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Ungleichheit

Wohnungslosigkeit, Housing First und teures Wohnen: „Wir bekommen den Druck zu spüren“

Wohnungslosigkeit, Housing First und teures Wohnen: „Wir bekommen den Druck zu spüren“
Elisabeth Hammer: "Wenn es nicht gelingt, diesen Wohnungsmarkt leistbarer und inklusiver zu machen, dann stehen wir vor einer großen Herausforderung." // Foto: Christoph Liebentritt
Im Kampf gegen Wohnungslosigkeit gibt es seit einigen Jahren einen neuen Ansatz: Housing First versucht den Menschen zuerst eine Wohnung zu vermitteln. Im neunerhaus erlebt man die Krise des leistbaren Wohnraums mit.

Die Wohnung zu verlieren, dazu braucht es nicht viel. Es reicht eine Trennung oder eine Krise. „Und dann beginnt schon eine Abwärtsspirale“, sagt Elisabeth Hammer, Chefin des Wiener neunerhaus. Sie sieht eine „Krise des leistbaren Wohnens“. Mit Housing First setzt sie das Grundrecht auf Wohnen um. Wie das funktioniert und was es bewirkt im Kampf gegen Obdachlosigkeit, erklärt sie im Interview. Mit Blick auf die Nationalratswahl am kommenden Sonntag sorgt sie sich darum, dass sich die Diskussionen ums Wohnen ändern könnten, „also in Richtung leistbares Wohnen nur für Österreicher:innen“.

MOMENT.at: Ende September läuft „housing first österreich“ ein bundesweites Projekt zum sogenannten Housing First aus. Ziel ist, mindestens 1.000 obdach- oder wohnungslose Menschen in eine eigene Wohnung zu bringen. Ihr neunerhaus ist auch beteiligt. Wie lautet die Bilanz kurz vor Schluss?

Hammer: Bislang konnten fast 1.900 Menschen in knapp 1.000 Wohnungen vermittelt werden. Wir sind auf einem guten Weg.

MOMENT.at: Wie viele Menschen sind von Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit betroffen?

Hammer: In den vergangenen Jahren waren es 12.000 Personen allein in Wien. Im Jahr 2019 gab es seitens der BAWO eine Schätzung, dass man diese Zahl noch einmal verdoppeln müsste, um das gesamte Bild zu bekommen. Trotz der Krisen der vergangenen Jahre sind es nicht mehr geworden. Maßnahmen wie Delogierungsstopp und Zuschüsse etwa für Mietrückstände und Energiekosten haben geholfen. Aber: Dass es trotz aller Investitionen nicht weniger geworden sind, die keine Wohnung haben, macht mich nachdenklich.

MOMENT.at: Liegt es an den gestiegenen Mieten, dass Menschen ihre Wohnung verlieren oder keine bekommen?

Hammer: Grundsätzlich sind steigende Mieten das Problem, ja. Aber man kann es auch umdrehen und sagen: Es liegt auch daran, dass sich Menschen immer weniger leisten können. Weil Löhne und Sozialleistungen nicht im selben Ausmaß steigen wie die Wohnkosten. Eine soziale Wohnungspolitik muss genau das leisten können: Leistbaren Wohnraum zur Verfügung stellen. Aber damit ist es nicht getan.

MOMENT.at: Was ist denn das Problem?

Hammer: Es geht nicht nur um leistbare Wohnungen, sondern es geht auch um Zugangskriterien, die nicht als Ausschlusskriterien wirken. Viele Vorgaben sind diskriminierend. Es gibt hohe Hürden wie Kautionen oder Finanzierungsbeiträge im gemeinnützigen Wohnbau. Auch Befristungen von Mietverträgen sind ein großes Thema. In ihnen ist das Risiko von kommender Wohnungslosigkeit schon eingeschrieben.

Wenn es nicht gelingt, diesen Wohnungsmarkt leistbarer und inklusiver zu machen, dann stehen wir vor einer großen Herausforderung. Wo dann die Wohnungslosenhilfe dazu genötigt wird, Feuerwehr zu spielen.

Wohnungslose haben Krisen, die auch andere kennen. Aber sie haben weniger Ressourcen und weniger Netzwerke.

MOMENT.at: Wann müssen Sie ausrücken und “Feuerwehr spielen”?

Hammer: Ganz schnell kann es gehen, wenn jemand eine Trennung oder Scheidung erlebt und plötzlich einen akuten Wohnbedarf hat, der nicht aufgeschoben werden kann. Das betrifft Frauen mit Kindern, aber auch Männer. Sie müssen dann überteuerte Wohnungen mieten. Und dann beginnt schon eine Abwärtsspirale.

MOMENT.at: Warum endet diese für manche in der Wohnungslosigkeit? 

Hammer: Wohnungslose Menschen haben Krisen, die auch andere kennen. Psychische Erkrankungen, Scheidungen, Trennungen, erlittene Gewalt, Jobverlust, gescheiterte Selbstständigkeit sind biografische Ereignisse, die wir alle kennen. Aber sie haben weniger Ressourcen und weniger Netzwerke, die sie dabei unterstützen, das auch zu bewältigen. Und dann sind wir da.

MOMENT.at: Ist die Zahl der Menschen, die Hilfe bei neunerhaus und anderen Einrichtungen suchen, ein Seismograph dafür, wie gut oder schlecht es Österreich geht?

Hammer: Ja, so kann man es ausdrücken. Es ist ein Gradmesser, der die Gefährdungslage einer nunmehr stärker prekarisierten Gesellschaftsschicht darstellt. Wir bekommen den Druck zu spüren, der auf ihnen lastet.

MOMENT.at: Was kann man tun, um diesen Druck rauszunehmen?

Hammer: Allein die Forderung “bauen wir mehr” löst noch nichts, wenn viele gar keinen Zugang zum leistbaren Wohnmarkt haben. Es geht natürlich auch um die Verteilung des Wohlstands und um den Leerstand. Es braucht leistbaren Wohnraum für Leute, die gefährdet sind.

Ein anderes Thema sind Bürgschaften und lückenlose Einkommensnachweise, die ich vorlegen muss, um an eine Wohnung zu kommen. Am privaten Wohnungsmarkt ist das Standard und auch im gemeinnützigen Wohnbau im Bedarfsfall üblich. Kein junger Mensch kann so einfach eine Bürgschaft vorweisen. Den Wohnungsmarkt in Wien erlebe ich als konservativ und diskriminierend gegenüber vielen Lebensrealitäten.

MOMENT.at: Gibt es also keinen Mangel an leistbarem Wohnraum, sondern ist der einfach schlecht verteilt?

Hammer: In Wien gibt es rund 220.000 Gemeindewohnungen und mehr als 200.000 Wohnungen aus dem geförderten Wohnbau. Da frage ich mich schon, warum es nicht gelingt, 12.000 registrierten wohnungs- und obdachlosen Menschen einen Zugang zum Wohnungsmarkt zu verschaffen.

MOMENT.at: Diesen Menschen eine eigene Wohnung zu geben, ist Ihre Antwort auf Wohnungslosigkeit. Wie funktioniert “Housing First” bei neunerhaus?

Hammer: Damit neunerhaus aktiv wird, braucht es eine Förderbewilligung, die vom Beratungszentrum Wohnungslosenhilfe ausgestellt wird. Das ist ein strukturelles Nadelöhr. Zu Housing First ist dann der Zugang aber niederschwellig. Die Sozialarbeiter:innen sind zuständig, Menschen mit dem Wunsch nach einer eigenen Wohnung zu helfen. So, dass die Wahrscheinlichkeit einer Zusage sich erhöht, weil zum Beispiel die Einkommenssituation geklärt ist. Die aber auch gemeinsam ermitteln, welche Anforderungen an die Wohnung da sind: Also, Zahl der Zimmer, Lage der Wohnung.

93 Prozent der Mieter:innen sind auch nach drei Jahren noch in ihrer Wohnung.

Ist das geschafft, gibt es eine Schnittstelle mit neunerimmo, gegebenenfalls auch zu Wiener Wohnen. Neunerimmo ist ein gemeinnütziges Tochterunternehmen von neunerhaus. Es hat einen sozialen Auftrag, Wohnungen zu akquirieren, zu vermitteln und zu vermieten. Dabei stehen wir in Kontakt mit Bauträgern und beschließen im besten Fall eine Zusammenarbeit. In einem Wohnbauprojekt können dann zum Beispiel zehn Wohnungen für Housing First zur Verfügung stehen.

MOMENT.at: Wie bringen Sie Immo-Unternehmen und Bauträger dazu, Wohnungen für Housing First zur Verfügung zu stellen?

Hammer: Zentral ist, dass wir ein stabiler Partner sind. Die Unternehmen wissen, dass die Mieten reinkommen und die Wohnverhältnisse stabil sind. 93 Prozent der Mieter:innen sind auch nach drei Jahren noch in ihrer Wohnung. Das zeigt die Wirksamkeit von Housing First. Es ist kein Zufall, dass die Gemeinnützigen unsere Partner sind. Sie freuen sich, wenn sie einen Beitrag leisten können und Wohnungslosigkeit für Betroffene beenden mit einer Wohnung.

MOMENT.at: Was ist, wenn ich eine Eigentumswohnung habe und sage, die würde ich gern für Housing First zur Verfügung stellen? Ist das möglich?

Hammer: Definitiv. Wir arbeiten auch mit einzelnen privaten Vermieter:innen, die uns die Wohnungen möglichst lange zur Verfügung stellen, im Idealfall sind das Minimum 5 Jahre. Private Vermieter:innen müssen sich klar darüber sein, dass sie hier keine Rendite machen. Wir brauchen ganz einfach Wohnungen mit leistbaren Mieten. Da spießt es sich. Aber wir merken auch: Es gibt ja durchaus eine Schicht von Eigentümer:innen, die – etwa angestoßen von ihren Kindern – ein stärkeres sozialkritisches Bewusstsein entwickeln und selber einen Beitrag leisten wollen.

MOMENT.at: Aber den Betroffenen einfach einen Wohnungsschlüssel in die Hand drücken und dann sollen sie mal schauen. Damit kann es ja nicht getan sein.

Hammer: Richtig. Krisen und schwierige Situationen sind nicht aus der Welt geschaffen mit einer Wohnung. Das Einkommen kann sich ändern, es kann eine gesundheitliche Krise kommen oder sich die sogenannte Haushaltskonstellation ändern. Und plötzlich wird die Wohnung nicht mehr leistbar. Da zu beraten und zu unterstützen, dafür sind begleitende Sozialarbeiter:innen da. Damit die Mieter:innen die Wohnung auch in Krisenzeiten behalten.

Jeder investierte Euro in Housing First, spart Kosten anderswo.

MOMENT.at: Finanziert wird das Projekt „housing first österreich“ unter Federführung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe BAWO mit 6,6 Millionen Euro des Sozialministeriums. Wofür wird das Geld verwendet?

Hammer: Je nach Bundesland unterschiedlich: Weil in Wien die Betreuung bei Housing First schon Standard ist und durch den Fonds Soziales Wien finanziert wird, wird in Wien der größte Teil dafür genutzt, die Finanzierungsbeiträge zu zahlen. Die Förderung des Sozialministeriums öffnet ein Segment des Wohnungsmarktes, das bislang für unsere Nutzer:innen aufgrund der hohen finanziellen Eintrittsschwellen nicht zugänglich war. So können sie da drüberspringen.

MOMENT.at: Und unter dem Strich: “Rechnet” sich Housing First für alle Beteiligten?

Hammer: Da wir Wohnen als Grundrecht sehen, mutet diese Frage fast zynisch an. Der allerbeste Fall ist, dass Personen überhaupt erst nicht wohnungslos werden. Der zweitbeste Fall ist, die Dauer möglichst kurz zu halten, dass Personen prekär wohnen, wohnungslos oder auf der Straße sind. Jeder investierte Euro in Housing First, spart Kosten anderswo. Es ist finanziell und menschlich aus meiner Sicht der richtige Weg.

MOMENT.at: Dennoch gibt es Kritik an Housing First. Es funktioniere eben nicht, weil Obdachlosigkeit ja noch immer existiert. In Wien ist die Zahl der registrierten obdachlosen Menschen seit Jahren konstant. Da konnte Housing First also nichts dran ändern.

Hammer: Die wichtigste Antwort darauf ist die Situation am Wohnungsmarkt: Die Krise des leistbaren Wohnens. Die Folgen davon fangen wir ein Stück weit ab. Wir verhindern Schlimmeres. Dazu kommt: Housing First ist nicht für alle wohnungslosen Menschen die unmittelbar zugängliche Lösung. Es ist die Antwort für Menschen mit eigenem Einkommen. Ist das nicht gegeben, müssen soziale Organisationen mit ihrer Arbeit und anderen Angeboten greifen.

Natürlich gibt es ein kleines Segment von vor allem obdachlosen Menschen, die kein eigenes Einkommen haben oder keinen legalen Status. Für sie ist die Situation schwieriger. Ihnen eine eigene Wohnung zu vermitteln, ist für sie auch nicht die erste Antwort. Das ist Fakt.

Manche Parteien schränken den Zugang zu bestimmten Segmenten des Wohnungsmarktes gerne ein.

MOMENT.at: Gibt es vonseiten politischer Parteien und Organisationen in Österreich Widerstand gegen den Ansatz Housing First?

Hammer: Die Unterstützung geht breit durch alle politischen Lager. Mit zwei Einschränkungen: Ich frage mich, ob die Unterstützung nachlässt, wenn wir das in Österreich noch stärker als Menschenrecht rechtlich verankern wollen. Denn dann wird das von einem freiwilligen Goodwill zu einer Verpflichtung. Da sind dann vielleicht nicht mehr alle so dabei wie jetzt.

Die andere Einschränkung ist, dass manche Parteien den Zugang zu bestimmten Segmenten des Wohnungsmarktes gerne einschränken. Ob für Menschen einer gewissen Nationalität oder eines bestimmten Sprachniveaus. Das sehe ich durchaus problematisch für das Ziel, Wohnungslosigkeit zu beenden. Es würde die Wirksamkeit dieses Ansatzes begrenzen, wenn hier Ausschlüsse passieren.

MOMENT.at: Sehen Sie die Gefahr, dass sich nach der Wahl Ende September und einer neuen Regierung Housing First nicht mehr umsetzen lässt?

Hammer: Housing First gibt es auch in Ländern, die konservativ regiert sind. Wir arbeiten mit Trägern aller Couleurs zusammen. Wir haben auch im Immobilienbereich eine breite Verankerung. Und es ist ein Erfolg: Es gibt mittlerweile eine gesetzliche Grundlage für die Beendigung von Wohnungslosigkeit. Die ist jetzt mal bis Ende 2026 befristet, aber es gibt sie.

Ich nehme nicht an, dass sich an dieser Grundlage zumindest bis dahin etwas ändern wird. In Wien ist die Konstellation eine andere. Und da sehe ich keine Änderung. Wenn, dann würde sich der Diskurs wohl schleichender ändern: Also in Richtung leistbares Wohnen nur für Österreicher:innen.

Zur Person: Elisabeth Hammer ist Geschäftsführerin von neunerhaus. Die Wiener Sozialorganisation unterstützt obdach- und wohnungslosen Menschen. Hammer ist Obfrau der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe BAWO. Darin haben sich Sozialorganisationen aus ganz Österreich zusammengeschlossen. 

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