Ulrike Herrmann: „Die Mittelschicht unterstützt eine Politik, die nur den Eliten nutzt“
Moment: Seit 2010 haben Sie mehrere Bücher zum Thema Ungleichheit von Arm und Reich geschrieben. Hat sich die Lage seitdem verbessert?
Ulrike Herrmann: Nein, es ist überhaupt nichts besser geworden. Seit 2010 haben wir in Österreich und Deutschland ein permanentes Wachstum. Davon ist bei der Bevölkerung aber fast nichts angekommen. Wenn die Löhne kaum steigen, obwohl es Wirtschaftswachstum gibt, heißt das eines: Die Ungerechtigkeit nimmt zu.
Moment: Wie groß ist denn der Unterschied zwischen Arm und Reich in Deutschland und Österreich?
Herrmann: Das Median-Vermögen in Westdeutschland liegt bei 89.000 Euro, im Osten bei 17.000 Euro. Das sind sehr niedrige Zahlen. Auf der anderen Seite, und das gilt für Deutschland wie für Österreich, weiß man über den Reichtum ja nichts. In Deutschland kommen die Reichen in den Erhebungen nicht vor und in Österreich gibt es das völlig intransparente Stiftungswesen. Da weiß keiner, was eigentlich wem gehört.
Moment: Sie haben in Ihren Büchern dargestellt, dass Reiche sich ärmer rechnen würden. Umfragen zeigen, dass Reiche sich auch selbst eher der Mittelschicht zuordnen. Was ist da los?
Herrmann: Die schönste Anekdote dazu ist ja, dass Gloria von Thurn und Taxis [Anm. eine bekannte, reiche Frau in Deutschland] in einem Zeit-Interview einmal gesagt hat, sie sei auch nur Mittelschicht. Das hat sie offenbar ernst gemeint, denn lächerlich machen wollte sie sich sicher nicht. Dabei besitzt ihr Sohn, der Erbprinz, eine Milliarde Euro. Das muss man erstmal hinbekommen, sich mit einer Milliarde Euro als Mittelschicht zu betrachten.
Moment: CDU-Politiker Friedrich Merz sagte im vergangenen Jahr, dass er mit einer Million Jahreseinkommen im Jahr ebenfalls nur „gehobene Mittelschicht“ sei.
Herrmann: Das ist der Klassiker. Das Phänomen ist, dass man sich dann mit den noch Reicheren vergleicht. Merz kennt als Vermögensverwalter natürlich viele, die noch mehr Geld haben und noch mehr Hubschrauber.
Die Erbschaftsteuer wird ausgerechnet von jenen Menschen abgelehnt, die kein Vermögen besitzen. Wie doof kann man sein?
Moment: Warum ist das ein Problem?
Herrmann: Es gibt keine Solidarität mehr. Reiche haben das Gefühl: Ich bin so arm und muss dann auch noch Steuern zahlen. Wenn sich alle realistisch einschätzen würden, wäre es sehr viel leichter darüber zu diskutieren, wie man den Staat finanziert und das gerecht verteilt. Jeder will ja Schulen, Straßen und Polizisten haben und irgendwo muss das Geld dafür herkommen. Aber diese Diskussion kann gar nicht geführt werden, wenn alle denken, sie seien arm oder das Opfer.
Moment: Aber es sollte ja ausreichen, wenn alle anderen ihre Situation realistisch betrachten?
Herrmann: Es sind ja nicht nur die Reichen, die sich arm rechnen. Auf der anderen Seite glauben viele ja, fast reich zu sein. Der mit 1.500 Euro Einkommen denkt, reich wäre man mit 2.500 Euro. Millionäre mit 2 Millionen Euro sagen, wenn man drei Millionen hat, ist man reich. Fast alle haben das Gefühl, sie stünden kurz vor dem Reichtum. Dann denken sie, sie wären viel besser dran, wenn es nur den Staat nicht gäbe. Denn der ist nur für die anderen da, finanziert nur die sogenannten Schmarotzer oder die Politiker und man selbst muss zahlen. Diese Verachtung für den Staat und das Gefühl, man sei fast reich, führt dazu, dass Mittelschicht und Eliten gemeinsam der Meinung sind, man sollte die Steuern senken.
Moment: Ist es realistisch zu glauben, man kann dort hingelangen, also wirklich reich werden?
Herrmann: Nein! Alle Untersuchungen zeigen, dass die Schichten sehr statisch sind. Es gibt keinen Aufstieg. Es gibt einen Bildungsaufstieg. Die jungen Generationen sind viel besser ausgebildet als ihre Eltern. Aber dieser Bildungsaufstieg setzt sich nicht in höheren Einkommen um. Es gab noch nie eine Kohorte, die so gut ausgebildet war, dennoch profitieren sie kaum vom Wachstum.
Moment: Warum schaffen sie es nicht, wirtschaftlich voranzukommen?
Herrmann: Zum einen fehlt es an Organisation. Die meisten Akademiker sind sich zu schade in eine Gewerkschaft einzutreten. Auf der anderen Seite wurde politisch alles getan, um die Arbeitnehmervertreter zu entmachten. In Deutschland in viel größeren Maße als in Österreich. Österreich ist ja aus der deutschen Perspektive geradezu ein Paradies. Ich weiß aber, dass viele Österreicher das nicht so sehen.
Die FPÖ tut so, als seien die Flüchtlinge daran Schuld, dass die Österreicher keine Lohnerhöhung bekommen.
Moment: Die SPÖ fordert jetzt Steuern auf Erbschaften und Vermögen über einer Million Euro. In der Debatte darum wird oft suggeriert das beträfe die Mittelschicht-Familie genauso. Kommt Ihnen das aus Deutschland bekannt vor?
Herrmann: Das ist der Lieblingstrick, und es wirkt: Umfragen zeigen, dass die Erbschaftsteuer ausgerechnet von jenen Menschen abgelehnt wird, die kein Vermögen besitzen. Da muss man fragen: Wie doof kann man denn sein? Die Mittelschicht unterstützt hier eine Politik, die nur den Eliten nutzt.
Moment: Woran liegt das?
Herrmann: Das Bild vom Ausbeuter hat sich komplett gewandelt. Eigentlich würde man denken, die Ausbeuter seien die Reichen. Denn alle arbeiten, aber das Vermögen landet bei einer ganz kleinen Gruppe, die oft noch nicht einmal arbeitet, also leistungsloses Einkommen kassiert. Stattdessen wird so getan, als wären die Armen die Ausbeuter. Viele Menschen glauben, die lebten ein gutes Leben auf ihre Kosten. Vom Staat würden nur die sogenannten Schmarotzer, die Durchhänger und die Geflüchteten profitieren. Gerade die FPÖ tut so, als seien die Flüchtlinge daran Schuld, dass die Österreicher keine Lohnerhöhung bekommen.
Moment: Warum feindet die Mittelschicht die Ärmeren an, wenn es um die Verteilung des Reichtums geht?
Herrmann: Sie wertet die Unterschicht vehement ab und verachtet sie. Dazu kommt der Gedanke: Ich bin nicht ganz unten, also bin ich fast oben. Psychologisch fühlen sie sich den Reichen damit viel näher und sind deshalb eine Allianz mit ihnen eingegangen. Mittelschicht und Reiche pflegen dann ein gemeinsames Feindbild. Doch in Wahrheit ist der Sozialbetrug sehr niedrig bei den Armen. Also die sind schon wirklich arm.
Für Politiker lohnt es nicht, sich für die Armen einzusetzen, denn sie gehen ja nicht zur Wahl.
Moment: Von den Personen im untersten Einkommensdezil zählen sich 40 Prozent auch tatsächlich zu dieser Gruppe der Ärmsten. Keine andere Gruppe ordnet sich selbst in so hohem Maße richtig zu. Sind Geringverdiener Realisten?
Herrmann: Nein, es sind ja immer noch nur 40 Prozent. Das ist nicht viel. Es muss einem klar sein: Die untersten 10 Prozent, das sind die wirklich Armen. Wenn das nur 40 Prozent von denen erkennen, herrscht in Wahrheit ein großer Mangel an Realismus. Auch in Deutschland wird abgefragt, wo sich die Menschen auf einer Skala von 1 bis 10 einordnen. Sehr oft kommt raus, dass sich selbst Langzeitarbeitslose der Gruppe 4 zuordnen. Sie denken also, sie seien trotzdem irgendwie in der Mitte.
Moment: Wie erklären Sie sich das?
Herrmann: Es ist einfach unendlich bitter, sich eingestehen zu müssen, dass man Verlierer ist. Psychisch ist es viel angenehmer zu glauben, man gehöre zur Mitte und irgendwie dazu.
Moment: Und die 40 Prozent, die tatsächlich wissen, dass sie abgehängt sind. Besteht die Gefahr, dass sie sich vom Staatswesen abwenden oder radikale Parteien wählen?
Herrmann: In den ärmeren Gegenden ist die Wahlbeteiligung immer niedriger als in den Villenvierteln. Daraus folgt: Für Politiker lohnt es nicht, sich für die Armen einzusetzen. Das lässt sich nicht in Stimmen umsetzen, denn sie gehen ja nicht zur Wahl. In Deutschland sehen die Ärmeren die AfD als Möglichkeit, ihren Protest auszudrücken. Vor allen in den abgehängten Gebieten steigt die Wahlbeteiligung. Aber: Genau wie die FPÖ wird die AfD nicht nur von den Armen gewählt. Die Fremdenfeindlichkeit ist nicht schichtspezifisch. Auch gut abgesicherte Pensionisten, die bis zu ihrem Tod nichts mehr zu fürchten haben, haben nichts Besseres zu tun, als diese Extremisten zu wählen.
Moment: Untersuchungen zeigen, dass die Interessen der Wohlhabenden in Parlamenten viel eher umgesetzt werden als die der Ärmeren. Liegt das nur an deren geringerer Wahlbeteiligung?
Herrmann: Nein, das hat weitere Gründe. Einerseits sind die Wohlhabenden in Lobbys organisiert, die die Abgeordneten permanent bombardieren. Und die Abgeordneten gehören ja selbst zu den obersten zehn Prozent. Ein deutscher Abgeordneter verdient so viel wie ein Bundesrichter. In diesen Regionen ist kaum jemand. Das halten sie dann schnell für normal und sehen gar nicht, was bei den anderen los ist. Parlamentarier sind zudem überwiegend durch Steuern belastet. Deshalb neigen sie dazu, immer dort anzusetzen. In Deutschland wurde jetzt der Solidaritätszuschlag zum großen Teil abgeschafft. Schon jetzt lässt sich absehen, dass erneut die Unternehmenssteuern gesenkt werden sollen. Beide Male profitieren vor allem die oberen Schichten.
Ulrike Herrmann (Jg. 1964) ist Wirtschaftskorrespondentin bei der Berliner taz. Sie ist ausgebildete Bankkauffrau, studierte Geschichte und Philosophie und verfasste seit 2010 zahlreiche Bücher zu Wirtschaftskrise, Ungleichheit und Kapitalismus, die im Westend-Verlag und bei Piper erschienen sind. Im Oktober veröffentlicht sie ihr neues Buch „Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen“.