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Demokratie

Krieg in der Ukraine: "Der Konflikt ist nie aus Putins Kopf verschwunden"

Wladimir Putin hat den Krieg gegen die Ukraine begonnen. Im Gespräch mit MOMENT spricht Historiker Wolfgang Mueller darüber, was hinter den Motiven Putins steckt.

 

In der Nacht auf den 24. Februar haben russische Truppen mit dem Angriff auf die Ukraine begonnen. In Europa herrscht nach über 20 Jahren wieder offener Krieg. Warum handelt Wladimir Putin gerade jetzt so aggressiv?

“Was Menschen dieser Art beeindruckt, ist Stärke und Größe”, sagt Wolfgang Mueller, Historiker am Institut für Osteuropäische Geschichte an der Uni Wien. Er hat mit MOMENT darüber gesprochen, welche Motive hinter Putins Vorgehen stehen und welche Geschichtsbilder er dafür bedient. 
 

MOMENT: Haben sie mit dieser schnellen und heftigen Eskalation der Situation gerechnet?

Wolfgang Mueller: Nein, nicht in dieser Dimension. Ich habe die Gefahr einer großen Militärinvasion für weniger akut gehalten. Die US-amerikanischen Geheimdienste haben sie offenbar korrekt eingeschätzt. Es gibt viele, auch zivile, Opfer und viele Menschen sind jetzt sehr bedroht.

MOMENT: Wie weit wird Putin jetzt noch gehen?

Mueller: Derzeit Prognosen abzugeben, ist eine riskante Angelegenheit. Aber Präsident Putin hat zwei Ziele der russländischen Invasion genannt: die völlige Entwaffnung der Ukraine und den Sturz ihrer demokratisch gewählten Regierung.  

Prognosen sind auch deswegen schwierig, weil Putin sehr oft das gemacht hat, was unwahrscheinlich ist. Er ist diesbezüglich ein sehr fintenreicher und schlauer Politiker, der zwei Dinge immer im Hinterkopf behält: das langfristige Fördern seiner innen- und außenpolitischen Ziele. Und gleichzeitig das Antizipieren der Reaktion seiner Gegner.

MOMENT: Könnte Putin die Ukraine im Sinne eines russischen Großreichs auch einnehmen?

Mueller: Das muss er gar nicht. Sein Ziel ist die politische Gleichschaltung mit den Wünschen des Kremls. Eine dauerhafte Einverleibung würde zu mehr Widerstand führen.

MOMENT: Putin hat die Ukraine in seiner Kriegserklärung als “neonazistisches Regime” bezeichnet. Wie kommt er auf diese Bezeichnung?

Mueller: Die Chiffre geht auf die Sowjetunion zurück. Ein Teil der Organisation Ukrainischer Nationalisten, die seit der Zwischenkriegszeit für eine unabhängige Ukraine und gegen den Kommunismus kämpfte, stand dem Faschismus sehr nahe und begrüßte Hitler als Befreier vom Kommunismus. Um die ukrainische Nationalidee zu diskreditieren, wurde in der sowjetischen Propaganda aber behauptet, dass alle, die für eine unabhängige Ukraine sind, gleichzeitig auch Faschisten sind. 

2014 hat die russländische Propaganda dieses Bild aufgegriffen und die Proteste am Maidan als neonazistisch bezeichnet. Heute dient die Bezeichnung der innenpolitischen Rechtfertigung des Krieges, der in Russland nicht sehr populär ist. Der Kreml versucht daher, ihn mit extremen Argumenten zu legitimieren: Dass die demokratische Regierung in Kiew ein neonazistisches Regime sei, und dass ein Genozid an Russen durchgeführt wird – was beides nicht stimmt.

MOMENT: Putin bedient immer wieder starke historische Bezüge, gerade wenn es um Konflikte geht. Die Bedeutung der Krim für Russland hat er etwa auch mit der Bedeutung des Tempelbergs in Israel für Juden und Muslime gleichgesetzt. Warum macht er das?

Mueller: Historische Bezüge sind sehr wirkmächtig zur Legitimation territorialer Ansprüche. Das sieht man auch etwa in der Kosovo-Frage. 

Putin ist durch seine Sozialisierung in der Sowjetunion ein Großmachttyp. Er ist kein Mensch, der großes Interesse an Selbstbestimmung oder Minderheitenrechte hat. Was Menschen dieser Art beeindruckt und womit sie sich identifizieren, ist Stärke und Größe.

Obwohl sein Denken in vielerlei Hinsicht von der Sowjetunion geprägt ist, orientiert sich Präsident Putin weniger an ihr, sondern äußert sich immer wieder kritisch über den Kommunismus. Über die Ukraine hat er gesagt, dass sie ein Geschöpf Lenins ist – aber er meint das ja nicht positiv. Die Tatsache, dass die Bolschewiki auf die Idee gekommen sind, den vielen Nationalitäten eigene Teilrepubliken und Kompetenzen zu geben, findet er absurd.

In der russischen Öffentlichkeit versucht Putin hingegen ein “Wir-Gefühl” zu propagieren – aus seiner Position als Präsident ja verständlich. Dazu hebt er positive Dinge, sei es aus dem Zarenreich oder der Sowjetunion, hervor.

Das entspricht auch der Haltung großer Teile der Bevölkerung zu solchen Fragen. Sie identifiziert sich mit Russland als einer Großmacht. Das wird den Menschen von Kindheit an so beigebracht. Ihnen wird gesagt: “Wir sind das größte Land der Welt. Alle wollen uns angreifen und wir müssen stark sein, um den Frieden erhalten zu können.”

MOMENT: Ist also das Motiv hinter dem Konflikt, dass Putin Stärke zeigen will oder muss?

Mueller: Ein zentrales Thema ist sicher die Wiederherstellung von Glorie und Größe Russlands. Und das eben auch konfrontativ gegenüber dem Westen. Wir haben es auch mit sehr alten Abschottungstendenzen in der russischen Kultur zu tun. Den Westen als Feindbild hat nicht Putin oder die Sowjetunion erfunden. Das reicht bis in das 11. Jahrhundert zurück, wenn man an die Spaltung zwischen Orthodoxie und Westkirche denkt.

Aber es gibt noch eine weitere Motivation und die ist innenpolitisch begründet. Die Herrschaft Putins ist nicht mehr so stabil, wie sie es in seinen beiden ersten Amtszeiten war. Dass man innenpolitische Konflikte durch außenpolitische Aggression löst, ist ja weder in der Geschichte Russlands noch in der Geschichte westlicher Staaten neu.

MOMENT: Könnte das eine Erklärung dafür sein, warum Putin diesen Krieg während einer weltweiten Pandemie und Wirtschaftskrise beginnt? Will er damit auch von der Krise im Inneren ablenken?

Mueller: Das könnte eine Rolle spielen. Ich würde aber gar nicht so stark auf die Pandemie fokussieren. Der Konflikt mit der Ukraine ist nach 2014 aus der Berichterstattung westlicher Medien verschwunden, aber niemals aus der Politik Russlands oder aus Putins Kopf. Dass es einmal zur Anerkennung der beiden abtrünnigen Regionen im Donbass kommen würde, konnte man sich ausrechnen. Ähnliches ist beim russischen Krieg in Georgien 2008 mit den Regionen Abchasien und Südossetien passiert.

Warum der Krieg gerade jetzt beginnt, kann ich nicht beantworten. Vermutlich war er als Extremszenario seit 2014 einkalkuliert und wurde entfesselt, als der Westen das Ultimatum Russlands nicht erfüllte und erklärte, dass er keine Soldaten in die Ukraine schicken würde. Russische Ökonomen verweisen auch auf die günstige Entwicklung auf den Finanzmärkten. 
 

MOMENT: Auch der Hass Putins auf demokratische Werte wird immer wieder als Erklärung für sein Handeln gesehen. Sehen Sie das ähnlich?

Mueller: Das ist ein verbreitetes Erklärungsmodell für den gesamten russländisch-ukrainischen Konflikt. Vom System Putin wurde die Entstehung einer erfolgreichen, demokratischen und prowestlichen Ukraine offenbar als Gefahr betrachtet. Das Konzept der “souveränen Demokratie” Russlands besagt: ‘Das wichtigste ist, dass bei uns Ordnung herrscht und dass wir eine starke Großmacht sind. Dass es praktisch keine innenpolitische Konkurrenz gibt und seit 22 Jahren faktisch dieselbe Person herrscht, ist für uns okay. Denn wir haben eine andere Kultur als der Westen.’ Und plötzlich war da mit der Ukraine ein Land vor der Haustüre Russlands, das in seiner Kultur und Sprache sehr nah verwandt ist – und entwickelt sich in Richtung westlicher Demokratie. Das stellt diese “souveräne Demokratie” massiv infrage.

Das dürfte der Hauptkonfliktgrund sein. Einen EU- oder NATO-Beitritt der Ukraine halte ich für einen vorgeschobenen Grund, denn weder EU noch NATO bedrohen Russland in Wahrheit. Das hat Präsident Putin selbst erklärt. 

MOMENT: Russland hat sich durch diesen Krieg in internationale Isolation begeben. Ist das ein Problem für Putin?

Mueller: Ich gehe davon aus, dass der Kreml damit rechnet, dass eine Isolation nicht lange anhalten wird. Auch nach der sowjetischen Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes 1956 oder des Prager Frühlings 1968 wurde die Sowjetunion bald wieder empfangen. Diesmal hat die Volksrepublik China den Krieg bisher nicht verurteilt und wird daher an einer Isolation vermutlich nicht teilnehmen.

MOMENT: Gibt es Reaktionen des Westens, die Russland und Putin wirklich treffen könnten?

Mueller: Es wurden bereits große Maßnahmen angesprochen, etwa das Verbot von Handel mit Staatsanleihen oder der Ausschluss aus dem Zahlungssystem SWIFT. Das kann mittelfristig wirken und der Wirtschaft Russlands schaden. Aber für die Überbrückung hat Russland genug Währungsreserven. 

Ein militärisches Eingreifen der USA könnte Russland treffen, ist aber unwahrscheinlich. Das hat Präsident Biden erklärt. Aber Präsident Putin hat es wohl nicht völlig ausgeschlossen, weshalb er auch mit einem Einsatz von Atomwaffen gedroht hat.

Der Krieg ist in Russland selbst nicht populär. Es gab bereits am ersten Tag mehrere Demonstrationen dagegen und laut Menschenrechtsorganisationen über 800 Verhaftungen von Demonstranten und Demonstrantinnen. Aber die Mehrheit ist wohl durch Repressionen eingeschüchtert, apathisch oder lässt sich vom Staatsfernsehen beruhigen. Dass das System kurzfristig destabilisiert wird, erwarte ich nicht. Allerdings kann man immer überrascht werden. Es hat ja auch niemand mit dem Ende der Sowjetunion gerechnet.

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