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Ungleichheit

Pflegende Angehörige: "Es muss immer jemand da sein. Das muss man einfach schaffen!"

Angehörige leisten einen Großteil der Pflege in Österreich, und das weitgehend unbemerkt und kaum honoriert. "Ich bin mir extrem alleingelassen vorgekommen", sagt eine von ihnen. Eine Studie des Momentum Instituts zeigt: Die Mehrheit der Menschen in Österreich wird in ihrem Leben Angehörige pflegen. Wir haben mit Menschen gesprochen, deren Alltag vor allem daraus besteht, für die hilfsbedürftigen Großeltern, den Papa, die Mama, die Ehefrau, den Mann oder ihr schwer erkranktes Kind da zu sein.

Es ist der Satz, der immer wieder fällt: „Ich bin mir extrem alleingelassen vorgekommen“, sagt Carina Stocker im Gespräch mit MOMENT. Die junge Frau pflegte zuerst ihre Großmutter mütterlicherseits und leistete für sie Sterbebegleitung. Jetzt kümmert sie sich um die Mama ihres Vaters.

Um halb fünf steht sie auf, wäscht und pflegt die schwer demente Großmutter, gibt ihr das Frühstück. Danach weckt sie ihre Kinder, macht sie bereit für den Kindergarten und bringt sie um sieben Uhr dorthin, damit sie um acht in der Arbeit sein kann.

Die 34-Jährige aus Rannersdorf in Niederösterreich ist selbst Krankenpflegerin. „Zum Glück konnte ich mit meinem Arbeitgeber vereinbaren, weniger zu arbeiten und später zu kommen“, sagt sie. Auch ihr in Vollzeit arbeitender Mann unterstützt sie bei der Pflege der Großmutter. Sonst wäre es für sie nicht zu schaffen.

Zwei Drittel aller Menschen werden Angehörige pflegen

Angehörige leisten einen Großteil der Pflege in Österreich, und das weitgehend unbemerkt und kaum honoriert. Fast eine Million Menschen erbringen wie Carina Stocker täglich unersetzliche Pflegearbeit für ihre Großeltern, für die Mama oder den Papa, für die Ehefrau oder den Mann, für ihre schwer erkrankten oder beeinträchtigten Kinder.

Fast 42 Prozent aller BezieherInnen von Pflegegeld werden ausschließlich von ihren Angehörigen gepflegt. Das geht aus einer Kurzstudie des Momentum Instituts hervor. Bei 80 Prozent helfen Angehörige zumindest bei der Pflege mit. Und: Die Wahrscheinlichkeit selbst einmal einen Angehörigen zu pflegen beträgt 65 Prozent.

Wenn sie nur einen Tag lang aussetzen, dann würde das Pflegesystem zusammenbrechen.
Birgit Meinhard-Schiebel, Präsidentin IG Pflege

Zwei Drittel aller Menschen in Österreich werden sich also im Laufe ihres Lebens intensiver um Angehörige kümmern. Die Studie wirft einen Blick auf diese immer größer werdende Gruppe, die in Zukunft immer mehr Aufgaben schultern wird.

„Wenn die Angehörigen nur einen Tag lang aussetzen, dann würde das Pflegesystem zusammenbrechen“, sagt Birgit Meinhard-Schiebel, Präsidentin der Interessengemeinschaft pflegender Angehöriger. „Wenn die sagen, sie können oder wollen das nicht leisten, bleiben die Pflegebedürftigen unversorgt“, sagt sie zu MOMENT.

 
Anteil Angehöriger an Pflege - Grafik zeigt die die Betreuungsformen von PflegegeldbezieherInnen im Vergleich. 41,8% werden ausschließlich von Angehörigen gepflegt, 32,2% nützen einen mobilen Pflegedienst, 16,4% werden stationär gepflegt und 5,4% nutzen die 24-Stunden-Betreuung.

Denn mobile Dienste und Pflegeheimplätze gebe es schlichtweg nicht ausreichend. Aus Sicht von Meinhard-Schiebel haben pflegende Angehörige keine echte Wahl, ob sie das machen wollen oder nicht. „Eine freiwillige Entscheidung gibt es nicht“, sagt sie. Angehörige müssen einfach!

Unser ganzes Leben drehte sich um die Frage: Wann muss wer zuhause bleiben und sich um den Papa kümmern?
Branka Glisic, pflegende Angehörige

„Wir sind da so reingewachsen“, sagt Branka Glisic zu MOMENT. 20 Jahre hat sie sich gemeinsam mit ihrem Verlobten um ihren Vater gekümmert. Zunächst waren es nur kleine Handreichungen, Hilfe beim Duschen etwa. Zuletzt war es ein Job neben ihrem eigentlichen Job als Pflegerin auf der Intensivstation eines Krankenhauses.

„Unser ganzes Leben in den letzten vier Jahren drehte sich nur noch um die Frage: Wann muss wer zuhause bleiben und sich um den Papa kümmern?“, sagt die 40-Jährige aus Kottingbrunn in Niederösterreich. Ihr Denken kreiste nur darum: „Es musste immer jemand da sein. Das musste man einfach schaffen. Das war uns gar nicht so bewusst.“ Im März dieses Jahres verstarb Glisics Vater, zuhause. 

In nur einem EU-Land leisten investieren Angehörige mehr Zeit in Pflege

Die Daten zeigen: Angehörige zu pflegen ist in Österreich für viele beinahe ein Fulltime-Job. Durchschnittlich 27 Stunden wenden Frauen, die Familienmitglieder pflegen, wöchentlich dafür auf. Bei Männern sind es 22 Stunden. Bei besonders pflegeintensiven Personen wie dem Vater von Branka Glisic geht die Betreuung praktisch rund um die Uhr.

Im EU-Vergleich ist das wöchentliche Ausmaß an Stunden, das pflegende Angehörige leisten, in Österreich am zweithöchsten. Nur in Polen sind es noch mehr. Dafür verteilt sich die Last der Pflege auf verhältnismäßig wenige Schultern: Derzeit pflegen 10 Prozent aller Menschen hierzulande Angehörige. Zum Vergleich: In Frankreich sind es fast 35 Prozent.

 
EU-Vergleich Verteilung der Arbeitsbelastung. Grafik zeigt, dass in Österreich ähnlich wie Portugal und Bulgarien wenige aber intensiv-pflegedürftige Menschen betreut werden.

Und die Last ist auch ungleich zwischen den Geschlechtern verteilt. 12 Prozent der Frauen pflegen Angehörige und 8 Prozent der Männer. Und: Je zeitaufwändiger und intensiver die Pflege ist, desto eher sind es Frauen, die sie leisten.

Die anderen Verwandten haben sich auf mich verlassen. Die haben erwartet, dass ich mich kümmere.
Carina Stocker, pflegende Angehörige

In der Familie von Carina Stocker war es keine Frage: Sie war und ist für die Pflege ihrer beiden Großmütter zuständig: „Die anderen Verwandten haben sich auf mich verlassen. Die haben erwartet, dass ich mich kümmere“, sagt sie. Und sie selbst erwartete das auch von sich: „Ich hing sehr an der Großmama, für mich war es eine emotionale Verpflichtung, mich zu kümmern.“

Laut Meinhard-Schiebel entscheiden sich Angehörige vor allem aus zwei Gründen dafür zu pflegen. Zum einen „haben viele das Gefühl, man muss das machen, weil man etwas zurückgeben muss“, sagt sie. „Daneben hat man eine gute Beziehung zueinander und will helfen.“ Stocker erfüllte ihrer Großmutter auch den letzten Wunsch: Daheim sterben zu dürfen und nicht in einem Krankenhaus.

Wenig Hilfe, kaum AnsprechpartnerInnen für pflegende Angehörige

Zugang zu staatlichen Stellen oder Organisationen, die ihr bei der Sterbebegleitung geholfen hätten, gab es nicht. „Am Tag als sie verstarb, habe ich versucht jemanden zu erreichen, der mir hilft“, sagt sie. Schon vorher hätte sie sich Informationen gewünscht, auch für ganz praktische Fragen: „Wo kann ich mich hinwenden, wenn sie ein Pflegebett braucht.“

Stocker telefonierte immer wieder herum, um die Sachen zu besorgen, die die Großmutter brauchte. Und oft dachte sie sich: „Wenn das mir als Krankenpflegerin schon so schwerfällt, dann ist es für Leute, die nicht vom Fach sind, ja noch schwieriger.“

Daran bin ich kläglich gescheitert.
Carina Stocker

Die Pflegeagentur der 24-Stunden-Betreuung sei für sie nie greifbar gewesen und half nicht weiter, sagt Stocker. Die Agentur versprach ihr zwar, sich darum zu kümmern, dass das Pflegegeld erhöht wird und wollte Anträge auf Unterstützung für pflegende Angehörige einreichen.

„Aber das ist alles erst nach dem Tod der Großmutter passiert und war dann nicht mehr gültig“, sagt sie. „Dann haben wir auch nichts bekommen.“ Leistungen, die ihr und der Großmutter möglicherweise zugestanden hätten einzufordern, „daran bin ich kläglich gescheitert“, sagt Stocker über sich.

Wer pflegt, zahlt drauf

Überhaupt die Finanzen: Für Stocker und für Glisic ist es ein großes Wirrwarr mit vielen Stolpersteinen und Ungerechtigkeiten. Glisic hatte einmal über Pflegekarenz nachgedacht. „Aber da ist man nicht einmal versichert, bekommt keine Unterstützung“, sagt sie und fragt: „Wer kann sich das heutzutage leisten?“ Eine Pflegefachkraft damit zu betrauen, konnte die Familie auch nicht stemmen.

Praktisch habe ich dem Staat 2.000 Euro erspart.
Branka Glisic

Weil der Vater dann bei ihnen gewohnt hat, zahlte er selbst keine Miete mehr. „Und ich habe mit ihm natürlich keinen Mietvertrag vereinbart.“ Die Folge: Aus Sicht des Amtes hatte der Mindestpensionist plötzlich mehr Einkommen zur Verfügung und war nicht mehr von Rezeptgebühren befreit.

Weil der Vater viele Medikamente einnehmen musste, war das eine Menge Geld. „Wir konnten uns das zwar leisten, aber praktisch habe ich dem Staat so 2.000 Euro erspart“, sagt Glisic. Um die Pflegearbeit zu bewältigen, musste sie beruflich zurückstecken. „Wegen dem Papa und der Kinder bin ich dann in Teilzeit gegangen.“

Wer Pflegearbeit leistet, muss beruflich zurückstecken

Und damit ist sie in Österreich nicht allein, wie die Zahlen der Momentum-Studie zeigen: 28 Prozent aller Personen, die ein Familienmitglied pflegen, reduzieren ihr Arbeitspensum oder geben den Beruf ganz auf. Von den weiblichen pflegenden Angehörigen gehen 29 Prozent daneben noch einem bezahlten Beruf nach, bei den Männern sind es 52 Prozent.

 
Beruf neben Pflege von Angehörigen. Grafik zeigt, dass nur 29% der Frauen, die pflegend tätig sind zusätzlich einen bezahlten Beruf ausüben. Bei Männern liegt der Anteil bei 52%.

Angehörige zu pflegen ist für viele Auslöser früher in Pension zu gehen als geplant. Insgesamt sind rund die Hälfte aller pflegenden Angehörigen in Pension. Schwierig ist es vor allem für Mütter in der mittleren Altersgruppe. Sie müssen zuerst Kinder betreuen, dann pflegebedürftige Angehörige.

Damit steigt die Gefahr, dass sie bis zur Pensionierung überhaupt nicht mehr Fuß am Arbeitsmarkt fassen. Jede zehnte Person, die Angehörige pflegt, ist arbeitslos oder bezeichnet sich selbst als erwerbsunfähig.

Ich sitze oft da, bin todmüde, kann aber auch nicht schlafen.
Carina Stocker

Am Abend, erzählt Carina Stocker, „sitze ich oft da, bin todmüde, kann aber auch nicht schlafen“. Sie versucht dann, ihre eigenen Sachen aufzuarbeiten, die tagsüber liegen geblieben sind, während sie sich um die Großmutter gekümmert hat. „Ich empfinde es gerade als sehr belastend“, sagt sie.

In ihrer eigenen Arbeit hat sie selbst viel Kontakt mit pflegenden Angehörigen, rät ihnen sich Zeit für sich zu nehmen und Psycho-Hygiene zu betrieben, sagt sie. „Aber ich merke, dass ich das selber nicht schaffe.“

Die größte Belastung ist die psychische. Das powert die Menschen total aus und macht sie fertig.
Birgit Meinhard-Schiebel

„Die größte Belastung ist die psychische“, sagt Birgit Meinhard-Schiebel. Wer Angehörige pflege, sei mental immer damit konfrontiert. „Ich kann nicht einfach den Schalter umlegen und sagen, das interessiert mich nicht. Das powert die Menschen total aus und macht sie fertig“, sagt sie.

Mehr als ein Drittel ist niedergeschlagen oder depressiv

Die Momentum-Studie zeigt, dass pflegende Angehörige psychisch stärker belastet sind. Mehr als ein Drittel der pflegenden Angehörigen, 36 Prozent, berichten von Niedergeschlagenheit bis hin zu Depressionen. Bei den nicht pflegenden Personen ist es weniger als ein Viertel. Pflegende Angehörige sind häufiger angespannt als der Rest der Bevölkerung. Ob das ursächlich mit der Pflegearbeit zusammenhängt, ist allerdings nicht klar.

 
Psychische Belastung für pflegende Angehörige. Pflegende Angehörige fühlen sich etwas öfter angespannt als Nicht-Pflegende. Beide Gruppen leiden gleich stark unter Einsamkeit. 36% der pflegenden Angehörigen fühlen sich niedergeschlagen oder depressiv, während dies nur auf 24% der Nicht-Pflegenden zutrifft.

Stocker hat an sich bemerkt: „Ich bin angespannter, ich habe weniger Geduld mit meinen Kindern“, sagt sie. „Das frustriert mich.“ Aber trotz aller belastenden Momente und des schwierig zu meisternden Alltags: „Im Nachhinein würde ich es nicht anders machen.“

Wenn ich nachhause kam, hat immer jemand auf mich gewartet: der Papa nämlich.
Branka Glisic

Branka Glisic und ihr Verlobter, die sich bis zuletzt gemeinsam um ihren Vater kümmerten, seien oft gefragt worden, „warum wir das weiter machen“. Doch weder für das Paar noch für ihre zwei Kinder kam es infrage, den Vater in ein Pflegeheim zu geben: „Auch wenn es extrem mühsam war – wenn ich nachhause kam, hat immer jemand auf mich gewartet: der Papa nämlich.“

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