Datta. Denn Ordo Iuris hat ähnliche Organisationen in weiteren Staaten und eine eigene Universität gegründet. Der Think Tank ist Teil des ultrakonservativen Netzwerks Tradition, Family and Property (TFP), das weltweit tätig ist. Eine weitere Anti-Abtreibungs-Organisation heißt Agenda Europe und wird unter anderem von US-amerikanischen Milliardär:innen finanziert. Dazu kommt Citizen Go, eine Plattform für Petitionen gegen Schwangerschaftsabbrüche. „Citizen Go hat gedroht, mich zu verklagen“, sagt Neil Datta. „Solche Organisationen mögen es nicht, wenn sie entlarvt werden.“
„Am meisten Macht, aus dem Hinterhalt“
Entlarvt? Damit meint Datta, die Verbindungen zwischen Eliten und diesen Gruppen zu recherchieren, öffentliche Informationen zu Spenden und Ausgaben zusammenzutragen und diese zu veröffentlichen. Das ist seiner Meinung nach die wirksamste Methode, um liberale Demokratien vor solchen extremistischen Kräften zu schützen. „Diese Gruppen haben am meisten Macht, wenn sie im Hinterhalt angreifen. Sie stehen nicht gern im Scheinwerferlicht.“