“Polywork”: Wie der Kampf ums Überleben romantisiert wird
„Polyworking“ kommt als Begriff gerade auf – bislang vor allem in den USA, in Foren und verteilt über Soziale Medien. Es soll ein neuer Trend am Arbeitsmarkt sein, wo Menschen nicht mehr nur einen, sondern mehrere Jobs gleichzeitig haben. Das geht vom sogenannten „Side hustle“ (also Nebenerwerb) bis hin zu mehreren Vollzeit-Jobs. Dieses Phänomen ist nicht neu. Der Begriff und die Präsentation aber schon.
“Polywork” ist kein “Trend”, sondern Überlebenskampf
Es ist vor allem ein aktueller Beitrag, der sich zu diesem Thema stark verbreitet. Ein Unternehmer und Blogger schreibt auf der Plattform des US-Magazins “Forbes”. Die Menschen würden “polyworken”, um mehr Flexibilität zu haben, um die persönliche Erfüllung zu finden und – Achtung, kein Scherz -, um das Risiko eines Burnouts durch monotone Routinen zu verringern.
Tatsächlich ist es ein Artikel auf Forbes, aber kein Artikel von Forbes. Es handelt sich um ein Advertorial. Gegen Geld kann man bei Forbes Beiträge veröffentlichen, die praktisch genau so aussehen, als wären sie redaktionell auf Forbes erschienen. Das Magazin verkauft seine Glaubwürdigkeit an Zahlungswillige, die ihrer PR den Anschein von Seriosität geben wollen. So tut es auch hier ein “Motivational Speaker”, der hofft vielleicht demnächst damit auf Kongressen vor begeisterten Manager:innen über seinen Trendbegriff sprechen zu können.
Das macht ihn natürlich nicht weniger zu Bullshit. Eine kurze Recherche zeigt, warum Menschen tatsächlich mehrere Jobs machen. Spoiler: Burnout-Prävention zählt nicht dazu. Das Outsorcing-Unternehmen Paychex befragte über 1.000 Amerikaner:innen und schreibt: „Einwohner von Küstenstädten, von denen viele auch die teuersten Städte der USA sind, scheinen sich viel eher für Polywork zu interessieren als Einwohner von Städten in der Mitte des Landes.“ Wer hätte das gedacht? Könnte es also vielleicht sein, dass das Leben für viele Menschen mit “nur” einem Vollzeitjob in teuren Gegenden nicht mehr finanzierbar ist?
Das lassen zumindest die Antworten auf die Frage „Welche Konsequenzen würdest du erwarten, wenn du nicht mehreren Jobs nachgehen würdest?“ vermuten. 42 % sagen, dass sie umziehen müssten. 41 % könnten mit der Inflation nicht Schritt halten. 34 % müssten wieder bei den Eltern einziehen. 34 % müssten Mitbewohner:innen suchen. 32 % könnten Schulden nicht bezahlen. 24 % könnten nicht mehr für ihre Familie sorgen. 22 % könnten ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen. 20 % könnten sich die Schule nicht mehr leisten. 17 % müssten ihr Auto verkaufen.
Kurz: Ohne mehrere Jobs geht den Menschen das Geld aus.
Menschen mit mehreren Jobs fühlen sich häufiger ausgebrannt und gestresst
Mehrere Jobs zu haben – so selbsterklärend das scheint, muss es an dieser Stelle offenbar doch erwähnt werden – senkt auch absolut nicht das Risiko eines Burnouts. In der Umfrage geben 29 % der „Polyworker“ an, sich ausgebrannt zu fühlen. 27 % fühlen sich gestresst. Unter den Menschen mit “nur” einem Job fühlen sich „nur“ 21 % ausgebrannt und 22 % gestresst. 43 % mit einem Job fühlen sich inspiriert. Unter den Polyworkers sind es nur 34 %. 69 % der Menschen mit einem Job fühlen sich produktiv. Bei den Polyworkers sind es nur 44 %.
Menschen mit nur einem Job geben auch häufiger an, ihre Arbeit mit Hingabe zu machen und ihren Job zu mögen. Polyworker sagen hingegen fast doppelt so oft, dass sie in einem anderen Job gesünder wären.
Von „Working Poor“ zu „Polyworking”: Die Romantisierung von Erbwerbsarmut
Die Blogbeiträge von Unternehmer:innen, „Personal Branding“-Expert:innen und Co. romantisieren, was für viele ein bitterer Kampf ist. Ein Kampf darum, das Leben zu finanzieren, weil ein Job dafür oft nicht mehr reicht. Weil mit 40 Stunden hackeln die Woche nicht genug rumkommt, um Miete, Lebensmittel und Energie für sich selbst und die Familie zu bezahlen.
Im Englischen nennt man dieses Problem „working poor“ – wenn man trotz Erwerbsarbeit arm ist. Erwerbsarmut wird es im deutschsprachigen Raum genannt. Und es betrifft auch viele Menschen in Österreich. 2023 waren in Österreich 316.000 Menschen davon betroffen.
Denn die Preise ziehen den Löhnen und Gehältern davon. Vertreter:innen von Wirtschaft und Industrie sowie Neoliberale schieben die Schuld an der hohen Inflation trotzdem gerne den Arbeitnehmer:innen und den vermeintlich hohen Lohnabschlüssen in die Schuhe. Zeitgleich fahren Konzerne und Banken Rekordgewinne ein. Die Reichsten werden noch reicher und die Ärmeren noch ärmer.
Diese Romantisierung mehrerer Jobs passt ins Bild. Sie schiebt wieder einmal mehr Verantwortung zu den Arbeitnehmer:innen. Speist wieder einmal das Märchen der totalen Eigenverantwortung.
Lassen wir das nicht zu. Nehmen wir Politik, Wirtschaft und Industrie in die Verantwortung und fordern eine Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, die das Leben für die Vielen wieder leistbar macht – mit einem Job.