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Aus für Gratiskindergarten in Wien? Das wären die Folgen

Aus für Gratiskindergarten in Wien? Das wären die Folgen
Ein Aus für den Gratiskindergarten hätte schwerwiegende Folgen
In Wien ist dieser Tage eine heftige Debatte entbrannt. Gerüchte um ein Ende des Gratiskindergartens gehen um. Was ein Aus bedeuten würde.

In den vergangenen Wochen hörte man aus Kreisen der Wiener Politik, dass der Sparkurs der Stadtregierung empfindliche Einschnitte nötig mache. Auch der Gratiskindergarten stünde zur Debatte. Die Grünen im Wiener Gemeinderat stellten darauf vor wenigen Tagen einen Antrag für den Erhalt des Gratis-Kindergartens. Die Parteien der Stadtregierung – SPÖ und NEOS – stimmten nicht mit. Als Zeichen wollen sie das nicht gewertet sehen. Was ist da los?

Auf die Anfrage, ob das Aus des Gratiskindergartens tatsächlich diskutiert wird, sagt Judith Pühringer (Vorsitzende Grüne Wien) gegenüber von MOMENT.at: „Leider ja – es verdichten sich die Anzeichen nahezu jeden Tag weiter, dass die Wiener SPÖ offensichtlich nicht einmal vor dem Gratis-Kindergarten Halt macht und damit den nächsten sozialen Leuchtturm Wiens niederreißt.“

Bewahrheitet sich das, würde es für Grünen einen massiven Rückschritt darstellen: „Es wird Kinder geben, die dann nicht mehr in den Kindergarten gehen, weil es für die Familien zu teuer wird. Bildung wird plötzlich wieder viel stärker eine Frage des Geldbörsels. Eltern werden vor die Frage gestellt: Kann ich mir Bildung für mein Kind leisten – oder brauche ich das Geld für den Haushalt?“ Besonders betroffen wären Kinder aus ärmeren Familien, so Pühringer: „Genau diese Kinder brauchen den Kindergarten oft besonders dringend – als soziales Umfeld, als erste Bildungsstation und zur Sprachförderung.“

Rathaus: „Die Aufhebung steht nicht zur Debatte“

Aber ist an all den Gerüchten jetzt eigentlich was dran? Das Rathaus weist die Vorwürfe gegenüber MOMENT.at entschieden zurück. „Die Aufhebung des beitragsfreien Kindergartens steht nicht zur Debatte“, so Marko Knöbl, Sprecher der zuständigen Vizebürgermeisterin Bettina Emmerling (NEOS). MOMENT.at versuchte mit mehrfacher Rückfrage sämtliche Schlupflöcher der Aussage auszuschließen. Würde der Gratiskindergarten angepasst? Auf gewisse Gruppen schränkt? Nein, heißt es. Auch eine „Anpassung“ sei ausgeschlossen: „Wenn es eine Anpassung gäbe, wäre es ja nicht mehr beitragsfrei.“

Das klingt klar und lässt eigentlich keinen Spielraum bei der Deutung zu. Oppositionspolitikerin Pühringer und ihre Grünen beruhigt das aber nicht. Denn: „Die gleiche Entwicklung haben wir schon bei der Zerstörung des 365-Euro-Tickets gesehen. Auch hier haben wir bereits Monate davor gewarnt.“ Hintergrund: Bürgermeister Michael Ludwig hatte eine Anpassung hier noch im Februar (noch während der Verhandlungen zu einer Blau-Schwarzen Regierung im Bund) ausgeschlossen. Anfang September war die Preiserhöhung um fast 30 Prozent fix. 

Ists beim Gratiskindergarten anders?

Das hilft der Glaubwürdigkeit der Stadtregierung bei ihren Dementis jetzt nicht, ist aber natürlich auch kein Beweis für das Gegenteil. Was im Fall des Gratiskindergartens gegen einen neuerlichen Wortbruch spricht: Die Neos schreiben sich das Bildungsthema besonders groß auf die Fahnen – es ist in Wien ihr einziges Ressort. Eine Umkehr wäre ein Gesichtsverlust. Und erst kürzlich hat die Regierung beschlossen, dass der Kindergartenbesuch für alle Dreijährigen verpflichtend wird. Auch das ist schwer mit dem Ende des Gratiskindergartens vereinbar.

Aber außer Zweifel ist auch: Das Wiener Budgetdefizit von 3,8 Milliarden Euro wird jedenfalls Kürzungen und Sparmaßnahmen auslösen – in allen Ressorts. Neben der bereits umgesetzten deutlichen Preissteigerung bei den Öffis, den geringen Anpassungen des Parkpickerls oder auch Kürzungen bei der Mindestsicherung werden in den kommenden Monaten und Jahren weitere Maßnahmen beschlossen werden.

Gegenüber dem ORF Wien meinte die Finanzstadträtin Barbara Novak (SPÖ) zum Gratiskindergarten: Zum Budget im Detail könne man keine verbindlichen Aussagen treffen. Es werde noch konsolidiert. Beschlossen wird es voraussichtlich im Dezember. Die Rot-Pinke Koalition stimmte dem Grünen Antrag vor wenigen Tagen jedenfalls nicht zu. Offiziell, weil man nicht “zu jedem wichtigen Projekt ein Bekenntnis abgeben” müsse. Geschadet hätte es der Klarheit freilich nicht.

Was ein Ende bedeuten würde

Unabhängig vom aktuellen politischen Aussagen lässt sich die Frage betrachten: Warum ist der Gratiskindergarten eine wichtige Errungenschaft? Was würde verloren gehen, wenn er in Wien tatsächlich wegfallen würde?

Ein komplettes Ende der Beitragsfreiheit würde die Eltern von rund 65 bis 71 Prozent der Kinder in Wien im entsprechenden Alter betreffen. Derzeit besuchen in Wien zwischen 62.000 und 81.000 Kinder ein Kindertagesheim.

Bildungsgerechtigkeit und Chancen

Studien belegen, dass besonders Kinder aus finanziell benachteiligten Familien überdurchschnittlich profitieren, wenn sie mehrere Jahre in den Kindergarten gehen. Werden dafür Gebühren fällig, würden gerade diese Familien ihre Kinder häufiger nicht in den Kindergarten schicken. „Das Ende des Gratis-Kindergartens wäre ein riesiger bildungspolitischer Rückschritt, der die Notlage im Wiener Bildungssystem weiter verschärfen würde“, warnt auch Pühringer von den Grünen Wien. 

Studien und Untersuchungen aus dem deutschsprachigen Raum belegen, dass Elternbeiträge einen erheblichen Einfluss auf die Inanspruchnahme von Kinderbetreuung haben. Niedrigere oder entfallende Gebühren erhöhen die Teilnahmequoten, besonders bei finanziell schwächeren Familien. Eine Auswertung der Universität Wien (2021) zeigt: Müssen die Eltern bis zu 40 € pro Monat liegt die Wahrscheinlichkeit, dass Eltern ihr Kind betreuen lassen, bei etwa 72 Prozent. Müssen sie hingegen rund 165 € monatlich bezahlen, sinkt die Nutzungschance auf nur 55 Prozent.

Mit anderen Worten: Steigende Kosten führen dazu, dass Familien die Betreuung ihrer Kinder einsparen.

Sprache und Integration

Da gerade Familien mit Migrationshintergrund oft auch finanziell schlechter dastehen, wäre zu erwarten, dass gerade Kinder, die mehr Sprachförderung brauchen, aus Kostengründen oft nicht mehr in den Kindergarten gehen würden. Dadurch würde das Problem des Spracherwerbs im jungen Alter noch größer.

Wenn Kinder mit Migrationshintergrund nicht frühzeitig Zugang zu Betreuungseinrichtungen mit Sprachförderung haben oder Beiträge und Gebühren sie vom Besuch abhalten, ist das Risiko höher, dass sie beim Spracherwerb zurückfallen.

Gleichstellung und Arbeitsmarkt

Ein kostenloser Kindergartenplatz ist nicht nur eine Frage der Bildungsgerechtigkeit, sondern ermöglicht auch Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Das stärkt insbesondere Frauen, die viel häufiger Betreuungsarbeiten in Familien übernehmen. Fällt der Gratis-Kindergarten, würden Frauen in Teilzeit wechseln oder den Beruf verlassen müssen. Die Arbeitskräfte fehlen den Unternehmen ebenso wie das Einkommen den Frauen und ihren Familien. Das wiederum würde wohl mehr Kosten bei Sozialleistungen verursachen.

Nach Einführung des Gratiskindergartens 2009 stieg die Berufstätigkeit von Frauen messbar an. Etwa die Hälfte des Beschäftigungsanstiegs zwischen 2007 und 2014 lässt sich auf diese Reform zurückführen. 

Besonders in Wien, wo 90 Prozent der Kindergartenplätze ganztägig und kostenlos sind, arbeiten deutlich mehr Frauen in vollzeitnahen Jobs als in Bundesländern mit Gebühren oder kürzeren Öffnungszeiten. Ein Ende der Beitragsfreiheit würde daher nicht nur Familien belasten, sondern auch die Gleichstellung am Arbeitsmarkt zurückwerfen.

Gesellschaftspolitische Signalwirkung

Seit seiner Einführung 2009 gilt der Wiener Gratiskindergarten als Vorzeigeprojekt. Sein Ende würde die Stadt nicht nur im Bundesländervergleich zurückwerfen, sondern auch ein symbolisches Signal senden: Bildungschancen hängen wieder stärker vom Einkommen der Eltern ab.

Kindergartenkinder schneiden in standardisierten Tests später signifikant besser ab und wechseln häufiger in höhere Schulformen, während Wiederholungs- und Abbruchquoten sinken. Eine OECD-Analyse zeigt zum Beispiel, dass Jugendliche, die über zwei Jahre den Kindergarten besuchten, in der PISA-Studie deutlich bessere Ergebnisse erzielten. Dieser Vorsprung blieb auch nach Bereinigung des familiären Hintergrunds bestehen.

Eine österreichische Auswertung ergab, dass mit Kindergartenbesuch wesentlich mehr Jugendliche zumindest einen Abschluss der Sekundarstufe 2 (grob: Oberstufe und Lehre) Abschluss erreichen (66 Prozent mit Kindergarten, 41 Prozent ohne) und häufiger eine noch höhere Ausbildung abschließen (12,6 Prozent mit Kindergarten, 4,5 Prozent ohne).

Bei allem Dementi: Welche Budgetentscheidungen die Stadtregierung im Dezember tatsächlich treffen wird, wird sich zeigen. Ob der Gratiskindergarten bestehen bleibt, wird sich dann zeigen. Doch während die Grünen und Opposition Alarm schlagen und die Koalition aus SPÖ und NEOS beteuert, dass das Modell nicht angetastet wird, ist klar: Sollte der beitragsfreie Kindergarten tatsächlich fallen, wären zigtausende Kinder, ihre Familien und das Wiener Bildungssystem insgesamt betroffen.

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    Kommentare 1 Kommentar
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  • Pille
    02.10.2025
    Ich hoffe, die wiener SPÖ ist nicht wirklich so blöd. Die sozialen Spannungen würden steigen, sodass wir auch hier eine Mehrheit der FPÖ befürchten müssten.
    Antworten