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Ungleichheit

Tödliche Flucht übers Mittelmeer: “Verbot der Migration wird nicht funktionieren”

Die Flucht mit Booten übers Mittelmeer endet für viele Migrant:innen tödlich. Das Sterben muss aufhören, sagt der tunesische Migrationsexperte Mohamed Aydi.
Die Flucht mit Booten übers Mittelmeer endet für viele Migrant:innen tödlich. Das Sterben muss aufhören, sagt der tunesische Migrationsexperte Mohamed Aydi.
Zehntausende Menschen versuchten in diesem Jahr über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Sie begeben sich in die Hand von Schleppern, besteigen hochseeuntaugliche und völlig überfüllte Boote. Dabei kommt es immer wieder zu Tragödien. Zuletzt kenterte ein Flüchtlingsboot vor Griechenland. Mindestens 78 Menschen starben, weit über Hundert Todesopfer werden befürchtet. Aus Tunesien machen sich derzeit so viele Menschen auf die gefährliche Fahrt übers Mittelmeer wie aus keinem anderen Land. Die Stadt Sfax ist Zentrum der Migration.

Mohamed Wajdi Aydi war bis vor kurzem Vizebürgermeister der zweitgrößten Stadt Tunesiens. Präsident Kaes Saied verschärfte den Ton gegenüber Migrant:innen. Mehr passiere nicht. “Die Regierung hat keine Lösungen. Es herrscht totales Desinteresse”, sagt Aydi im Interview. Er war auf Einladung der Menschenrechtsorganisation Südwind zu Gast in Wien. MOMENT.at und andere Medien sprachen mit ihm.  An europäische Länder gerichtet sagt Aydi: “Eine Politik des Verbots der Migration, wird keinen Erfolg haben. Wir können diese Bewegungen nicht stoppen.”

Von Tunesien aus machen sich inzwischen die meisten Menschen auf den Weg nach Europa. Was sind die Gründe dafür?

Mohamed Aydi: Ich kann es nicht leugnen: Migrant:innen geht es nicht darum, in Tunesien zu bleiben. Die meisten von ihnen wollen nach Europa gehen, egal ob es Menschen aus Tunesien oder den Subshara-Ländern sind. Doch es gibt keine Mittel dafür, keinen rechtlichen Rahmen und keine nationale Migrationsstrategie. Nur Menschen aus der Zivilgesellschaft und NGOs kümmern sich. Denen geht es nicht um Politik. Da geht es einzig darum, den Menschen zu helfen und ihr Leid zu minimieren.
 

Derzeit sterben vor Tunesiens Küsten sehr viele Menschen, die die Überfahrt gewagt haben. Was kann man tun, um das zu verhindern?

Aydi: Unfälle passieren leider jeden Tag. Immer wieder werden die Leichname von Flüchtenden an die Küsten gespült. Das muss aufhören. Aber man kann nicht etwas organisieren, das illegal und irregulär ist. Wir müssen globale und allgemeine Lösungen für die Frage der Migration anbieten. Wir müssen andere Lösungen anbieten. Sonst geht das Sterben weiter.

Wenn wir über Migration und Flüchtlingsströme reden, ist mir sehr wichtig zu fragen: Warum kommt es überhaupt dazu? Warum verlassen junge Menschen südlich der Sahara ihr Land und lassen sich auf ein manchmal tödliches Abenteuer ein? Das hat mehrere Gründe: vor allem die Klimakrise und die politische Instabilität im eigenen Land. In vielen Ländern herrschen seit Jahren bürgerkriegsähnliche Zustände. Die Klimakrise trifft diese Staaten und ihre Bewohner:innen besonders stark. Es ist ein ganz menschliches Phänomen, dann wegzugehen.

Was macht Tunesiens Regierung des autoritären Präsidenten Kais Saied, um diese Herausforderung zu bewältigen?

Aydi: Die Regierung hat keine politischen Lösungen dafür. Es herrscht totales Desinteresse. Und das führt natürlich zu Problemen. Sie betrachtet Migranten nur als eine Sicherheitsfrage. Saied sprach in einer Rede sogar von einer Verschwörung: Migrant:innen kämen zu uns, um unseren Platz einzunehmen. Sie wollen die Demografie des Landes verändern. Das ist dumm und es ist falsch.
 

Saieds aggressive Rede sorgte für Aufsehen. Berichtet wurde danach von rassistischen Übergriffen gegen Migrant:innen. Ist Tunesiens Bevölkerung feindselig ihnen gegenüber?

Aydi: Die Mehrheit der politischen Aktivist:innen und die Mehrheit der Bevölkerung lehnt Saieds Sichtweise ab und will das nicht akzeptieren. Dennoch gab es Leute, die Migrant:innen angegriffen haben. Was Saied sagt, ist die offizielle Meinung der Regierung des Landes, und die entscheidet. In Wirklichkeit war es eine Rede gegen die Realität der Dinge. Aber es wurde von der italienischen Regierung und der französischen extremen Rechten und einigen Ländern Europas sehr geschätzt und gelobt.
 

Was passiert mit Migrant:innen, die aus afrikanischen Ländern nach Tunesien kommen und von hier aus nach Europa weiterziehen wollen?

Aydi: Zunächst: Es gibt Migrant:innen, die sesshaft werden wollen. Aber sie können es nicht, weil die Regierung das nicht will. Sie gibt ihnen keine Papiere, damit sie sich hier legal aufhalten. Tunesiens Verwaltung kümmert sich nicht einmal um Asylanträge. Sie übergibt das dem UNHCR, dem Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen. Das lehnt diese Anträge mehrheitlich ab.

Aber klar, die meisten wollen nicht in Tunesien bleiben. Wir sind ein Transitland, sie wollen weiter nach Kanada und Europa. Deshalb versucht das UNHCR, in Abstimmung mit anderen Ländern, Flüchtlinge dorthin zu bringen und legale Fluchtwege zu bieten. Gelingt das nicht, versuchen sie es eben illegal und besteigen die Boote der Schlepper.

Was machen die Flüchtenden von ihrer Ankunft in Tunesien bis zur Abfahrt mit Booten in Richtung Europa?

Aydi: Sie kommen aus ihrem Land mit einem Touristenvisum. Nach drei Monaten läuft das ab. In dieser Zeit arbeiten sie, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie legen etwas Geld beiseite. Alle Migrant:innen sind irreguläre Arbeitskräfte. Sie sind nicht geschützt, sie sind nicht versichert.

Aber sie sind sehr gefragt, weil sie fleißig sind und weil unsere jungen Leute diese Jobs nicht machen wollen. Sie bekommen ähnliche Löhne wie Tunesier:innen. Für ihre Arbeitgeber:innen sind sie aber dennoch billig. Denn sie zahlen keine Steuern und keine Sozialversicherung. Dann versuchen sie einen Schlepper zu finden, der die Fahrt organisiert. Die Überfahrt läuft immer in Gruppen.

In Europa sprechen Politiker:innen oft davon, ihre Außengrenzen vor Migration “schützen” zu wollen. Kann es funktionieren, die Fluchtwege zu sperren in der Hoffnung, dass dann niemand mehr kommt?

Aydi: Zu sagen, es muss eine strikte Politik der Kontrolle und des Verbots der Migration geben, wird keinen Erfolg haben. Wir können diese Bewegungen nicht stoppen. Wir sehen es im Mittelmeerraum und im Süden der USA: Die Menschen finden immer neue Lösungen, das Land zu verlassen. Das Problem, was wir jetzt haben, kann niemals auf rein sicherheitspolitische Weise gelöst werden.

Deutschland hat Kriegsflüchtlinge aus Syrien aufgenommen und war in der Lage, das zu schaffen. Europa hat Millionen von Ukrainer:innen aufgenommen – auch weil sie es wollten. Migration ist immer eine Chance – für Migrant:innen und für Aufnahmeländer. Aber wir müssen es gut managen und wir können Lösungen finden. Und Lösungen können nur global sein. So können wir massenhafte Grenzübertritte und die Zahl der Unfälle und Todesopfer minimieren.
 

Viele EU-Länder fordern Aufnahmezentren außerhalb der EU, in denen Asylanträge bearbeitet werden. Migrant:innen sollen gar nicht erst in Europa ankommen. Eine gute Idee oder verschiebt man hier nur die Probleme in andere Länder?

Aydi: Ja, das ist meine persönliche Sichtweise. Und alle Regierungen Tunesiens haben sich bisher auch geweigert, das zu tun. In Sfax haben wir versucht, ein kleines Aufnahmezentrum für Migrant:innen einzurichten, die nach ihrer versuchten Flucht vom Meer wieder zurück an Land gebracht wurden. Oder für junge Menschen, die hier niemanden haben. Die tunesische Zentralverwaltung hat sich komplett verweigert.

Ich halte temporäre Zentren für notwendig, ja. Aber Flüchtlingslager für die, die von Europa abgewiesen werden, werden Tunesiens Regierung und die Bevölkerung niemals akzeptieren. Die Frage, ob Asylanträge für europäische Länder in Tunesien bearbeitet werden könnten, bleibt in der Schwebe.

 

 

Zur Person: Mohamed Wajdi Aydi ist Rechtsanwalt am Kassationshof in Tunesien, Doktor der Staatswissenschaften in Öffentlichem Recht und Internationalen Beziehungen sowie Dozent für Geopolitik an der Universität Sfax und Experte für lokale Regierungsführung und Migration. Er war von 2012 bis 2017 sowie 2018 bis 2023 stellvertretender Bürgermeister von Sfax und Koordinator der Migrationsakteure in Sfax.

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