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Ungleichheit
Kapitalismus

"Uns fehlt Raum, Zeit und Energie" – was in Österreichs Psychiatrien schief läuft

Frau sitzt an einem Fenster in der Psychatrie.
Den stationären Psychiatrien in Österreich fehlt es an Personal, Raum und Zeit. Das verschärft die Gewalt, die dort herrscht.

Filmliebhaber:innen erinnern sich: In “Einer flog übers Kuckucksnest” spielt Jack Nickolson einen exzentrischen Häftling, der eine psychische Erkrankung vortäuscht, um in eine Nervenheilanstalt zu kommen. Die Tragikomödie zeichnet ein düsteres Bild der Psychiatrie als totalitäre Institution – von der Zwangsmedikation über Elektroschocks bis hin zum Suizid eines Patienten. Der Film aus dem Jahr 1975 prägt noch heute die Vorstellung der stationären Psychiatrie: Von unmündigen Kranken, die einem unbarmherzigen Zwangssystem ausgeliefert sind.

“Kuckucksnester haben wir heute keine mehr”, sagt Georg Psota, Chefarzt der psychosozialen Dienste in Wien, die im Gegensatz zur stationären Psychiatrie ambulante Behandlungsmethoden anbieten. Seit seinem Berufseinstieg als Psychiater in den 1980er-Jahren habe sich in den Kliniken “viel Positives getan”. Er selbst habe sie noch miterlebt, die “ganz anderen Zeiten”, als Gewalt auf den Stationen an der Tagesordnung war. “Es wird immer Ungustln geben, aber der Großteil des Personals will nicht mehr autoritär sein”, sagt er. Dennoch muss auch Psota zugeben: “Es läuft immer noch viel schief.”

Psychiatrie in Österreich: Zwangseinweisungen sorgen nach wie vor für Konflikte

Seit 2008 kommt es in Österreich jährlich zu über 20.000 “Unterbringungen”, der juristische und etwas harmlose Begriff für eine Zwangseinweisung. Diese Zahl hat sich seit 1990 verdreifacht – die Tendenz bleibt steigend. Wenn jemand gegen seinen oder ihren Willen in einer Psychiatrie untergebracht wird, bleibt das nicht immer konfliktfrei. Das 1991 erlassene “Unterbringungsgesetz” soll jedenfalls regeln, dass Patient:innen in diesem Prozess menschenwürdig behandelt werden und nur “untergebracht” werden, wenn sie eine Gefahr für sich oder ihre Mitmenschen darstellen. Außerdem wird ihnen dadurch ein Patient:innenanwalt und eine mündliche Verhandlung vor Ort ermöglicht. So weit, so rechtens – aber dabei bleibt es oft nicht.

“Bei einem Drittel aller Unterbringungen kommt es zu sogenannten weitergehenden Bewegungsbeschränkungen”, sagt Patient:innenanwalt Bernhard Rappert vom Verein VertretungsNetz, der für den Rechtsschutz psychisch erkrankter Menschen in Österreich verantwortlich ist. Damit meint er zum Beispiel Isolation durch Einsperren oder auch Fixierungen am Bett. Maßnahmen, die von Patient:innen in einer Befragung des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie als “entwürdigend” und “sehr belastend” empfunden wurden. Die Betroffenen sprechen auch von Zwangsmedikation, was sie im Wortlaut “Niederspritzen” und “mit Tabletten vollstopfen” nennen.  Das klingt nicht unbedingt nach einem geläuterten Psychiatriemodell, sei aber laut Georg Psota nicht immer zu vermeiden: “Es gibt teilweise extreme Gewalt gegenüber den Pflegekräften”, erklärt er. Manchmal bleibe keine andere Möglichkeit, um das Personal vor den Patient:innen oder die Patient:innen vor sich selbst zu schützen.

Dass Gewalt von Patient:innen ausgeht, hält Patient:innenanwalt Rappert allerdings für ein durch das System selbst verursachtes Problem. “Eine Psychiatrie braucht Platz, die Menschen brauchen einen Rückzugsort.” Wird das nicht gewährleistet, führe das zu Stress – und der wiederum zu Konflikten. Außerdem braucht es Zeit für Beziehungsarbeit. Dafür ist mehr Personal nötig. Die Psychiatrie brauche keine teuren Geräte, sondern Menschen, sagt Rappert.

Patientin Laura: “Die Pfleger:innen haben mich immer wieder retraumatisiert”

Diesen “Stress” erfuhr auch die 32-jährige Studentin Laura* aus Graz. Im vergangenen Juli geht sie freiwillig auf die stationäre Psychiatrie, weil sie die traumatischen Folgen einer Vergewaltigung erlebt. Dort wird ihr das Leben allerdings nur noch schwerer gemacht, wie sie heute erzählt. “Das begann damit, dass sie mich auf eine gemischtgeschlechtliche Station gebracht haben.” Ihren dreiwöchigen Aufenthalt auf der offenen Station beschreibt sie als “durchwegs retraumatisierend”.

Laura wird bei Visiten vom ständig wechselnden Personal immer wieder auf die Ursache ihres Aufenthaltes angesprochen. Einen Rückzugsort, wie Rappert ihn fordert, findet sie nie. Als MOMENT die Klinik in Graz mit Lauras Vorwürfen konfrontiert, weist sie das ab:  “Weitere Befragungen nach der Aufenthaltsursache haben nicht stattgefunden”, heißt es. “Es war mir klar, dass die sich herausreden werden”, sagt Laura.

Subtiler Zwang in Psychiatrien: “Wenn du zu diskutieren anfängst, hast du verloren.”

Neben fehlendem Platz klagt Laura auch über fehlende Zeit. “Ich hab mich da total vernachlässigt gefühlt”, sagt sie. Anfangs bekommt sie kaum Informationen über den Tagesablauf in der Klinik, Therapie wird ihr erst nach einigen Tagen und mehrmaligen Nachfragen gewährt. Oft wird auf Lauras Beschwerden nur mit “das ist halt bei uns so” geantwortet. “Ich hab mich durchwegs unverstanden gefühlt”, sagt sie. Wenn Laura eine Anweisung verweigert, wird ihr sogar mit Ausgangsverbot gedroht. Sie bekommt auch vom Gespräch eines anderen Patienten mit, in dem es heißt: “Wenn du so weitermachst, kommst du auf die Geschlossene.”

Formen von psychischer Gewalt beschreiben auch die Teilnehmer:innen einer Befragung durch österreichischen Psychiater:innen. “Du musst die Anforderungen, die der Pfleger oder der Arzt dir aufoktroyiert, umsetzen. Wennst zu diskutieren anfängst, hast verloren”, beschreibt ein Patient. Ein anderer berichtet davon, dass Grundbedürfnisse wie Wasser verweigert werden, wenn er Befehle nicht befolge: “Wenn man so spurt, wie die das wollen, kriegt man schon den Liter Wasser oder eben: ‘jetzt nicht.’”

Patient:innenanwalt Rappert hält solche Drohungen für rechtswidrig: “Viele Menschen lassen sich zu etwas überreden, was sie vielleicht gar nicht wollen, weil sie auf der Psychiatrie einem System gegenüberstehen, das stärker ist. Wird dabei psychischer Druck ausgeübt, dann sei das mit einer Zwangsmaßnahme gleichzusetzen und muss eigentlich einem Gericht gemeldet werden.”

Psychiatrie in Österreich: Fehlende Ressourcen bedeuten schlechtere Behandlung

Obwohl er sich im Interview selbst als “Kritiker der stationären Psychiatrie” ausweist, nimmt Dr. Psota das dortige Personal dennoch in Schutz: “Wir brauchen einfach dreimal so viel Pflegepersonal und doppelt so viel Ärzte”, sagt er. In der knappen Zeit, die das Personal bei einem kurzzeitigen Klinikaufenthalt für die Patient:innen übrig habe, könne keine gesunde Beziehung entstehen. Auch eine Studie belegt: Großzügigere Personalschlüssel führen im Endeffekt zu weniger freiheitsbeschränkenden Maßnahmen und somit auch zu weniger Gewalt – egal, von welcher Seite sie ausgeht. Aufgrund der belastenden Arbeitsbedingungen auf der Psychiatrie fehlen laut Psota aber das Personal und somit die Schlösser, damit diese Schlüssel greifen.

Kinder- und Jugendpsychiatrie: “Der größte psychiatrische Missstand”

Besonders gravierend ist das Problem auf der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Laut Rappert werden immer noch Kinder auf Erwachsenenpsychiatrien verlegt, weil gerade in diesem Sektor Personal und Infrastruktur fehlt. “Es gibt einfach keine Pädagog:innen dort.” Das sei rechtswidrig, gefährlich und bringe teils gravierende Konsequenzen mit sich. Rappert erzählt von einer 15-Jährigen, der gegen ihren Willen ihre private Kleidung von einem männlichen Security-Team ausgezogen wurde. “Dabei wurde dieses Mädchen in der Kindheit mehrfach sexuell missbraucht.” Auf der Kinder- und Jugendpsychiatrie wäre das nicht passiert.”

Was Rappert als den “größten psychiatrischen Missstand Österreichs” bezeichnet, ist ein schon lange ein offenes Geheimnis. Weil vor allem die Pandemie psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen weiter verschärfte, läuten die Alarmglocken aber jetzt lauter als zuvor. Mildernde Maßnahmen gibt es allerdings nicht, ganz im Gegenteil: Erst vergangene Woche berichtete der STANDARD, dass eine Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hietzing/Wien fortan am Wochenende aufgrund des Personalmangels zusperren muss. Das bedeutet für alle dort stationierten Minderjährigen: Verlegung oder Entlassung.

Ohne Personal wird keine Besserung eintreten. “Die Krankenhausträger sagen, na gut, wir stellen 20 Betten zur Verfügung, aber dann lassen sich keine Psychiater:innen finden.” Das liege aber nicht nur an der mangelnden Motivation junger Ärzt:innen und Pfleger:innen: “Wenn ich so ein mangelhaftes System betreibe, wo es einfach keine Freude macht, zu arbeiten, ist dieser Personalmangel aus meiner Sicht hausgemacht”.

PSD-Leiter Psota zur Psychiatrie-Krise: “Schaut euch endlich die Zahlen an!”

Aber wie soll in Zukunft eine menschenwürdige Versorgung in der Psychiatrie gewährleistet werden, wenn kein Personal dafür bereitsteht? Es gibt zumindest Alternativen, die Hoffnung machen. Psota verweist auf das Pilotprojekt “Home Treatment”, das die psychosozialen Dienste seit einem Jahr testen.

Kinder und Jugendliche werden dabei im Rahmen ihrer Familien für einen längeren Behandlungszeitraum in ihrem direkten Lebensumfeld betreut. Entsprechend dem Standard der Kinder- und Jugendpsychiatrie setzen sich die Home-Treatment-Teams aus Expert:innen verschiedenster Bereiche zusammen und bieten laut Psota damit wichtige Therapievielfalt. Auch ambulante Vereine wie EXIT-Sozial in Linz oder die “Integrierte Versorgung” in Salzburg fangen Fälle ab, die die stationäre Psychiatrie nicht mehr tragen kann. Bei letzterem Modell spricht Rappert von einem Rückgang von 70% bei der stationären Aufenthaltsdauer. Das gilt allerdings nicht für Schwerkranke, die auf langfristige stationäre Versorgung angewiesen sind.

Dass von solchen Alternativen hauptsächlich leichter Erkrankte profitieren, beobachtet Psota schon länger. Auch Psychotherapeut:innen wirft er Rosinenpicken vor – eine leichte Verstimmung sei nun mal leichter zu behandeln als Schizophrenie. Damit sich das ändert, appelliert Psota an die Gesellschaft und sagt: “Schaut auch endlich die Zahlen an.” Er verweist darauf, dass die Depression laut Prognosen im Jahr 2030 die häufigste Krankheitsursache in Industrieländern sein wird. Bereits jetzt benötige jede:r vierte Jugendliche psychosoziale Versorgung.

Für Psota ist klar: Psychische Erkrankungen lösen bereits eine weltweite Gesundheitskrise aus. Wer in Zukunft Wahlen gewinnen will, sollte also Ressourcen für die Psychiatrie bereitstellen.

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