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Demokratie

Ende der „Leit-Kultur“: Die ÖVP hat eine Identitätskrise

Die Silhouette eines Mannes, der ein Blasinstrument spielt.
Die ÖVP findet ihre Rolle nicht - und wird immer mehr zum Einzelkämpfer in ihrem Kulturkampf.
„Tradition statt Multikulti. Das ist für die Leit-Kultur“. Über dieses neue und wieder zurückgezogene Sujet der ÖVP wurde schon viel gesagt. Ein paar Anmerkungen sind trotzdem noch notwendig.

Was als Erstes auffällt: „Multikulti“ – wirklich jetzt? Die FPÖ aus dem Jahr 2015 möchte bitte ihren Haudrauf-Kulturkampf zurückhaben. Es ist beachtlich, dass es der dumpfe Spruch auf ein Sujet der ÖVP geschafft hat. Multikulti als Schreckgespenst wirkt fast schon antiquiert. Es wurde doch längst von „woke“ oder „Asylchaos“ abgelöst. Vor „Multikulti“ fürchtet sich eigentlich niemand mehr.

Ein Wahlkampf-Sujet der ÖVP. Es zeigt Männer beim Maibaumaufstellen. Titel: "Tradition statt Multikulti"

„Multikulti“ wirkt fast schon aus der Zeit gefallen. Mittlerweile hat die ÖVP das Sujet gelöscht, der Bindestrich bei Leit-Kultur ist verschwunden. Foto: ÖVP/Screenshot

Als Nächstes müssen wir über diese missglückte zweite Zeile reden. Eine Grundregel lautet „Wenn man einen Witz nicht sofort erkennt, dann gib ihn nicht auf ein Sujet.“ Das nur scheinbar gewitzte Wortspiel mit Leute, Leit und Leitkultur funktioniert nicht. Das ist handwerklich einfach sehr schlecht. Noch dazu, weil man Angst vor dem eigenen Witz hatte und diesen Bindestrich hinzugefügt hat.

Wo will die ÖVP eigentlich hin?

Drittens, und das ist vielleicht das Beachtliche, zeigt dieses Sujet eine völlige Orientierungslosigkeit der aktuellen ÖVP-Führung. Die vergangenen Wochen ging man ungewohnt scharf auf Kickl los und betitelte ihn als „rechtsextrem“. Nun ist die Frage, was die ÖVP glaubt, was Kickl „rechtsextrem“ macht. Richtig: Es ist die Ideologie und es ist die Sprache. Mit diesen Sujets übernimmt man in der ÖVP 1:1 die Sprache der FPÖ. Was glaubt man denn jetzt genau, was man ist?

Es widerspricht auch viertens der eigenen Neupositionierung als „Mitte“. In der Woche davor hat man noch groß getönt, dass man die einzige Partei der Mitte sei. Hart arbeitende, brave Menschen, die das Land am Laufen halten. Pfleger:innen, Pädagog:innen, Supermarkt-Angestellte und all die vielen Freiwilligen von Kirchengemeinderat über Fußballtrainer:innen zur Freiwilligen Feuerwehr. Dieses Bild versucht die ÖVP zu zeichnen und für sich zu beanspruchen. Aber was glaubt die ÖVP, wer beim örtlichen Fußballverein trainiert oder trainiert wird? Nur die Sebastians und Noras – oder doch auch die Ferhats und Milenas? 

Die ÖVP tut den Menschen am Land unrecht

Das Sujet tut fünftens nämlich nicht nur denen unrecht, die als „andere Kultur“ markiert werden, sondern schlicht den Lebensrealitäten am Land. Die Landbevölkerung ist um einiges vielfältiger, als diese überspitzte Darstellung zeigt. Gerade in Bereichen, die als „Mitte“ gemalt werden, ist das “böse” Multikulti längst normale Realität. 

So ist es auch kein Wunder, dass just der Blasmusikverband als erster eine klare Distanzierung ausspricht. Man will von der Politik nicht als Objekt eines Kulturkampfes benutzt werden. 

Und wenn der Blasmusikverband nichts mit deiner ÖVP-Politik zu tun haben will –  dann bist du ein sehr einsamer Kulturkämpfer. 

Was kommt nach der Kurz-Lücke?

Diese ganze Episode zeigt zum wiederholten Male: Die ÖVP hat keine Idee, wer sie nach Sebastian Kurz überhaupt ist. Soll sie weitermachen mit dem radikalisierten Konservatismus? Oder doch versuchen, sich als stabile „Mitte-Kraft“ zu präsentieren? Im Moment macht die ÖVP keines von beiden so wirklich. Sie fährt einen Zickzack-Kurs, der mehr so wirkt, als wären wir eine große Fokusgruppe, die mit widersprüchlichen Botschaften beschossen wird. 

Wir erleben gerade eine massive politische Ratlosigkeit und daraus folgende Sinnkrise der Kanzlerpartei. Das gab es schon einmal. Das Resultat war Sebastian Kurz.

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