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Harte Arbeit lohnt sich nicht: Warum Leistung nichts wert ist

Die Silhouette eines Mannes beim Putzen des Eingangsbereiches eines öffentlichen Gebäudes: Der wertvollste Beruf für eine Gesellschaft ist die Reinigungskraft im Krankenhaus
Der wertvollste Beruf für eine Gesellschaft ist die Reinigungskraft im Krankenhaus - Foto: Gil Riberio/Unsplash
Was verstehen wir unter Leistung? Welche brauchen wir in unserer Gesellschaft? Aber welche belohnen wir in unserer Wirtschaft? Und wie verändern wir das zum Besseren? Ein Essay von Barbara Blaha geht diesen Fragen und ihren Antworten nach.

Fangen wir bei Adam und Eva an. Ganz am Anfang steht auch im Buch der Bücher die Arbeit – und zwar die Arbeit als Strafe. Gott bestraft die beiden nach dem Kosten vom Baum der Erkenntnis, und er sagt zu Adam: »Verflucht sei der Acker um deinetwillen, mit Kummer sollst du dich darauf nähren dein Leben lang. […] Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis dass du wieder zu Erde werdest.«

Die Bibel ist hier der Spiegel gesellschaftlicher Empfindungen: Arbeit ist Bürde, buchstäblich ist sie Gottes Geißel. Das entspricht fraglos dem tagtäglichen Erleben von Milliarden Menschen auf diesem Planeten, die körperlich anstrengende, monotone Tätigkeiten verrichten müssen.

Arbeit, die nicht erfüllt

Was Arbeit mit einem macht, wenn sie einen nicht erfüllt, habe ich bei einem Nebenjob erlebt, den ich mal hatte. Ich habe jahrelang samstags Schuhe verkauft. Wir wurden an den Umsatzzahlen gemessen, nach Ladenschluss wurde genau besprochen, wer heute wie viel geschafft hat.

Man findet sehr schnell heraus, worauf man achten muss, um seinen Umsatz zu optimieren. Möglichst nicht in der Nähe der Kinderschuhe auf Kund:innen treffen: Eltern sind ein anspruchsvolles Publikum, ihr Nachwuchs genervt, die Stimmung gereizt. Vor allem wird kaum je mehr als ein Paar gekauft, weil sich Eltern denken, wozu mehr Geld ausgeben, in einem halben Jahr passen die sowieso nicht mehr.

Die besten Kund:innen finden

In der Damen-Abteilung läuft es besser. Die Schuhe sind teuer, und die Kundinnen sind bereit, den hohen Preis zu zahlen. Aber weibliche Kundschaft ist kritisch, es werden viele Schuhe anprobiert, und das heißt für die Verkäuferin nicht nur dauernd aufstehen, niederknien, ins Lager rennen, auf Leitern nach dem zweiten Schuh turnen, es heißt vor allem auch: Die Zeit-Verkaufs-Kurve passt nicht, der Umsatz pro Stunde ist zu gering.

Die besten Kund:innen sind Männer. Sie haben in der Regel Geld, keine Zeit, hassen den ganzen Betrieb, und neunzig Prozent der verkauften Schuhe sind durch einige wenige Modelle abgedeckt. Doch auch wenn ich meinen Tagesumsatz erreicht hatte und der Chef zufrieden war: Als erfüllend habe ich die Arbeit nicht erlebt. Wer weiß schon noch, wie die Verkäuferin – es sind in den allermeisten Fällen Frauen – ausgesehen hat, bei der man vor Kurzem Schuhe erstanden hat? Man erinnert sich nur, wenn man mit ihr unzufrieden war. Gut läuft es im Verkauf, wenn man unsichtbar ist.

Perspektive: Harte Arbeit – für den Rest des Lebens

Arbeit wie diese lässt sich am besten mit der Perspektive aushalten, sie nur für eine begrenzte Zeit machen zu müssen. Ein paar männliche Studienkollegen von mir haben während des Studiums auf dem Bau oder in der Fabrik gearbeitet. Wann immer die dann betonen, sie wüssten ja, wie es ist, hart zu arbeiten, denke ich mir: Du hast vielleicht eine Ahnung davon. Aber du hattest nie die Perspektive, dass Zementsackschleppen dein Leben sein würde.

Dass du immer der sein wirst, der geschickt wird, der hebt und keucht und in aller Eiseskälte früh morgens auf dem Gerüst balancieren muss. Für dich war immer klar, das ist nur eine Zwischenstation, dein Weg führt hier heraus. Zu wissen, was harte Arbeit ist, bedeutet, mit der Aussicht zurechtzukommen, dass der Rest deines Lebens harte Arbeit ist.

Der Kampf um Würde und Selbstachtung, das Ausmaß an Selbstdisziplin, das notwendig ist, mit dieser Perspektive leben zu können und sich dennoch einen Blick über die tägliche Plackerei hinaus zu bewahren: Das ist es doch, was schwere Arbeit noch viel schwerer macht.

Bullshit-Jobs sind gut bezahlt

Neben schwerer körperlicher Arbeit, die meist mit schlechten Arbeitsbedingungen und mickriger Bezahlung einhergeht, hat sich in der oberen Mittelschicht der Bullshit-Job etabliert. David Graeber hat diesen Begriff geprägt, für Jobs, die weder unangenehm noch schlecht bezahlt sind – nur braucht die Welt diesen Job nicht, die Tätigkeit ist sinnbefreit.

Drei von zehn Befragten sagen in Graebers Studie, ihr Job leiste absolut keinen gesellschaftlichen Beitrag. Wer in einem Bullshit-Job steckt, dem geht es – trotz gutem Einkommen – nicht gut. Eine groß angelegte Metastudie aus den USA zu Arbeit und Lebenszufriedenheit kommt zu einem ähnlichen Schluss. Klar ist ein Faktor für Zufriedenheit die wirtschaftliche Sicherheit. Aber eben nur ein Faktor.

Eine Arbeit mit Sinn

Viel wichtiger für eine hohe Zufriedenheit mit der eigenen Arbeit und damit dem eigenen Leben ist: Für andere da zu sein, mit der eigenen Arbeit anderen zu helfen, in der Arbeit einen Sinn zu sehen. Wir fühlen uns dann am produktivsten, wenn unsere Arbeit anderen nützt.

Umso widersprüchlicher scheint es, dass wir gesamtgesellschaftlich jene belohnen, die durch ihre Arbeit volkswirtschaftlich gar nicht so viel nützen. In Großbritannien haben Ökonom:innen einmal berechnet, welche Jobs den größten gesellschaftlichen Mehrwert haben. Welche Arbeit trägt zur Gemeinschaft bei? Welche schadet eher dem Wohle aller? Das damals – weil vor Corona – überraschende Ergebnis: Der wichtigste Job für die Gemeinschaft ist die Reinigungskraft, die das Krankenhaus sauber hält.

Der teuerste Beruf für die Allgemeinheit

Das negativste Resultat wurde für Steuerberater:innen errechnet: Dank ihrer Kenntnisse gehen für jeden Euro, den sie verdienen, rund fünfzig Euro für die Gesellschaft verloren. Trotzdem gelten jene, die sehr reichen Menschen helfen, weniger Steuern zu bezahlen, als Leistungsträger:innen der Gesellschaft mit einem entsprechend hohen Einkommen, während die Reinigungskraft, wie viele andere Systemerhalter:innen, mit ihrem Lohn kaum über die Runden kommt.

Martin Luther King hat das in den 1960er Jahren treffend beschrieben:

So oft übersehen wir die Arbeit und die Bedeutung derjenigen, die nicht in hoch qualifizierten Berufen tätig sind, derjenigen, die nicht in den so genannten wichtigen Jobs arbeiten. Aber jede Arbeit, die der Menschheit dient und zum Nutzen unserer Gesellschaft dient, hat Würde und Wert.

Je nützlicher ein Job, desto schlechter ist er bezahlt, so offensichtlich die Faustregel, die bis heute Gültigkeit hat. Die wahren Leistungsträger:innen sitzen unten. Unterbezahlt und im Regelfall unsichtbar.

Systemrelevanz wird nicht entlohnt

Wer systemrelevant ist, ist aber nicht nur in den allermeisten Fällen schlecht bezahlt, nein, er ist auch überdurchschnittlich belastet, psychisch wie physisch und genau betrachtet gar kein Er, sondern eine Sie: Sieben von zehn Supermarktangestellten sind Frauen, neun von zehn Beschäftigten in Betreuungsberufen wie Altenpflege oder Elementarpädagogik sind weiblich, auch im Gesundheitsbereich sind acht von zehn Angestellten Frauen. Allen Berufen gemein ist, dass sie mit einer hohen Arbeitsbelastung einhergehen und gleichzeitig unterdurchschnittlich bezahlt werden.

Liegt das an der Art der Berufe? Ist es ein Naturgesetz, dass Arbeit mit Kindern, mit Alten und Kranken einfach mies bezahlt wird? Woran die niedrigen Löhne nämlich nicht liegen, ist Angebot und Nachfrage am Markt: In all diesen Berufen suchen wir händeringend Personal, die Löhne schießen trotzdem nicht nach oben.

Leistung wird nicht entlohnt

Wie fordernd die Berufe sind, auf die wir alle angewiesen sind, zeigt sich eindrücklich im Pflegeberuf. Jede:r zweite Arbeitnehmer:in in der Pflege empfindet die Arbeit als psychisch belastend, in anderen Berufen sagt das nur jede:r zehnte. Zwei von drei Beschäftigten in der Pflege glauben nicht daran, dass sie ihre Jobs bis zum regulären Pensionsantritt durchhalten.

Mit individuell unterschiedlicher Leistung lassen sich die krassen Lohnunterschiede also nicht begründen. Die Frage ist nicht: Wie viel leistest du? Sondern eben auch: Wer leistet denn? Frauenberufe sind nicht zuletzt deshalb schlechter bezahlt, weil es eben Frauenberufe sind: Ihrer Arbeit wird schlicht weniger Wert zugemessen.

Wer Grundlegendes macht, wird übersehen

In einer lesenswerten Analyse der ZEIT vom 20. April 2020 bemerkt Robert Pausch, dass paradoxerweise in der Unverzichtbarkeit dieser grundlegenden Arbeiten der Schlüssel für die fehlende Anerkennung liegt.

»Die Arbeit, die Frauen leisten, ist so grundlegend, dass man sie nicht wahrnimmt. Die Böden wischen im Krankenhaus, Äpfelchen schneiden für die kleinen Kinder, den Alten die Füße waschen – was soll daran besonders sein? Bricht nicht gerade eine Pandemie aus, erscheint es als selbstverständlich, dass diese Dinge erledigt sind. Zumal viele der Tätigkeiten denen ähneln, die Frauen zu Hause auch unbezahlt und scheinbar nebenbei erledigen: putzen, kochen, waschen, spülen, kümmern, sorgen, pflegen.«

Frauen arbeiten mehr

Frauen leisten das Gros der Arbeit: Sie werden nur für die wenigsten Stunden, die sie mit Arbeit zubringen, auch tatsächlich entlohnt. Besonders unsichtbar ist das familiäre Projektmanagement, neudeutsch »Mental Load«.

Es umschreibt die teilweise massiv belastende innere To-do-Liste, mit der man abends einschläft, morgens aufwacht und der man immer hinterherhechelt: Das Kind braucht neue Wechselwäsche im Kindergarten, das Playdate fürs Wochenende muss noch vereinbart werden, der Kontrolltermin bei der Zahnärztin ist überfällig, die Schul-App gehört gecheckt, vielleicht fällt morgen wieder Turnen aus, die Milch ist alle, und langsam gehören die Weihnachtsgeschenke unter den Großeltern verteilt, sonst schenken alle das falsche.

Unerkannte Arbeit als „Urlaub“

Unbezahlte Arbeit gilt als wertlose Arbeit, ja nicht einmal als Arbeit. Darauf deuten Wortschöpfungen wie »Mutterschaftsurlaub« überdeutlich hin. Dabei werden wir ja erst dann als »produktives« Mitglied der Gesellschaft angesehen, wenn wir für unser Auskommen durch Lohnarbeit selbst sorgen.

Es hat etwa zwei Jahrhunderte und ein fein gesponnenes Netz an Zurichtungsanstalten wie Arbeitshäuser, Überwachungs- und Strafinstrumenten gebraucht, um diese in sich irrationale, außerdem höchst widersprüchliche Interpretation durchzusetzen. So ist Lohnarbeit wohl immer für diejenigen wertvoll, die sie zukaufen, um sich den generierten Mehrwert aneignen zu können. Aber nur, weil etwas Profit abwirft, ist es noch längst nicht gesellschaftlich wertvoll, wie wir aktuell am Beispiel der Klimakrise eindrücklich feststellen.

Produktiv ist, was bezahlt wird?

Wie ist also die Produktivitätsfrage für all jene zu beantworten, die zweifellos sinnvolle Tätigkeiten ausüben, dafür aber kein Geld bekommen? Die den Haushalt führen, die Kinder großziehen, die Alten pflegen? Die ihrem kranken Nachbarn helfen, Kunst machen, musizieren oder auch: sich bilden?

Alle wollen in einer Gesellschaft leben, in der wir aufeinander aufpassen, in der sich niemand zu fürchten braucht, zurückgelassen zu werden, in der schöne Musik gemacht, faszinierende Bilder gemalt oder berührende Bücher geschrieben werden. Zumindest theoretisch besteht Einigkeit darüber, dass es allen nützt, wenn jeder Einzelne möglichst viel weiß und versteht.

Manch Intellektuelle:r verkennt den Wert der Arbeit

Warum gelten all diese Tätigkeiten – aus unterschiedlichen Gründen – dennoch als irgendwie »unproduktiv«? Durch Studien wie »Die Arbeitslosen von Marienthal« ist uns schon seit Jahrzehnten bekannt, wie sehr die Arbeit unserem Leben Struktur gibt und wir Selbstbewusstsein daraus schöpfen, produktive Mitglieder der Gesellschaft zu sein.

Gerade in progressiven intellektuellen Zirkeln gibt es einen Chic, die angebliche »Vergötzung« der Arbeit durch die Arbeiterbewegung zu problematisieren. Nun hat die Arbeiterbewegung die Arbeit unzweifelhaft heroisiert, aber doch nicht, weil sie sich über deren Charakter im Unklaren gewesen wäre. Im Gegenteil.

Arbeit als einendes Element

Ihr Anliegen war es, die schwer arbeitenden Unterschichten zu vereinen – nicht unter dem Banner einer Nation, nicht im Zeichen einer Gottheit, sondern auf Basis ihres Erwerbsstatus.

Die Arbeit sollte dabei nicht nur als gemeinsamer Bezugspunkt gelten, sondern auch als Legitimationsgrundlage gegen all jene dienen, die sich nicht plagen mussten, vom grundbesitzenden Adel bis zu den großbürgerlichen Privatiers.

Wer nicht arbeitet

Die Geschichte der Arbeit ist von Beginn an eben nicht zuletzt eine Geschichte der Arbeitsvermeidung. Eine schmale Schicht von Leuten arbeitet nicht, sondern lässt andere für sich arbeiten.

Interessant ist allemal, dass die Verhältnisse auf dem Kopf stehen, sobald sie in Villen und Schlössern wohnen. Wobei weniger die Arbeit, als vielmehr die Nichtarbeit in ihr Gegenteil verkehrt wird. Wer in den Arbeiter:innenbezirken der Städte nicht arbeitet, gilt als faul oder unfähig. Wer in den Villenvierteln dasselbe tut, frönt dem Müßiggang. Was hüben ein:e Sozialschmarotzer:in ist, ist drüben ein:e Privatier:e.

Faulheit gegen Lebenskunst

Die erfolglose Suche nach Arbeit ist mit Schande und dem Generalverdacht der Drückebergerei behaftet. Die zelebrierte Arbeitsvermeidung ist dagegen Savoir-vivre („Lebenskunst“). Alles eine Frage der Perspektive. Alles eine Frage von oben und unten.

Unten ist jedenfalls, wer keine Arbeit hat – und kein Vermögen, das für ihn arbeitet. Der öffentliche Diskurs über Arbeitslosigkeit hat sich in den letzten vierzig Jahren verschärft. Galt hohe Arbeitslosigkeit damals als politisches Versagen, ist es heute die Schuld des Einzelnen. Er hat sich nicht genug angestrengt, hat wohl nicht genug in seine Ausbildung gesteckt, ist vielleicht überhaupt faul? Diesem Generalverdacht sind heute alle arbeitssuchenden Menschen ausgesetzt.

Der Zwang zur Arbeit als Hegemonie

Der neoliberale Ansatz, dass man Menschen zu produktiver Tätigkeit zwingen müsse, ist in den letzten Jahrzehnten selbst bis tief in die Sozialdemokratie eingesickert.

Es blieb einem sozialdemokratischen deutschen Arbeitsminister, Franz Müntefering, vorbehalten, die Zielsetzung hinter der Zerstörung des deutschen Sozialstaates durch die Agenda 2010 während einer Fraktionssitzung der SPD im Frühjahr 2006 in astreiner NS-Diktion zu rechtfertigen: »Nur wer arbeitet, soll auch essen.«

Widersprüche der Bewertung

Der Widerspruch zwischen positiven und negativen Wirkungsmöglichkeiten von Arbeit – und damit aber auch der Schlüssel zur Frage, in welcher Weise Arbeit wirkt – liegt in der Verteilung und der Organisation der Arbeit.

Wie kann es sein, dass diejenigen, die die schwerste und gefährlichste Arbeit machen, dafür am schlechtesten entlohnt werden und das niedrigste soziale Ansehen genießen?

Wie kann es sein, dass wir länger und mehr arbeiten, als wir müssten, wenn wir den Produktivitätsfortschritt der letzten vierzig Jahre gerechter verteilt hätten?

Warum arbeiten wir so viel mehr, als es dem Klima – und damit auf Sicht uns allen – guttut?

Ein neues Verständnis von Leistung

Für die Beantwortung dieser Fragen wird eine Neudefinition des Leistungsbegriffs nötig sein. Ein Leistungsbegriff, der nicht auf Konkurrenz, sondern auf Kooperation basiert. Ein Leistungsbegriff, der umschließt, dass es weniger darum geht, wer besser ist als die Wettbewerber:innen – oft ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Kollateralschäden –, sondern wer mehr zum Gemeinwohl beiträgt – eben unter Berücksichtigung von Werten und Wertschöpfung jenseits marktlicher Verwertbarkeit.

So einen neuen Leistungsbegriff in herkömmlichen Unternehmensstrukturen zu etablieren ist sicher schwierig. Doch auch unsere Arbeitsplätze könnten nach demokratischen Prinzipien organisiert werden.

Die Demokratisierung der Arbeit

Diese Demokratisierung der Arbeit hätte viele positive Auswirkungen. Eine davon ist weniger Lohnungleichheit in Unternehmen.

Daten des Bloomberg CEO Index aus 2016 aus den USA zeigen, dass das Einkommen eines CEO eines durchschnittlichen amerikanischen Unternehmens zweihundertachtundneunzig mal höher ist als ein durch schnittliches Einkommen. In Österreich ist es sechsundvierzig mal höher, Tendenz steigend. In einem demokratisierten Unternehmen wäre so etwas nicht denkbar, wie das Beispiel des spanischen Konzerns Mondragon zeigt. Die Genossenschaft ist der siebtgrößte Konzern Spanien, seine fünfundneunzig Unternehmenssparten von Maschinenbau bis zu einer Supermarktkette erwirtschaften mit mehr als achtzigtausend Angestellten jährlich über elf Milliarden Euro Umsatz. Das Verhältnis vom niedrigsten Gehalt zum Gehalt des Vorstandsvorsitzenden ist eins zu acht.

Demokratie bringt Gleichstellung

Die Demokratisierung der Arbeit könnte zur Besserstellung von Frauen und Minderheiten am Arbeitsplatz beitragen. Wir wissen um die positiven Auswirkungen einer Arbeitnehmer:innenvertretung an der Spitze der Unternehmenshierarchien. Aber: Frauen, Menschen mit Migrationsgeschichte oder Menschen mit Behinderungen sind in Führungspositionen und Aufsichtsräten extrem unterrepräsentiert, während sie in den unteren Etagen überrepräsentiert sind, wo sie Diskriminierung und Machtmissbrauch stärker ausgesetzt sind.

Dass der eigene Erfahrungshorizont prägend ist, zeigt ein aktuelles Beispiel: Rachel Keke arbeitet als Reinigungskraft – und ist vor wenigen Monaten ins französische Parlament gewählt worden. Als erste Reinigungskraft überhaupt. In ihrem ersten Statement gegenüber den Medien sagte sie: »Ich bin die Stimme der Unsichtbaren. Ich bin die Putzfrau, ich bin die Haushaltshilfe, ich bin das Zimmermädchen, das niemand sieht. Und jetzt sitzen wir alle im Parlament.«

Demokratisch wird anders verhandelt

Ein dritter Vorteil demokratisierter Arbeitsplätze wäre eine höhere Widerstandsfähigkeit bei der Bewältigung von Wirtschaftskrisen. In demokratischen Organisationen wird anders verhandelt, was sich in schwierigen Zeiten besonders deutlich zeigt.

Während der Finanzkrise 2008 musste die Genossenschaft Mondragon eine ihrer Fabriken schließen. Bevor es zu dieser Entscheidung kam, suchte ihre demokratische Führungsstruktur nach verschiedenen anderen Lösungen. Zunächst wurden die Arbeitszeiten umverteilt, um möglichst viele Mitarbeiter:innen zu halten.

Als sich herausstellte, dass die wirtschaftliche Entscheidung zur Schließung unvermeidlich war, unterstützte die Genossenschaft alle Entlassenen, indem sie ihnen Arbeitsplätze in anderen konzerneigenen Unternehmen garantierte und allen Betroffenen erhebliche Arbeitslosenunterstützung zahlte, bis sie einen neuen Arbeitsplatz gefunden hatten.

Der Weg zum neuen Verständnis von Arbeit

In dem Maße, in dem wir Unternehmen stärker demokratisieren, eröffnen wir automatisch auch die Möglichkeit für einen alternativen, breiteren Leistungsbegriff, der Arbeit nicht mehr nur an unmittelbar marktlicher Verwertbarkeit misst. Wenn also ein neues, progressives Leistungsprinzip die Voraussetzung für ein emanzipatorisches Verständnis vom Wert der Arbeit ist, dann ist die Demokratisierung von Betrieben und Wirtschaft der Weg dorthin.

Schließlich könnte Arbeit damit auch zum Instrument der Emanzipation, zum Mittel der Befreiung werden. Die Arbeit hat schließlich nicht nur das Potenzial, Klassen zu formen, sondern auch, sie zu überwinden. Sie schafft den Reichtum nicht nur, sie kann ihn auch neu verteilen.

Indem sich diejenigen, die arbeiten, zusammenfinden, gemeinsam agieren. Das setzt eine kollektive Leistung voraus.

Aber wirkliche Veränderung kam und kommt immer von unten. Von denen, die arbeiten. Wie und wo auch immer sie das tun.

 

Dieser Text ist ein Beitrag zur Anthologie „Frei sein – Das Ringen um unseren höchsten Wert„, herausgegeben von Tanja Raich und im März erschienen im Kein & Aber Verlag.

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