Löhne zu hoch? So verhöhnt die ÖVP Beschäftigte in Österreich
Mit festen Schritten trat Carmen Jeitler-Cincelli am 16. Mai an das Redner:innen-Pult im Nationalrat. Was von der 43-jährigen ÖVP-Abgeordneten folgte, war eine fünfminütige Brandrede. Eine Rede, die sich praktisch gegen alle Menschen in Österreich richtete. Wo soll man da anfangen? Vielleicht in der Mitte der Rede. Das “Hauptproblem und der Haupttreiber” der hohen Inflation in Österreich “das sind die hohen Löhne”, sagt Jeitler-Cincelli.
Damit meint sie aber nicht hohe Löhne in Chefetagen von Unternehmen. Sondern sie meint: Die Löhne im Handel seien zu hoch. Es ist der Handel, dessen Beschäftigte den Arbeitgeber:innen erst nach monatelangen Verhandlungen im Dezember 2023 einen Lohnabschluss abringen konnten, der nicht einmal die Inflation des vergangenen Jahres ausgleicht. Es ist der Handel, in dem 38 Prozent der Beschäftigten, auf eine Vollzeitstelle gerechnet, weniger als 2.500 Euro Lohn erhalten. Vollzeitstellen, die für die vielen, meist weiblichen Beschäftigten illusorisch sind. Denn Handelsunternehmen bieten vor allem Teilzeitstellen an.
Höhere Löhne sind nicht die Wirklichkeit für Beschäftigte
Wenn Jeitler-Cincelli sich in der Folge über 15 Prozent höhere Löhne seit 2022 aufregt, dann vergisst sie eines: Die Inflation war viel höher. Real können sich die Handelsbeschäftigten weniger leisten. Genauso übrigens wie alle Arbeitnehmer:innen: Sie verloren in den vergangenen zwei Jahren 6,5 Prozent an Kaufkraft. Banken und Energieunternehmen gewannen dagegen ordentlich dazu.
Allein das zeigt: Die Löhne sind nicht “das Hauptproblem” bei der Teuerung. Sie hecheln vielmehr den rasant steigenden Preisen hinterher. Denn auch das vergisst die Jeitler-Cincelli, die auch stellvertretende Generalsekretärin des ÖVP-Wirtschaftsbundes ist, zu erwähnen: Die Inflation wird den Beschäftigten immer erst dann ausgeglichen, wenn sie schon längst passiert ist.
Die so viel bemühte Lohn-Preis-Spirale, vor der ÖVP, aber auch Wirtschaftskammer, Industriellenvereinigung oder Handelsfirmen immer wieder warnen: Es gab sie in den vergangenen Jahren schlicht nicht. Was wir miterleben müssen, ist eine Preis-Lohn-Spirale. Und Unternehmen erhöhten ihre Preise bisweilen auch ohne Not, einfach weil es ging. Und fuhren damit hohe Gewinne ein.
Was gegen steigende Preise hätte helfen können: zum Beispiel eine echte Mietpreisbremse oder eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel. Stattdessen gab es mit Einmalzahlungen Flickschusterei.
Höhere Löhne in Österreich, hohe Preise aber auch
Der gebürtigen Innsbruckerin Carmen Jeitler-Cincelli gehört ein Kommunikations- und Beratungsunternehmen. Es erhält Aufträge vor allem von Handelsunternehmen und öffentlichen Institutionen. Ihre Firma gestaltete etwa Werbe-Kampagnen für das ÖVP-geführte Bundesministerium für Familie und Jugend (bmfj).
Und es produzierte Info-Folder für die Gutscheinfirma Sodexo, die sich um die Auszahlung des Klimabonus kümmern durfte. Es ist der Klimabonus, den Jeitler-Cincelli in ihrer Rede kritisiert als Belastung für das Staatsbudget. Der aber angesichts explodierender Energiekosten für die Bevölkerung mindestens dringend notwendig war, für viele aber nur ein Pflaster auf einer offenen Wunde.
Als “Beweis” für die zu hohen Löhne im österreichischen Handel, bringt Jeitler-Cincelli ein schwieriges Argument: In den Grenzregionen zu Deutschland arbeiten viele Menschen aus dem Nachbarland, weil sie dort mehr Gehalt bekommen. Sie vergisst aber zu erwähnen: Die Lebenshaltungskosten sind in Österreich deutlich höher als im Schnitt der Eurozone und höher als in Deutschland.
ÖVP so: Stellen wir mal das 13. und 14. Gehalt in Frage
Ein höheres Lohnniveau in Österreich heißt nicht, dass Österreichs Beschäftigte im Vergleich wie die Maden im Speck leben würden, wie Jeitler-Cincelli suggeriert. Denn um sich mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen, müssen Menschen in Österreich deutlich tiefer in die Tasche greifen als im großen Nachbarland. Im Juni 2023 erhob die Arbeiterkammer: Wer in Österreichs Supermärkten einkauft, musste für alltägliche Lebensmittel netto 15 Prozent mehr zahlen als im großen Nachbarland.
Jeitler-Cincelli erwähnt den trotz jüngster Erhöhung noch immer viel zu geringen Mindestlohn in Deutschland, als wäre er ein Vorbild. Und dass nach Kollektivvertrag Beschäftigte in Österreich ein 13. und 14. Monatsgehalt erhalten, sei da auch mindestens problematisch.
Von der Opposition im Nationalrat fordert Jeitler-Cincelli: “Hören sie auf, den Menschen zu vermitteln, dass alle so arm werden!” Eine massenhafte Verarmung gibt es in Österreich zwar bei weitem nicht. Die Zahlen zeigen aber: Immer mehr Menschen in Österreich sind armutsgefährdet. Die schwarz-grüne Regierung trat an, mit dem Ziel die Zahl der Armutsgefährdeten zu halbieren. Das ist nicht passiert. Heute befinden sich 177.000 Personen mehr in dieser prekären Lage. Das berechnete jüngst das Momentum Institut.
Oben höhere Vermögen, unten höhere Armut
“Wir leben in einem wohlhabenden Land, in dem es den Menschen gut geht”, sagt Leitner-Cincelli. Es stimmt: Die privaten Vermögen in Österreich wachsen – aber vor allem bei den eh schon Reichen. Zwischen Ende 2010 und Mitte des vergangenen Jahres konnten die reichsten 5 Prozent in Österreich ihr Vermögen verdoppeln. Von 513 Milliarden Euro auf mehr als eine Billion Euro. Dagegen besitzt die gesamte untere Hälfte, mehr als vier Millionen Haushalte, pro Kopf nur 17.680 Euro. Die Vermögenskonzentration ist innerhalb der 20 Länder der Eurozone nur in Lettland größer.
In ihrer Rede steigert Jeitler-Cincelli an einer Stelle noch einmal die Tonlage: “Es stirbt niemand an Unterernährung in Österreich, im Gegenteil: Der Body Mass Index steigt”, sagt sie. Spätestens jetzt wird es zynisch – und vor allem falsch. Forschung und Umfragen zeigen: Gerade Menschen, die ärmer sind, leiden häufiger an Übergewicht. Sich gesund und ausgewogen zu ernähren, muss man sich leisten können. Frische Zutaten kosten Geld, der Hamburger bei McDonald’s kostet dagegen nur 1,40 Euro.
Nur noch den zu essen, empfahl ÖVP-Bundeskanzler Karl Nehammer in seiner skandalösen Rede allen Menschen, die sich ihre Lebensmittel kaum mehr leisten können. Und das sind viele: Im vergangenen Jahr waren rund zwölf Prozent der Menschen in Österreich von Ernährungsarmut betroffen. 420.000 Menschen mussten Mahlzeiten unfreiwillig ausfallen lassen oder hatten den ganzen Tag nichts zu essen. Darüber sollten wir reden, nicht über angeblich zu hohe Löhne.