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Demokratie

Karl Nehammer, die Hamburger und die rohe Bürgerlichkeit: Vernünftige Grausamkeiten

Karl Nehammer, die Hamburger und die rohe Bürgerlichkeit: Vernünftige Grausamkeiten
Karl Nehammer zieht gegen arme Kinder vom Leder und die ÖVP verteidigt es. Alles nur ein Ausrutscher? Oder doch Teil einer Weltsicht? Natascha Strobl analysiert die rohe Bürgerlichkeit im Kanzleramt.

Für den großen deutsche Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer ist rohe Bürgerlichkeit das „Zusammenspiel von glatter Stilfassade, vornehm rabiater Rhetorik sowie autoritären, aggressiven Einstellungen und Haltungen. Sie findet ihren Ausdruck in einem Jargon der Verachtung gegenüber schwachen Gruppen und der rigorosen Verteidigung bzw. Einforderung eigener Etabliertenvorrechte im Duktus der Überlegenheit.“

Wer sich hinter diesem akademischen Satz noch nicht viel vorstellen kann, dem lieferte Karl Nehammer kürzlich ein Paradestück für rohe Bürgerlichkeit.
 

Die scheinbaren Opfer der rohen Bürgerlichkeit

Dabei geht es nicht nur um die Abwertung armer Familien, sondern auch um die gegenseitige Versicherung der eigenen Überlegenheit. So animierte Nehammer seine Zuhörer:innen mit der rhetorischen Frage: „Und wer zahlt das alles?“

Die Antwort gibt er auch gleich: „Wir! Wir zahlen das“. Und damit waren vor allem die anwesenden Unternehmer:innen gemeint. Endlich einmal sagt wer, wer die wahren Opfer sind: reiche Unternehmer:innen, die vom Kanzler zum intimen Talk in einer teuren Weinbar eingeladen sind.
 

Besserwisserei von oben

In dieser Weltsicht sind arme Menschen eine Last, die man irgendwie halb durchfüttern muss. Aber das Geld, mit dem der Sozialstaat betrieben wird, wird als das Eigene gesehen. Subventionen hingegen sind eine notwendige und korrekte Förderung von Leistungsträger:innen. Es ist also nur schlimm, wenn andere und nicht man selbst Geld vom Staat bekommt.

Wenn man dieser Logik folgt, dann liegt es auch an den „Leistungsträgern“, den anderen, also den armen Nichtleistungsträger:innen, Bedingungen zu diktieren, unter welchen sie zu diesem Geld der Leistungsträger kommen können. Dementsprechend kann man ja wohl verlangen, dass Kinder eine warme Mahlzeit bekommen. Sollen sie halt zum McDonalds gehen oder eines der vielen tollen günstigen 1 1/2-Stunden-Rezepte kochen, die der Kurier so hilfreich abdruckte. Oder eben Erdäpfel mit Butter essen, wie die Chefredakteurin des Kuriers bei „Im Zentrum“ wusste. 

Unbegreifliche Lebensumstände

All diese Vorschläge fußen auf der Annahme, dass arme Menschen einfach zu blöd sind. Sie bräuchten das Mentoring der reichsten Menschen der Bevölkerung. Schau, so günstig ist ein Hamburger! Schau, wenn du am Tag drei Stunden aufbringst, kannst du gesunde Mahlzeiten zubereiten! Und hey, darf ich dir die Erdäpfel vorstellen, kennst du die schon?

Arme Menschen sind aber weder zu blöd zum Kochen noch mit Geld umzugehen. Es fehlen Ressourcen. Das ist einerseits Geld, klar. Aber eben auch Zeit, Energie oder eine Struktur der Kinderbetreuung. Sie arbeiten in sehr viel aufwändigeren Berufen und sitzen nicht auf bequem gepolsterten Chefredaktions-Sesseln.

Dem Geldmangel folgen viele andere Belastungen

Reiche Menschen können sich diesen Alltag oft nicht vorstellen, wenn sie ihn weder aus ihrem Umfeld kennen noch selbst erlebt haben. Energiepreiserhöhungen können nicht nach Belieben mit Schulterzucken getragen werden. Man kann mit wenig Geld eben nicht, wenn es zeitlich eng wird, eine einfache Lösung wie den Pizzaservice oder Lebensmittellieferdienst wählen. Und gesunde Lebensmittel (auch vegetarische, von Fleisch gar nicht zu reden) sind extrem teuer. Einfach so jeden Tag aufkochen heißt eben nicht einfach nur möglichst schnell kochen, sondern Preise vergleichen und einkaufen (oft in mehr als einem Supermarkt).

Darüber hinaus gibt es einen ganzen Rattenschwanz an zusätzlichen Sorgen: Kinder brauchen Wintergewand, wenn nicht neu, dann vom Flohmarkt. Das ist aber nicht nur billiger, sondern auch mühsamer und zeitaufwändiger, als es einfach teurer zu bestellen und vor die Tür geliefert bekommen.

Um das klarzustellen: Die meisten Kinder bekommen trotzdem die meiste Zeit gutes Essen. Denn bei den Kindern wird traditionell als letztes gespart. Trotzdem kennen viele am Ende des Monats die Nudel-und-Toast-Tage, wenn es für mehr eben nicht mehr reicht.

Politisch gäbe es einfache Lösungen

Wer Kindern eine gesunde Mahlzeit garantieren will, für den gäbe es politische Möglichkeiten. Man kann etwa ein gratis warmes, gesundes Essen in allen Bildungseinrichtungen anbieten. Aber über so etwas Simples wird stattdessen gestritten.

Das zeigt die Absurdität der ganzen Diskussion. Wie kann man gegen Essen für Kinder sein? Neben der bloßen Nahrungsaufnahme gäbe es hier zig andere positive Aspekte: Kinder lernen unterschiedliche Lebensmittel kennen, probieren Neues, eignen sich gesunde Gewohnheiten an, haben ein Gemeinschaftserlebnis usw.

Gegen so eine Maßnahme kann man nur sein, wenn man Kinder in Bildungseinrichtungen nicht als gemeinsame Verantwortung der Gesellschaft sieht.
 

Grausamkeit mit dem Anschein der Vernunft

Im Gegensatz zur traditionellen extremen Rechten serviert uns die ÖVP die politische Grausamkeit nicht mit einpeitschendem, bierseligem Geifer, sondern kühl und rational. Die Partei hat hier noch nachgelegt und die Worte Nehammers als vernünftig verteidigt.

Grausamkeit ist damit keine Frage der Emotionen mehr, keine Kanalisierung der eigenen wütenden Ohnmacht, die nicht anders in Worte zu fassen ist. Politische Grausamkeit wird bei der ÖVP zu einer Frage der Ratio, der Vernunft. Es ist vernünftig, Menschen leiden zu lassen. Es ist vernünftig, abzuwarten und zuzuschauen, wie sich das Elend jeden Tag verschlimmert und Menschen mit nichts dastehen als ihrer nackten Existenz. Das mag hart sein, aber es ist eben so.

Rohe Bürgerlichkeit ist zur Kanzler-Doktrin geworden.

 

Mehr dazu:

Kommentar: Nehammers Video war „nicht für die Öffentlichkeit gedacht“ – hört gerade deshalb genau hin

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