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Fortschritt
Kapitalismus

Preston: Wie eine Stadt gegen den Kapitalismus kämpft

Preston: Wie eine Stadt gegen den Kapitalismus kämpft
Das britische Preston will wirtschaftlich nicht länger von globalen Investoren und Unternehmen abhängig sein. Öffentliche Aufträge werden gezielt an lokale Unternehmen und Kooperativen vergeben, die "soziale Werte" schaffen, und nicht nur Gewinne für sich.

Für Neil McInroy ist es eine Frage des Hausverstands. „Warum sollte das Geld der österreichischen SteuerzahlerInnen an große globale Unternehmen gehen, die auf den Cayman Islands sitzen und hier keine Steuern zahlen?“, fragt er in die Runde. Hausverstand, „Common Sense“, wie es der Brite wörtlich nennt, sei es hingegen, dass die öffentliche Hand ihr Geld so investiert, „dass Österreich und Europa etwas davon haben, und nicht irgendwelche Anteilseigner, die keinen Bezug haben zu Ihrem Land“.

McInroy sitzt an einem der zahlreichen Versammlungstische, die in einer Halle der ehemaligen Glanzstoff-Fabrik in St. Pölten aufgebaut sind. Hier läuft gerade eine Konferenz, die die Zukunft der Arbeit bespricht. Aus ganz Europa sind TeilnehmerInnen angereist und stellen ihre Projekte vor. McInroy ist an diesem Tag einer der gefragtesten Gäste. Er begleitet in Preston im Nordwesten Englands ein Programm, bei dem städtische Investitionen und öffentliche Aufträge vermehrt an Unternehmen vergeben werden, die auch dort ansässig sind.

Das beginnt für McInroy schon beim Schulessen: „Es ist Wirtschaften mit Hausverstand, die Kartoffeln für die Kantinen hier bei uns zu besorgen und nicht aus dem Ausland“, sagt er zu MOMENT. Wenn die Stadt Aufträge vergibt, „geht es nicht nur darum, was am günstigsten ist, sondern was uns den besten sozialen Mehrwert bringt“, sagt McInroy.

Wer Mindestlohn zahlt, bekommt den Auftrag

„Sozialer Mehrwert“, das bedeutet für McInroy, dass Unternehmen bevorzugt werden, die wenigstens Mindestlöhne zahlen und in denen das Verhältnis zwischen den niedrigsten und höchsten Gehältern nicht höher als 20:1 ist; Unternehmen, die Jobs in der Region schaffen, ihre Angestellten weiterbilden, junge Menschen ausbilden und die versuchen, ihren Ausstoß von Treibhausgasen zu minimieren. All das fließt in ein Punktesystem ein, das neben Preis und angebotener Qualität den Ausschlag gibt, wer öffentliche Aufträge erhält. Und: „Wir motivieren dazu, Kooperationen zu gründen, die von den dort arbeitenden Menschen getragen werden“, sagt McInroy.

Das Ziel: „Der erzeugte Wohlstand soll in den Gemeinden und bei den einzelnen Menschen ankommen“ und dürfe nicht nur in den Bilanzen globaler Unternehmen und Investoren auftauchen, sagt McInroy. Anstatt globale Investoren und multinationale Unternehmen in die Stadt zu locken, die dann ihre Gewinne wieder mitnehmen, sollten lokale Firmen und Kooperationen, die von den dort arbeitenden Menschen getragen werden, zum Zuge kommen.

Das „Prestoner Modell“ ist inzwischen Vorbild für viele andere Gemeinden in Großbritannien. Es sollte die darniederliegende Wirtschaft der 140.000-Einwohner-Stadt in der Grafschaft Lancashire wieder in Schwung zu bringen. Preston wollte dabei nicht mehr abhängig davon sein, ob ein großes Unternehmen sein Versprechen, in der Stadt zu investieren nun hält oder sich doch zurückzieht.

700 Millionen sollten investiert werden – dann kam die Finanzkrise

Denn genau das war geschehen: 2011 platzte der 700 Millionen Pfund (umgerechnet 816 Millionen Euro zum damaligen Kurs) schwere Plan, das Zentrum der alten Industriestadt komplett umzubauen. Prestons weithin bekannter Busbahnhof im Stil des Brutalismus aus den 60er Jahren – von den einen verehrt, von anderen gehasst – sollte dafür abgerissen werden. Doch infolge der 2008 ausgebrochenen Finanzkrise zogen sich die Geldgeber zurück. „Das Projekt war tot und uns war klar, dass die Investoren nicht kommen werden“, sagt McInroy.

 
Neil McINroy

Neil McInroy vom Thinktank CLES. // Foto: Lisa Wölfl

Gleichzeitig kürzte die konservative Regierung in London ihren Kommunen die Budgets, auch Preston. Schon vorher gehörte die zu den ärmsten Gemeinden Großbritanniens. Jetzt wurde es dramatisch. „Wir mussten uns fragen, wie wir die Wirtschaft entwickeln, mit dem, was wir selbst haben“, sagt McInroy. Die Stadt machte einen Kassasturz bei sieben seiner größten Einrichtungen: Dem Pensionsfonds, der Stadt- und der Grafschaftverwaltung, der Polizei, dem Krankenhaus, der Universität und der größten Wohnungsgenossenschaft.

Dabei kam heraus: Von den 750 Millionen Pfund – umgerechnet rund 900 Millionen Euro –, die von diesen „Anker-Institutionen“ ausgegeben wurden, flossen magere 5 Prozent in die Wirtschaft der Stadt, nur 39 Prozent blieben in der örtlichen Grafschaft Lancashire. Der Rest, 450 Millionen Pfund, ging an Unternehmen außerhalb.

„Die Stadt hat gesagt, dort müssen wir ansetzen. Wir müssen mehr lokale Firmen beteiligen“, erklärt McInroy. Doch einfach so und freihändig große Aufträge an ein Unternehmen zu vergeben, nur weil es seinen Sitz in Preston hat, das ging nicht. Denn Vergabegesetze schreiben aus guten Gründen vor, solche Aufträge landes- oder EU-weit auszuschreiben. Doch inzwischen erlaubten die Gesetze auch, die „sozialen Werte“ als Kriterien zu berücksichtigen.

Kleine Firmen stechen globale Unternehmen aus

„Wir ermutigten lokale Firmen an diesen Auftragsvergaben teilzunehmen“, sagt McInroy. Sie halfen den Unternehmen, sich durch das Dickicht der Formulare zu wühlen. Das Ergebnis: „Kleine lokale Unternehmen konnten große Firmen von außerhalb bei den Vergaben ausstechen.“

Im Sommer dieses Jahres legte McInroys Thinktank Centre For Local Economic Strategies (CLES) eine Analyse darüber vor, was sich in Preston seit Start des Programms getan hat: 18 Prozent der von den „Anker-Institutionen“ investierten Gelder gingen inzwischen in die Wirtschaft der Stadt. In den Jahren 2012 und 2013 waren es 38,3 Millionen Pfund, fünf Jahre später bereits 112,3 Millionen Pfund. Sogar fast 80 Prozent der Gelder werden nun in Lancashire ausgegeben.

Anstatt Geld am Kapitalmarkt anzulegen, investierte der Pensionsfonds der Stadt 100 Millionen Pfund in die lokale Wirtschaft. Unter anderem um das ehrwürdige Park Hotel aus dem Jahr 1883 wieder in Betrieb zu nehmen und leistbare Appartments für Studierende zu bauen. Die Zutaten für das Essen in den Schulkantinen kommen nun von Höfen in Familienbesitz.

Prestons neue Markthalle: Starbucks bleibt draußen

Und auch das Stadtzentrum wurde inzwischen erneuert. Allerdings nicht nach den Plänen von 2011, die vor allem auf große Handelsketten abzielten. „Es gibt jetzt eine neue Markthalle mit lokal ansässigen Geschäften und Produkten aus der Region“, sagt McInroy. Exemplarisch: An sechs verschiedenen Ständen kann man sich dort einen Kaffee kaufen, aber eine Filiale der drei namhaftesten Kaffeehausketten der Welt findet man nicht.

In der Stadt wurden 1.600 neue Arbeitsplätze geschaffen. „Dazu verdienen jetzt 4.000 Menschen mehr als vorher den lebensnotwendigen Mindestlohn“, sagt er. Generell stieg das Lohnniveau. Und: Preston schaffte es heraus aus dem unteren Fünftel der ärmsten Gemeinden in Großbritannien. Im Jahr 2016 wurde sie zur besten Stadt zum Leben und Arbeiten im Nordwesten Englands erwählt

 
Preston Markt

Markthalle in Preston.

Auch Labour-Chef Jeremy Corbyn ist ein Fan. Der „Economist“ nannte Preston eine Modellstadt für „Corbynomics“ – also den von Labour verfolgten Plan, die britische Wirtschaft umzukrempeln. Neil McInroy beschreibt es so: „Wir glauben, dass öffentliche Dienstleistungen wie Krankenpflege, Parkverwaltung und Müllentsorgung vom Staat bereitgestellt werden sollen.“

Briten haben genug von privatisierten Dienstleistungen

In Großbritannien wurden öffentliche Dienstleistungen vom Eisenbahnverkehr bis hin zu Schulkantinen und sogar Stadtverwaltungen seit den 1980er Jahren in besonders starkem Maße privatisiert. Besser wurden sie dadurch nicht unbedingt, allenfalls profitabel für die Betreiber. Und wenn es aus dem Ruder lief, musste der Staat einspringen. So wie im seit 2011 privat betriebenen Gefängnis von Birmingham, dass vom Betreiber „G4S“ heruntergespart wurde. Nach einer Revolte der Gefangenen und Berichten über grassierende Gewalt, Drogenkriminalität und zu Dumpinglöhnen beschäftigten Wärtern wurde es 2018 rückverstaatlicht.

Das „Prestoner Modell“ trifft den Nerv großer Teile der Bevölkerung. 84 Prozent der Briten wollen ihre Gesundheitsversorgung in staatlicher Hand sehen. Sechs von zehn Briten haben genug von den teuren und unzuverlässigen privat betriebenen Eisenbahnen. Eine Mehrheit will wieder mit Wasser und Strom aus öffentlicher Hand versorgt werden. Das ergab eine YouGov-Umfrage im Jahr 2017. In Preston stimmten die Menschen mehrheitlich für den Brexit. Für den EU-Austritt wurde auch mit dem Versprechen getrommelt, wieder selbstbestimmter entscheiden und wirtschaften zu können und nicht mehr schutzlos der Globalisierung ausgesetzt zu sein.

Wenn wir nichts ändern, werden wir untergehen. Unsere Form des kapitalistischen Wirtschaftens hat uns auch zum Klimanotstand gebracht.
Neil McInroy, Centre for Local Economic Strategies

Kritiker sehen hier allerdings eine Form des Protektionismus. „Hier wird kein Mehrwert geschaffen“, sagte Colin Talbot, Staatswissenschaftler an der Cambridge Universität, dem „Economist“. Jedes Pfund, das jetzt in Preston investiert werde, fehle dann schlicht in anderen Gegenden. Eine lokal begrenzte Wirtschaft würde der Produktivität wegen verringerter Skaleneffekte schaden. Ein wirtschaftlicher Abschwung würde sich schlimmer auswirken, glaubt Talbot.

McInroy widerspricht der Kritik, sein Modell sei protektionistisch. Für ihn ist vielmehr der sogenannte freie Markt „ein Mythos“. Einen freien Markt, in der jeder gleiche Chancen habe, gebe es gar nicht. „Die Wirtschaft, wie sie heute ist, schützt globale Unternehmen und Investoren und fördert, öffentliche Dienstleistungen auszulagern und zu privatisieren„, sagt er.

Profitieren würden davon aber die Unternehmen und deren Anteilseigner. Soziale Probleme blieben dagegen ungelöst. Löhne zu erhöhen und zu versuchen, Geld umzuverteilen reiche allein nicht mehr aus, um Ungleichheiten zu bekämpfen, so McInroy. „Wir müssen darüber nachdenken, wer unsere Wirtschaft besitzt. Das können Sie jetzt Sozialismus oder was auch immer nennen“, sagt er. Für ihn steht fest: „Wenn wir nichts ändern, werden wir untergehen. Unsere Form des kapitalistischen Wirtschaftens hat uns auch zum Klimanotstand gebracht.“

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