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Demokratie

Polen in der Corona-Krise: "Wir sind kein Rechtsstaat mehr"

Trotz des Coronavirus soll Polen am 10. Mai einen Präsidenten wählen. "Das ist verfassungswidrig, es ist rechtswidrig und sittenwidrig", sagt Bartosz Wieliński von der oppositionellen Zeitung Gazeta Wyborcza. Aber: Es sei für die regierende PiS die einzige Chance, dass Andrezj Duda erneut gewinnt. Sein Verdacht: Die Regierung halte die Coronavirus-Zahlen künstlich niedrig, um die Wahlen durchzuziehen.
Der alternde PiS-Chef Jarosław Kaczyński ist noch immer der Strippenzieher im Land. „Aber er entfernt sich von der Realität“, so Wieliński zu MOMENT. Sebastian Kurz habe als einer der wenigen EU-PolitikerInnen Klartext mit Polen geredet – allerdings auch aus Kalkül: Weil er mit der FPÖ koalierte, galt er als „einer der Verdächtigen, die sich auch von der Rechtsstaatlichkeit verabschieden könnten“.

MOMENT: Polen hat in der Coronavirus-Pandemie scharfe Ausgangsbeschränkungen erlassen. Die Präsidentschaftswahlen im Mai sollen aber trotzdem stattfinden. Wie passt das denn zusammen?

Bartosz Wieliński: Das passt gar nicht zusammen. Das ist verfassungswidrig, es ist rechtswidrig und sittenwidrig. Aber die Regierung versucht mit aller Kraft diese Wahlen durchzusetzen. Denn im Moment ist das die einzige Möglichkeit, Andrzej Duda für eine zweite Amtsperiode durchzubekommen. Die Wirtschaftskrise ist in Sicht, Polen wird davon schwer getroffen werden. Die Regierung hat aber alle Geldreserven in Dudas erster Amtszeit ausgegeben. Die Kasse ist leer. Und dann wird die Zustimmung zur PiS (Prawo i Sprawiedliwość, auf Deutsch: Partei Recht und Gerechtigkeit) deutlich sinken. Aber wenn sie jetzt wählen lassen, wird Duda im ersten Wahlgang gewinnen.
 

MOMENT: Der Oppositionspolitiker Borys Budka sagte, die Regierung wolle „über Leichen zum Ziel“. Ist diese Wortwahl gerechtfertigt?

Wieliński: Sie ist in dem Sinne gerechtfertigt, dass derzeit die Zahl der Toten und Angesteckten ständig steigt. Wenn jetzt Wahlen stattfinden sind die gefährdet, die das durchführen müssen. Sie könnten das Virus auch weiterverbreiten. Die Zahl der Kontakte ist sehr groß. Ich will nicht sagen, die bisherigen Statistiken sind gefälscht, aber sie entsprechen nicht dem wahren Bild. Die Zahlen sind wohl viel höher. Seit März wurden so viele Tests gemacht wie in Deutschland in drei Tagen. Der Verdacht ist, dass die Zahlen bis zur Wahl künstlich niedrig gehalten werden sollen.

MOMENT: Wegen der Gefahr, sich mit dem Coronavirus anzustecken, soll ausschließlich per Brief gewählt werden. Was halten Sie von dieser Idee?

Wieliński: Das ist nicht zu schaffen, alle wissen das. Das fängt bei den Briefkästen an: Im ganzen Land gibt es 14.500 davon. Wie sollen damit 30 Millionen dieser Pakete mit Wahlunterlagen rechtzeitig zugestellt und zurückgeschickt werden? Vorher war die PiS immer gegen Briefwahlen. Ihre Hauptklientel, die älteren Wähler, geht am Sonntag in die Kirche und danach zur Wahl. Per Brief wählen eher die Wähler anderer Parteien. Aber Jarosław Kaczyński sagt: Die Wahlen müssen stattfinden. Für ihn wäre jedes Zugeständnis eine Kapitulation. Also lieber so als gar nicht.

MOMENT: Polen hat Präsident Duda und Ministerpräsident Mateusz Morawiecki. Dennoch wirkt PiS-Chef Kaczyński weiterhin wie der Chef und Strippenzieher. Stimmt das?

Wieliński: Ja! Das Problem ist: Er wird immer älter und entfernt sich von der Realität. Selbstverständlich ist er kein Diktator wie aus den 30er Jahren, was manche meinen würden. Er ist kein blutrünstiger Autokrat. Kaczyński glaubt aber, dass die Regierung von niemanden behindert werden sollte, weder von Verfassungsorganen noch der Justiz oder unabhängigen Medien. Das ist undemokratisch. Aber weil er kurz vor der Pension steht, ist er radikal, übereilt und ungeschickt. Man spürt, dass Kaczyński als einziger das Sagen hat. Keiner ist imstande, sich zu widersetzen. Aber er verliert den Kontakt zur Bevölkerung.

MOMENT: Worin sehen Sie, dass Kaczyński die Realität aus den Augen verliert?

Wieliński: Ihn interessiert nicht, was im Land los. Anfang April war der 10. Jahrestag des Flugzeugunglücks von Smolensk. Da herrschte Epidemie-Notstand, Versammlungen waren verboten. Doch Kaczyński hat eine gemacht. Er hat gezeigt: Ihn geht es nicht an, was verboten ist oder nicht. Für ihn spielt das keine Rolle. Kaczyński ist eine starke Persönlichkeit, die Polen geprägt hat. Er ist eines der wenigen großen politischen Talente unserer Geschichte. Aber sein Abgang wird auch das Ende des politischen Projekts der PiS sein. Die Rechten werden sich zersplittern. Es fragt sich nur, wann das sein wird und wie sehr bis dahin die Demokratie beschädigt ist.

MOMENT: Steigt deshalb der Widerstand der Bevölkerung gegen ihn?

Wieliński: In der Zeit der Coronavirus-Pandemie steigt für alle Regierungen in Europa die Beliebtheit. Auch Sebastian Kurz ist jetzt noch mehr die Nummer Eins als vorher schon. Wenn sich alles normalisiert, wenn die Folgen sichtbar werden, dann wird das anders. Die Frage ist, ob die Regierung die Lage jetzt nutzen wird, die Opposition anzugreifen, zum Beispiel die Gazeta Wyborcza und andere Medien. Die Regierung schaltet Inserate in der Presse, in denen sie über Maßnahmen informiert, außer bei uns. Wir bekommen nichts. Ich schließe nicht aus, dass sie versuchen uns zu versenken. Dasselbe spürt man bei den NGOs. Anders als in Ungarn tagt aber zumindest das Parlament noch.

MOMENT: Ist Polen noch ein Rechtsstaat?

Wieliński: Nein, wir sind kein Rechtsstaat mehr. Die Urteile des Verfassungsgerichts wurden nicht wahrgenommen. Der europäische Vertrag wurde gebrochen und die polnische Verfassung. Findet die Wahl so statt, wird der Präsident nicht legal an der Macht sein. Polen würde kein Staatsoberhaupt mehr haben. Jedes Gesetz, das er unterschreibt, würde nicht gültig sein. Selbst Viktor Orbán, der Vorreiter des Abbaus der Demokratie in Europa, ging nicht so weit.

MOMENT: Der Europäische Gerichtshof hat Polen verurteilt wegen der Disziplinargesetze gegen die eigene Justiz. Wird das überhaupt wahrgenommen?

Wieliński: Die Regierung lässt dieses Urteil jetzt verfassungsrechtlich prüfen. Und sie haben in dieser Woche schon gesagt, dass der EuGH keine Möglichkeit habe, die polnische Justiz zu beeinflussen. Die Frage ist, was die EU damit anfängt. Unser Problem heißt Ursula von der Leyen. Die neue EU-Kommissionspräsidentin wollte einen milden Kurs mit Polen fahren. Und wieder kam die EU keinen Schritt voran. Sie sagte, die Staaten im Osten sollten nicht belehrt werden. Aber hier geht es nicht um Geschmacksfragen wie Kleidung odeer die Farbe der Schuhe. Es geht um fundamentale Werte der EU: Demokratie Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte. Da kann es keine Kompromisse geben. Die EU zeigt Schwäche, wenn sie nicht fähig ist, Länder wie Polen und Ungarn zu überzeugen, sich an die europäischen Verträge zu halten.

MOMENT: Polen ist derzeit größter Nettoempfänger. Warum Zahlungen nicht auch einmal aussetzen, um Druck zu machen? Ist das eine Option oder schürt das nur Anti-EU-Stimmung?

Wieliński: Die Anti-EU-Stimmung ist eine Ausrede für die, denen es unangenehm ist zu handeln. Die Stimmung der Polen gegenüber der EU ist trotz der Regierung sehr positiv. Sie waren immer immun gegen die Anti-EU-Propaganda staatlicher Medien und der Politik. Ministerpräsident Morawiecki sagte, Polen in der Corona-Krise kein Geld von der EU bekommen. Eine glatte Lüge. Wir haben sieben Milliarden Euro erhalten. Die PiS hat immer davon profitiert, dass die EU viel geredet, aber nie konkret gehandelt hat. Es sollte nicht ignoriert werden, dass es hier eine Partei gibt, die konsequent Demokratie abbaut und sich teilweise wie ein Regime aus der dunklen Zeit Europas verhält.

MOMENT: In Polen soll jetzt das Abtreibungsgesetz noch weiter verschärft werden. Warum handelt Polen hier immer rigider?

Wieliński: Die Verschärfung der Abtreibung beschäftigt Polen seit Beginn der 3. Republik. Als die PiS das im Parlament debattieren ließ, gingen in ganz Polen Frauen in schwarzer Kleidung auf die Straßen um zu demonstrieren. PiS war erschrocken und hat das zurückgezogen. Jetzt braucht PiS aber jede Unterstützung. Die Kirche will das noch weiter verschärfen. Also lässt sie die Debatte darüber zumindest zu. Das verschärfte Abtreibungsgesetz ist im Ausschuss des Parlaments. Es gibt aber keine Frist dafür, das abzuarbeiten. PiS wird das so lange wie möglich herauszögern. Es wird nicht wagen, sich mit den Frauen anzulegen.

MOMENT: Handelt PiS also auch hier aus Kalkül. In diesem Fall, um die Kirche hinter sich zu bekommen?

Wieliński: Die Regierung ist stark verbandelt mit der Kirche und die Kirche lässt sich politisch instrumentalisieren. Die Kirche hat das nicht umsonst. Sie bekommt eine Menge Geld. Sie hat viel Einfluss, steht im Rampenlicht. Wichtige Politiker kommen zu kirchlichen Feierlichkeiten. Im letzten Wahlkampf hat man tatsächlich Politiker der PiS in den Kirchen Reden halten lassen Als gläubiger Katholik sehe ich das sehr kritisch. PiS hat eine Wende in Sittenfragen ermöglicht.

MOMENT: Sebastian Kurz sucht den Kontakt zu den Staaten der Visegrád-Gruppe. Wie sehen Sie seine Rolle?

Wieliński: Kurz war deutlicher als viele Vertreter anderer großen Staaten. Er hat zumindest Klartext gesprochen: Rechtsstaatlichkeit ist für ihn kein Spielzeug für Kompromisse. Es hat einen Grund, warum er so gehandelt hat. Wegen der Koalition mit der FPÖ stand er auf der Liste der Verdächtigen, die sich auch von der Rechtsstaatlichkeit verabschieden könnten. Man hat gesehen, wie auf die Geheimdienste Einfluss ausgeübt wurde und auf den ORF. Das ähnelte sehr dem, was in Polen schon davor geschehen ist. Die FPÖ strebt auch danach, den Staat so umzubauen wie Ungarn und Polen. Kurz‘ Worte waren deshalb deutlich, das war geschickt.

MOMENT: Handelt Kurz also als einer der wenigen PolitikerInnen in Europa richtig – und wenn auch aus dem Kalkül heraus, nicht allzu sehr selbst als EU-Feind dazustehen?

Wieliński: Zumindest hat Kurz hier klare Kante gezeigt. Er ist auch kein Alliierter von Kaczyński. Es gab nach der Wahl von ihm zum Bundeskanzler hier die Hoffnung, dass Österreich das 5. Land der Visegrád-Gruppe werden könnte. Kurz ist zum Beispiel in der Flüchtlingsfrage anders als Merkel und denkt eher wie die osteuropäischen Länder. Aber Kurz hat dennoch Abstand gehalten, er ist nicht nach Polen gekommen. Auch Präsident Van der Bellen war nicht hier. Für Polens staatliche Medien war übrigens immer Norbert Hofer der Hoffnungsträger. Die Berichte aus Österreich waren immer pro Hofer. Van der Bellen wurde dabei immer als Linker und Kommunist bezeichnet. Das war schon außergewöhnlich.

 
Porträtfoto von Batorsz T. Wieliński.

Credit: Agencja Gazeta

Zur Person: Bartosz Wieliński (geboren 1978) leitet die Außenpolitik-Redaktion der Gazeta Wyborza in Warschau. Er war 2005 bis 2009 politischer Korrepondent seiner Zeitung in Berlin.

 

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