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Kapitalismus

Mehrwertsteuerbetrug: "Das Ausmaß ist gigantisch!"

Foto zeigt Gabriel Felbermayr, der in einem Hörsaal stehend eine Frage aus dem Publikum beantwortet.
Foto zeigt Gabriel Felbermayr, der in einem Hörsaal stehend eine Frage aus dem Publikum beantwortet.
Es klingt absurd: Die EU erwirtschaftet mit sich selbst einen Exportüberschuss von mehr als 300 Milliarden Euro pro Jahr. Der Ökonom Gabriel Felbermayr schlägt Alarm: Er ortet Mehrwertsteuerbetrug im großen Stil. Die EU-Staaten würden jährlich um bis zu 60 Milliarden Euro Steuern geprellt.

„Man darf das nicht als Kuriosität abtun“, warnt der Ökonom Gabriel Felbermayr in einer Studie, die Zündstoff enthält. Denn diese belegt, dass die EU-Länder beim Handel untereinander auf dem Papier viel mehr exportieren als sie importieren. Die Lücke in der Bilanz ist für ihn Beleg, „dass es in erheblichem Ausmaß Mehrwertsteuerbetrug gibt“, sagt er zu MOMENT. Die Masche laufe seit Jahrzehnten. Die Steuerbehörden wüssten darüber Bescheid, tun aber nichts dagegen. Erstmals wird nun das gesamte Ausmaß des Betrugs klar: Mit dem sogenannten Mehrwertsteuerkarussell konnten Unternehmen die EU-Länder in den vergangenen 13 Jahren um 370 Milliarden Euro an Steuereinnahmen prellen. Auch Österreich gehört zu den Verlierern. Wie der Betrug funktioniert und was zu tun ist, erklärt Felbermayr im Interview.

MOMENT: Die EU erwirtschaftet einen Handelsüberschuss mit sich selbst. Wie kommt denn sowas zustande?

Gabriel Felbermayr: So einen Überschuss dürfte es gar nicht geben, denn die Zahlen müssten sich ausgleichen. Was ein EU-Land in ein anderes exportiert, müsste dort als Import aufscheinen. Die Summe aller Exporte innerhalb der EU und die Summe aller Importe sollten sich aufs Gleiche ausgehen. Natürlich gibt es bei Statistiken immer auch Messfehler, aber über alle Länder hinweg müsste es sich dennoch im Durchschnitt wieder auf null ausgehen. Das sehen wir aber nicht. Wir sehen über viele Jahre hinweg systematische Abweichungen.

MOMENT: Wie hoch ist dieses Defizit?

Felbermayr: Im Jahr 2018 fehlen 307 Milliarden Euro in der Bilanz. Diese Größenordnung lässt sich mit statistischen Fehlern oder damit, dass geringwertige Güter verschickt werden, die unter die Berichtsgrenze fallen, nicht erklären. Übrig bleibt der Verdacht, dass es in erheblichen Ausmaß Mehrwertsteuerbetrug gibt. Der durchschnittliche Steuersatz in den EU-Ländern beträgt rund 20 Prozent. Damit kommen wir auf einen potenziell möglichen Steuerausfall von 60 Milliarden Euro. Das ist ein Fünftel bis ein Sechstel des österreichischen BIPs.

MOMENT: Müsste sich das nicht relativ einfach beweisen lassen, sofern die Behörden dem auch nachgehen?

Felbermayr: Absolut! Das Ausmaß ist ja gigantisch. Und sorry, das Umsatzsteuerthema ist vielen Behörden bekannt. Die wissen, dass da Betrug stattfindet. Aber jetzt ist einmal die Größenordnung klar. Wenn der Verdacht nur teilweise zutrifft, müssen die Steuerbehörden jetzt beginnen, der Sache nachzugehen. Es ist gerechtfertigt, große Maßnahmen zu ergreifen.

Die Mehrwertsteuer wird erstattet, wurde aber vorher nie bezahlt

MOMENT: Wie funktioniert dieser systematische Steuerbetrug?

Felbermayr: Man nennt es Mehrwertsteuerkarussell. Exporte in ein anderes Land sind von der Mehrwertsteuer befreit. Kommen die Waren im Zielland an, müssten sie dann dort besteuert werden. Nun kommt diese in Europa gern betriebene Masche ins Spiel. Ein Unternehmen im Ausland wird als Käufer einer Ware angegeben, dabei fällt keine Mehrwertsteuer an. Das Unternehmen im Ausland verkauft diese Ware an einen Komplizen im eigenen Land weiter und müsste dafür eigentlich Mehrwertsteuer abführen, tut das aber nicht.

Wenn die Steuer eingetrieben werden soll, ist das Unternehmen plötzlich verschwunden. Der Komplize verkauft die Ware zurück über die Grenze an die Firma, von der sie ursprünglich kam. Dabei bekommt er die Mehrwertsteuer erstattet. Die Mehrwertsteuer wurde aber nie gezahlt, weder im Ausgangsland noch im Zielland. Alle drei Akteure arbeiten zusammen. Zentral dabei ist, dass ein Unternehmen dafür verschwinden muss. Aber unsere These ist, dass das in 95 Prozent der Fälle gar nicht notwendig ist, weil die Länder ihre Daten untereinander nicht abgleichen. Es geht viel simpler.

MOMENT: Wie denn?

Felbermayr: Tarnt ein Unternehmen einen Umsatz im Inland als Exportgeschäft, muss es auch keine Mehrwertsteuer zahlen. Da braucht es keine dritte Firma mehr. Die Ware wird in der Exportstatistik verbucht, bleibt aber im Inland. Eine Transaktion wird also fehldeklariert. Ob die als Empfänger deklarierte Firma existiert oder nicht, spielt keine Rolle, da es nicht geprüft wird. Das könnte diesen Überschuss erklären.

Wenn man prüft, würde man dem auf Schliche kommen. Aber das findet nicht statt.

MOMENT: Sie sagen, das Problem sei den Behörden lange bekannt. In ihrer Studie schreiben Sie, dass Mehrwertsteuerbetrug seit 1993 betrieben wird. Warum ist dieses Schlupfloch noch immer offen?

Felbermayr: Wenn man tatsächlich nachprüft, ob die Mehrwertsteuer abgeführt wurde, dann würde man dem auf die Schliche kommen. Aber das findet nicht statt. Wir empfehlen einen elektronischen Abgleich. Jedes Exportgeschäft müsste zwingend mit einem Import auf der anderen Seite verknüpft werden. Immer dann, wenn keine Mehrwertsteuer gezahlt wird, müssen die roten Lampen aufleuchten und die Steuerfahndung losgeschickt werden. Und das schnell. Dieser Betrug wird über Briefkastenfirmen abgewickelt, die sehr schnell wieder verschwinden. Man braucht also ein Verfahren, dass sehr schnell greift. Es darf nicht sein, dass die Behörden die Umsatzsteuer erstatten und erst danach merken, dass die vorher gar nicht gezahlt wurde.

MOMENT: Über die vergangenen 13 Jahre ergeben sich sogar 370 Milliarden Euro Verlust an Steuereinnahmen, haben Sie errechnet. Wie kann es sein, dass so etwas nicht bemerkt wird?

Felbermayr: Dass das schon so systematisch und lange existiert, ist zum ersten Mal dokumentiert. Das war so noch nicht bekannt. Was wir vielleicht mit dieser Arbeit anstoßen können, ist, dass die Steuerbehörden sehr viel genauer hineinleuchten und sehen, was da wirklich abläuft. Denn selbst wenn es entgegen unserer Einschätzung nicht auf Steuerbetrug zurückzuführen ist, wäre es höchst aufklärungsbedürftig. Denn dann ist etwas anderes faul. Mithilfe dieser Handelsbilanzen werden auch viele andere Dinge berechnet, zum Beispiel das BIP oder auch die Höhe der EU-Beiträge.

MOMENT: Auch andere Regionen der Welt erzeugen Exportüberschüsse mit sich selbst, aber nicht in diesem Ausmaß. 86 Prozent der weltweiten Überschüsse fallen in der EU an. Warum ist das hier so ausgeprägt?

Felbermayr: Es ist viel lukrativer, das in Europa zu machen als in den allermeisten anderen Ländern der Welt. Manche EU-Länder haben Mehrwertsteuersätze von 25 Prozent. Dazu kommt: Wir haben keinen Zoll, sondern den europäischen Binnenmarkt. Wir erfassen den Handel innerhalb der EU nicht mehr durch Zollpapiere oder den Zöllner, der an der Schranke sitzt und die Waren überprüft. Andere Regionen haben, wenn überhaupt, Freihandelsabkommen, verzichten aber nicht auf Zollkontrollen. Es gibt einen weiteren Hinweis darauf, dass hier Betrug mit der Mehrwertsteuer betrieben wird: Wenn man sich die Export-Geschäfte anschaut, die früher innerhalb Europas aber außerhalb der Zollunion getätigt wurden, zum Beispiel von Österreich nach Ungarn und umgekehrt. Seit die osteuropäischen Länder der Zollunion beigetreten sind, sind die Handelsüberschüsse hier gestiegen.

MOMENT: Wieviel fehlt den einzelnen Ländern im Steuersackerl und welche verlieren besonders viel?

Felbermayr: Das eine ist: Die Export-Überschüsse sind besonders hoch in Ländern mit einer gemeinsamen Landgrenze, also zum Beispiel zwischen Polen und Deutschland und nicht so sehr zwischen Deutschland und Portugal. Das andere ist: Kleine Länder sind anfällig dafür, auch zentral gelegene Länder fallen auf. Luxemburg sticht heraus und interessanterweise auch Schweden. Dort ist die Mehrwertsteuer besonders hoch und das könnte dann auch besonders ausgenutzt werden. Wo die Verluste bei den Steuereinnahmen am größten sind, ist nicht so klar. Es sind eher Länder, die große Importüberschüsse haben. Österreich liegt in der Mitte, was die Verluste angeht.

MOMENT: Wäre die Lösung der Weg hin zu einer Steuerunion, um die Masche zu bekämpfen?

Felbermayr: Das ist eine Forderung von uns. Wir müssen nicht so weit gehen, Steuern auf EU-Ebene einzuheben. Aber es wäre wirklich notwendig, dass wir automatische Kontrollmechanismen einführen. Man könnte auch erst die Mehrwertsteuer erstatten, wenn der Beleg darüber vorliegt, dass sie im anderen Land gezahlt wurde. Man sollte nichts rückerstatten, wenn noch unklar ist, ob ein Geschäft überhaupt so stattgefunden hat. Der Kern ist, schnell Informationen auszutauschen. Es darf nicht Monate dauern, das zu prüfen, weil sich dann die Unternehmen bereits in Luft aufgelöst haben.

Wir wissen von der Cum-Ex-Affäre, dass auch große Firmen dabei mitmachen.

MOMENT: Und wer sollte da jetzt aktiv werden: Die EU-Kommission oder die einzelnen Staaten?

Felbermayr: Das Problem in Europa ist, dass wir keine einheitliche Statistik haben. Wir haben zwar Eurostat, die Daten einsammeln. Aber Eurostat sind die Hände gebunden. Wenn die bemerken, dass etwas nicht zusammenpasst, können sie diese Missstände nicht abstellen. Da braucht es die Mitarbeit der nationalen Statistikämter. Eurostat braucht stärkere Sanktionsrechte, um durchzugreifen, wenn nötig.

MOMENT: Nutzen eher große Konzerne oder kleinere Unternehmen dieses Mehrwertsteuerkarussell aus?

Felbermayr: Wahrscheinlich sind es doch eher kleinere Unternehmen. Die großen werden stärker kontrolliert. Zumindest theoretisch: Wir wissen ja von anderen Fällen wie der Cum-Ex-Affäre, bei der Banken Milliarden an Steuern hinterzogen haben, dass auch größere Firmen dabei mitmachen.

Zur Person: Gabriel Felbermayr, geboren 1976 in Steyr, ist Präsident des Instituts für Weltwirtschaft im deutschen Kiel und Professor für Volkswirtschaftslehre an der dortigen Universität. Von 2010 bis 2019 war er Leiter des ifo Zentrum für internationale Wirtschaft der Universität München, wo er ebenfalls als Professor tätig war. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist internationale Handelspolitik.

 

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