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Ungleichheit

Doro Blancke zu tödlichen Pushbacks: „EU-Länder machen sich zu Mittätern“

Aktivistin Doro Blancke sagt: Pushbacks Geflüchteter gibt es auf Lesbos immer wieder. Griechenland gehe mit Gewalt vor, Menschen sterben dabei.
Mehr als 500 Menschen starben oder werden vermisst, als ein Flüchtlingsboot im Mittelmeer kenterte. Die griechische Küstenwache war beteiligt. Die Aktivistin Doro Blancke beobachtet die Situation auf Lesbos. Sie sagt: Pushbacks passieren immer wieder und immer wieder sterben Menschen.

Mehr noch: Geflüchtete, die bereits an Land sind, würden zurück aufs Meer gefahren und ausgesetzt. Länder wie Österreich machten sich zum Mittäter, wenn sie das unterstützen und den Vorwürfen gegen Griechenland nicht nachgingen.

MOMENT.at: Medien deckten auf, wie die griechische Küstenwache Geflüchtete, die auf der Insel ankommen, wieder zurück aufs Meer bringt und dort sich selbst überlässt. Was ist da passiert?

Doro Blancke: Wir beobachten das immer wieder. Wenn die Menschen auf der Insel landen, dann geht die Hafenpolizei und eine Sondereinheit los und sucht sie. Das sind maskierte Männer. Insider sagen, sie sind bei der Polizei angestellt. Die Menschen verstecken sich, weil sie Angst haben, dass die Polizei sie sofort findet. Sie wissen, was sie dann erwartet. Die maskierten Leute sind hemmungslos. Das geht auch aus Berichten von Ärzte ohne Grenzen hervor: Sie fesseln mit Kabelbindern, schlagen die Menschen, setzen sie psychisch unter Druck. Sie brechen damit Anti-Folter-Gesetze. Die Sondereinheiten geben sich teilweise als Ärzte und Mitglieder von Ärzte ohne Grenzen aus.

Wenn sie die Geflüchteten gefunden haben, stopfen sie sie in einen Transporter und sperren es mit einem Vorhängeschloss zu. Man fährt sie dann an einen Platz am Meer, wo ein Schnellboot der griechischen Küstenwache wartet. Mit dem werden sie aufs Meer zu einem Schiff der Küstenwache gefahren. Und dann geht es hinaus in Richtung türkischer Gewässer. Die Menschen werden auf einer Rettungsinsel ausgesetzt. Das sind aufblasbare Luftmatratzen mit Rand und Verstrebungen oben.

Mit Manövern treibt das Schiff der Küstenwache die Rettungsinsel in türkische Gewässer und informiert die türkische Küstenwache. Die sammeln die Geflüchteten dann auf und bringen sie wieder ans türkische Festland. Es gibt eine Homepage, die das alles dokumentiert. Auch die türkische Küstenwache filmt und protokolliert das genau.
 
MOMENT.at: Wie viele der Geflüchteten auf Lesbos erleben so etwas?

Blancke: Wir kennen hier niemanden, der keinen Pushback hinter sich hat. Alle Erzählungen von Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsländern decken sich. Auch wenn sich die Menschen gar nicht kennen. Sie erzählen alle dasselbe. Sie werden gekidnappt, sie werden ausgeraubt, man nimmt ihnen alles weg: Geld, Telefone, Rucksäcke, Dokumente. Aber auch Alltagsgegenstände wie Schuhe, Kleidung, Babywindeln. Aus meiner Erfahrung gibt es kaum einen Geflüchteten, der oder die nicht mindestens 200 Euro dabei hat. Sind sie zurück in der Türkei, probieren sie es wieder.

MOMENT.at: Auch beim Schiffsunglück mit Hunderten Toten und Vermissten wird der griechischen Küstenwache vorgeworfen, sie habe das Schiff bewusst aufs offene Meer hinausgezogen. Die Manöver hätten es zum Kentern gebracht. Ihre Schilderungen lassen vermuten, dass das kein Einzelfall ist.

Blancke: Das Unglück jetzt hat aufgerüttelt, weil leider so viele Menschen gestorben sind. Aber es passieren immer wieder tödliche Unfälle, bei denen man einschreiten hätte müssen. Im Oktober vergangenen Jahres gab es ein Bootsunglück direkt vor einer Militärbasis. Da kann niemand sagen, keiner hätte das Boot gesehen. Es wurden 18 Frauen tot geborgen, ein Kind und ein Mann. 22 Personen werden noch vermisst.

Ob jetzt 600 Personen sterben oder 20: Es ist dasselbe Verbrechen. Ich bin der festen Überzeugung: Die Küstenwache hat diese Menschen sterben lassen, so wie andere vorher auch schon. Es gibt zahlreiche dokumentierte Berichte über kaputte Plastikboote, die hier an die Küste geschwemmt werden. Wir wissen von den Geflüchteten, dass die Leute der Küstenwache auf die Boote einstechen. Wenn dann ein Luftloch in ihrem dünnen, billigen Schlauchboot ist, sind sie dem Untergang geweiht, im wahrsten Sinne des Wortes.
 
MOMENT.at: Geflüchtete und NGOs haben inzwischen viele Fälle dokumentiert. Wie kann Griechenland immer wieder behaupten, so etwas komme nicht vor? Und warum wird den Hinweisen kaum nachgegangen vonseiten der EU-Behörden?

Blancke: Dass die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten kaum bis keine Reaktion zeigen, ist mehr als verwerflich. Ich nenne das eine Tätergemeinschaft. Wir versuchen gemeinsam mit Völkerrechtsexperten wie Wolfgang Benedikt und EU-Parlamentariern darauf aufmerksam zu machen, was hier passiert. Othmar Karas von der ÖVP hat jetzt ein Vertragsverletzungsverfahren gefordert und wurde von der eigenen Partei als jenseitig bezeichnet.

Ein ÖVP-Mandatar schrieb uns, das Thema sei jetzt ungünstig, weil gerade über den EU-Asylpakt verhandelt wird. Weil das die Gespräche mit Griechenland und anderen Staaten störe. So etwas geht einfach nicht. Die EU-Mitgliedsstaaten können nicht mit mutmaßlichen Mörder:innen verhandeln und sagen: Wir brauchen die jetzt einfach fürs Team und deshalb können wir das jetzt nicht ahnden.

Der jüngste Olaf-Bericht über Frontex dokumentiert Menschenrechtsverletzungen. Wenn ich mit Mitarbeiter:innen der EU-Kommission rede, sagen sie: Du hast mit allem recht, aber bitte sei nicht zu laut.
 
MOMENT.at: Welche Möglichkeiten gibt es, aufzuzeigen, was hier passiert? Welche rechtlichen Schritte haben Sie eingeleitet?

Blancke: Ich verlange immer wieder Protokolle der Einsätze, Funksprüche und so weiter. Das muss ja alles aufgezeichnet werden. Das wird immer verweigert. Ich beobachte das seit Jahren: Wenn Frontex im Norden von Lesbos ist, finden Pushbacks im Norden statt. Sind sie im Süden, dann dort. Da muss es Reporte drüber geben. Nur wir bekommen sie nicht. Wir finanzieren selbst ein Rechtsberatungsprojekt. Das Legal Center Lesbos hat hunderte von Pushback-Fällen gesammelt. Nur was passiert? Wenig bis nichts. Es gibt Fälle, die angezeigt werden. Aber die sind alle offen. Es wird nichts gerichtlich abgearbeitet.

MOMENT.at: Was sollten die EU-Länder tun, um die Probleme auf den griechischen Inseln zu lösen und Griechenland zu helfen, die Migration zu bewältigen?

Blancke: Es muss eine gemeinsame, solidarische europäische Asylpolitik geben. Meine Kolleg:innen und ich konnten an einem Buch von Migrationsexpertin Judith Kohlenberger und Othmar Karas mitarbeiten: „So schaffen wir das“ heißt es. Darin sind sich alle einig. Es braucht eine gemeinsame Politik der EU-Länder. Denn wie kommen Randländer wie Griechenland dazu, dass sie jetzt alles abarbeiten müssen? Griechenland ist damit überfordert, das sehe ich auch.

Die solidarische Gemeinschaft sollte Geflüchtete in nennenswerter Zahl in ihre Länder übernehmen. Beim neuen Asylpakt steht, die Mitgliedsstaaten nehmen jährlich 30.000 Geflüchtete von den Randländern auf. Nur 30.000.

Und nicht immer nur Geld geben. Wenn ich die Zahlen sehe, was Griechenland bekommt: Das verschwindet zu einem großen Teil. Das Land ist so korrupt, das kommt gar nicht hier an. Sich dann als EU auf die Schulter klopfen und sagen, wir haben jetzt wieder Geld gegeben – das ist keine Hilfe. Und wenn ich der griechischen Küstenwache Geld schicke, damit die sich Schnellboote kaufen können, mit denen sie Pushbacks durchführen. Wenn ich Geld in ein Projekt investiere, mit dem Recht gebrochen wird, dann macht mich das zum Mittäter.

MOMENT.at: Was ist ein angemessener Umgang mit Geflüchteten, die auf Lesbos ankommen?

Blancke: Wir sollten sie zur Ruhe kommen lassen, Sprachkurse anbieten und nach einem Monat schon mit der Integration beginnen. Denn es ist so: 95 Prozent der Menschen, die 2020 hier im Camp waren, haben Asyl erhalten. Und wenn man sie in der Situation zum Beispiel gesundheitlich nicht behandelt – mal abgesehen vom humanitären Gedanken, also der Verpflichtung, Menschen in Not zu helfen -, kostet das ja den nächsten europäischen Ländern viel Geld. Die Steuerzahler:innen und die Wähler:innen der FPÖ oder ÖVP sollten einmal erfahren, dass es uns viel mehr kostet, den Menschen nicht zu helfen.

Man sollte von Anfang an in eine gute medizinische Versorgung investieren. Ärzte ohne Grenzen sagt auch: Die Menschen werden hier noch kränker und noch stärker traumatisiert. Kinder sollten sofort in eine Schule kommen und unterrichtet werden. Damit sie, wenn sie in andere europäische Länder kommen, nicht bei Null anfangen und schnell integriert werden. Das ist zum Vorteil der Kinder und auch von uns.
 
MOMENT.at: In Österreich sprechen Kanzler Nehammer und Innenminister häufig davon, die Grenzen vor Migrant:innen „schützen“ zu müssen und fordern ein Migrationsverbot. Ist das überhaupt machbar?

Blancke: Beim Innenminister habe ich das Gefühl, er weiß gar nicht, wovon er spricht. Er hat entweder ein schlechtes Kabinett oder eines, das ihn ideologisch in die Richtung führt, die man von der ÖVP kennt. Ich erwarte mir nicht, dass er über jeden Punkt genau Bescheid weiß. Aber er braucht Mitarbeiter:innen, die wissen, was rechtlich überhaupt möglich ist. Der Jurist und Sprecher der Asylkoordination Lukas Gahleitner muss ständig Faktenchecks machen, um zu zeigen: Was er da will, das geht rechtlich gar nicht.

Karl Nehammer bedankt sich aus tiefstem Herzen für den griechischen Grenzschutz. Denn wenn sie die griechischen Grenzen schützen, schützten sie auch die österreichischen. Das ist vollkommener Schwachsinn. Denn nebenbei gesagt: Die Griechen lassen jetzt gerade wieder Geflüchtete frei, damit sie über den Balkan gehen.

Aussagen der ÖVP und Karl Nehammer sollten auch strafbar sein. Nicht, weil es die ÖVP ist. In jeder Demokratie gibt es Leute, die eine andere Einstellung haben zu einem Thema. Das ist völlig in Ordnung. Was ich strafbar finde, ist die permanente Hetze der ÖVP. Es ist Angstmache. Das gehört unter Strafe gestellt, denn das beeinflusst die Zivilgesellschaft. Das beeinflusst, wie heute über Migration gesprochen wird und was passiert. Als ich jung war, war das noch ganz anders.

Zur Person: Doro Blancke (geboren 1961) ist Menschenrechtsaktivistin. SIe war unter anderem für Fairness Asyl tätig, das 2020 den Ute-Bock-Preis für Zivilcourage erhielt. Sie ist jährlich mindestens für acht Monate auf Lesbos und beobachtet dort, wie Behörden mit geflüchteten Menschen umgeht. Sie ist Teil eines Netzwerks von NGOs und Aktivist:innen, das auf Lesbos ankommenden Menschen humanitäre Hilfe leistet.

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