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Demokratie

Belarus: "Es wird eine große Eskalation geben"

In Belarus toben seit Tagen Straßenkämpfe. Sicherheitskräfte knüppeln die Proteste nach der Präsidentschaftswahl vom Sonntag nieder. Wir haben mit zwei Aktivistinnen in Minsk gesprochen.

Alexander Lukaschenko klammert sich in Belarus an die Macht. Sicherheitskräfte knüppeln die Proteste nach der offensichtlich gefälschten Präsidentschaftswahl vom Sonntag nieder. „Lukaschenko wird Swetlana Tichanowskajas Sieg nie anerkennen. Er ist ein typischer Diktator“, sagt Volga Emily Isaikina aus Minsk zu MOMENT. Wir haben mit ihr und Nastya Kouzma, einer weiteren Aktivistin, gesprochen. Eine große Sorge beider hat einen Namen: Wladimir Putin. „Man sollte es nicht Russland überlassen, die Sache zu lösen“, sagt Kouzma.

Anmerkung: Wir können ihre Aussagen nicht verifizieren, es ist uns aber wichtig darzustellen, wie Aktivistinnen aus Belarus die Kämpfe erleben.

 

MOMENT: Wie habt ihr persönlich die Proteste in Belarus und die Zusammenstöße mit der Polizei erlebt?

Nastya Kouzma: Ich war Wahlbeobachterin. Uns wurde gleich zu Beginn der Einlass verwehrt, wir konnten nur von draußen schauen, wie Leute ein und aus gingen. Den Wahlprozess und die Auszählung konnten wir nicht verfolgen. Das verkündete Ergebnis bei uns war: 800 Stimmen für Lukaschenko und 80 für Tichanowskaja. Das war lächerlich! Vor einem anderen Wahllokal standen allein 500 Menschen, die dort für Tichanovskaja gestimmt hatten. Offiziell hieß es: 1.100 Stimmen für Lukaschenko, 200 für Tichanowskaja

Als die Proteste am Abend groß wurden, wir ins Stadtzentrum zogen, erwartete uns die Polizei bereits, sie waren vorbereitet. Am Anfang vermieden sie Gewalt, sie versuchten die DemonstrantInnen in kleinere Gruppen zu trennen. Dann haben sie die Leute gejagt, festgenommen, in Polizeibusse gestoßen und Tränengas eingesetzt. Um 3 Uhr in der Früh war es zunächst vorbei. Trotz allem hat sich der Abend wie eine Befreiung angefühlt.

Am nächsten Morgen war die Polizei noch besser vorbereitet und stärker bewaffnet. Das Internet wurde blockiert. Wir konnten uns nur schwer koordinieren. Am Dienstag ging die Polizei dann im Terror-Stil auf Leute los. Sie hat Menschen aus Autos gezerrt und niedergeknüppelt.

Volga Emily Isaikina: Mich hat sehr erstaunt, dass so viele Menschen, die vorher gleichgültig waren und sich nicht um Politik kümmerten, endlich aufwachten und auf die Straße gingen. Sie zeigten, dass sie die Wahlergebnisse ablehnen, auch in sehr kleinen Städten! Zuvor fanden alle Proteste vor allem in Minsk statt.

Kaum zu glauben: Aber auch alte Leute, die immer Lukaschenkos große Unterstützer waren, sind jetzt gegen ihn! Ich erinnere mich, wie ein sehr alter Mann in einem Bus wenige Tage vor den Wahlen zu alten Damen sagte, was sie tun könnten, damit ihre Stimme nicht gefälscht wird.

Eine Menge von den Polizisten waren von sich aus extrem aggressiv. Die wollten Leute bekämpfen.

MOMENT: Wie erklärt ihr euch das immer brutalere Vorgehen der Sicherheitskräfte?

Kouzma: Ich kann hier nur vermuten. Vor den Wahlen gab es einen Aufruf: Jeder könne sich bei der Polizei melden und Teil der Truppe werden. Einzige Voraussetzung war, dass man einmal bei der Armee war. Dafür soll eine Menge Geld versprochen worden sein: 2.000 Euro. Beschrieben wurde es als „gefährlicher Einsatz, wenn dein Land deine Kraft braucht“.

Eine Menge von den Polizisten waren von sich aus extrem aggressiv. Es waren nicht die Typen, die zur Polizei gehen, weil sie Polizisten werden wollen. Die wollten Leute bekämpfen, um das Regime zu schützen.

Isaikina: Ja, sie waren sehr brutal im Vergleich zu Protesten in den 1990er und 2000er Jahren. Damals starb auch niemand, jetzt schon. In der Stadt Hrodna wurde sogar ein 5 Jahre altes Mädchen angegriffen und verletzt. Sie saß mit ihren Eltern im Auto und plötzlich zertrümmerte die Polizei die Scheiben. Sie war blutüberströmt.

MOMENT: Es gibt verschiedene Berichte über einen Protestierer, der ums Leben kam. Die Behörden sagten, er starb, weil ein Sprengsatz in seiner Hand explodierte, den er auf Polizisten werfen wollte. Stimmt das?

Kouzma: Darüber haben wir keine gesicherten Informationen. Zeugen des Vorfalls sagen, es habe keine Explosion gegeben, bevor der Mann zu Boden gestürzt ist. Aber wir wissen es nicht.

Isaikina: Ich habe auch Informationen von Leuten erhalten, die in diesem Moment dort waren. Sie haben berichtet, dass der Kerl überhaupt gar nichts in der Hand hielt.

Es besteht aus meiner Sicht kein Zweifel, dass Tichanowskaja gewonnen hat.

MOMENT: Ist Swetlana Tichanowskaja die legitime Siegerin der Wahl?

Isaikina: Es besteht aus meiner Sicht kein Zweifel, dass sie gewonnen hat. Sie haben die Bilder der langen Schlangen vor den Wahllokalen gesehen. Die Leute warteten bis zu 4 Stunden, um ihre Stimme für Swetlana zu geben. Sie trugen als Erkennungszeichen ein weißes Armband.

Zwei Monate vor der Wahl hat ein populäres unabhängiges Medienportal eine Umfrage gemacht. Da kam raus, dass nur drei Prozent für Lukaschenko stimmen würden. Deshalb wurde die Bewegung „Wir sind die 97%“ ins Leben gerufen.

Kouzma: Ich möchte an die gute Nachricht glauben, dass Tichanowskaja gewonnen hat. Aber ich weiß ich auch, dass noch immer viele Menschen für Lukaschenko sind. Die „Wir sind die 97%“-Bewegung hat eine sehr gute Kampagne gemacht.

Aber es ist nicht wahr, dass Lukaschenko nur drei Prozent hat. Wenn sie aufs Land fahren, finden sie viele Menschen, die für ihn sind. Es ist schwer zu glauben, dass Tichanowskaja tatsächlich 80 Prozent der Stimmen erhalten haben soll. Aber es sind eine Menge Menschen für sie, defintiv mehr als 50 Prozent.

MOMENT: Wenn er tatsächlich verloren hat: Wird Lukaschenko das Ergebnis anerkennen oder ist es wahrscheinlich, dass er an der Macht bleibt?

Isaikina: Lukaschenko wird Tichanowaskajas Sieg nie anerkennen. Er ist ein typischer Diktator, der sich nur um sich selbst kümmert. Ich habe keine Ahnung, was passieren wird. Es besteht die Gefahr, dass Wladimir Putin seinen „Freund“ schützen könnte.

Kouzma: Ich denke nicht, dass Lukaschenko noch lange an der Macht bleiben kann. Definitiv nicht die nächsten fünf Jahre. So viele Menschen wollen jetzt einen Wandel haben. Sie werden nach dieser Wahl und diesen Tagen nicht einfach sagen: Wir vergessen das, bleib weiter an der Macht.

Jungen Leuten im Militär sollen Waffen und scharfe Munition ausgehändigt worden sein, nicht mehr nur Gummigeschosse.

MOMENT: Wenn Lukaschenko nicht freiwillig geht, werden die Proteste dann weitergehen?

Kouzma: Ich denke, es wird eine große Eskalation geben. Ich habe Informationen erhalten, dass jungen Leuten im Militär Waffen und scharfe Munition ausgehändigt worden sein soll. Also nicht mehr nur Gummigeschosse.

Wenn es so läuft, dann kann es keinen freiwilligen Abtritt von Lukaschenko mehr geben. Er ist verrückt, wirklich verrückt. Und er hat Angst: Wenn er nur einen Schritt zurück macht, dann wird er zur Verantwortung gezogen oder getötet. Er hat Blut an den Händen. Im Moment sehe ich nicht, dass es eine Lösung geben, ohne Eingriff von außen.

Auf der anderen Seite könnte es Druck aus Russland geben. Bisher war Belarus ein verlässlicher Partner mit einem berechenbaren Führer, den sie kontrollieren können. Lukaschenko hat jetzt eine solch instabile Lage erzeugt, das kann nicht im Interesse Russlands sein.

Isaikina: Lukaschenko hat kürzlich gesagt, man weiß nie, was Putin durch den Kopf geht. Die meisten Menschen in Belarus sind gegen Putin – vor allem nach dem, was er mit der Ukraine und der Krim getan hat.

MOMENT: Spekuliert wird seit Monaten, dass Wladimir Putin versuchen könnte, das Land einzunehmen. Klingt das aus eurer Sicht realistisch?

Kouzma: Ich habe nur ein Wort dafür: Krim! Es wirkt für mich im Moment wie eine sehr realistische Option für Russland, Belarus einzunehmen. Sie haben die Möglichkeit dazu. Jetzt können sie zu uns sagen, wir bringen euch Frieden und befreien euch von einem Diktator. Gleichzeitig können sie Lukaschenko zu sich holen und ihm Sicherheit geben. Das könnte ein Szenario sein. Ich habe Informationen von russischen Stellen gehört, dass sie darüber zumindest sprechen.

Isaikina: Die Menschen haben Angst, dass wir eine Provinz Russlands werden könnten. Putin schlug Lukaschenko bereits einmal als Sprecher eines gemeinsamen Parlaments vor. Dagegen wehrte er sich aber zum Glück.

Bessere Ideen der EU sind immer willkommen. Man sollte es nicht Russland überlassen, die Sache zu lösen.

MOMENT: Eine große Frage lautet, ob Polizei und Militär weiter an Lukaschenkos Seite stehen. Wie schätzt ihr die Haltung der Sicherheitskräfte ein?

Kouzma: Sie werden weiter an seiner Seite sein. In seinem Umkreis gibt es viele, die ebenfalls Blut an ihren Händen haben. Sie haben nicht allzu viele andere Optionen. Ich glaube nicht, dass sie nur des Geldes wegen an seiner Seite stehen, sondern weil sie ebenfalls verwickelt sind in schmutzige Geschichten.

Isaikina: Erst gestern habe ich ein Interview eines ehemaligen KGB-Offiziers gelesen, der sich jetzt in Polen aufhält. Er sagte, dass die Leute von Polizei und Armee alle gehirngewaschen sind. Sie denken, dass wir noch immer Stabilität in unserem Land haben.

MOMENT: Was kann die EU jetzt tun, um den Menschen in Belarus zu helfen?

Kouzma: Die EU arbeitet mit Sanktionen. Aber im Moment hat Lukaschenko sicher keine Angst vor Sanktionen. Ihm geht es jetzt nur darum, wie er an der Macht bleiben kann. Vielleicht können sie eine Resolution verabschieden: „Wir bitten sie höflich, die Situation zu deeskalieren.“ Etwas bessere Ideen sind immer herzlich willkommen. Man sollte es nicht Russland überlassen, die Sache zu lösen.

 
Foto zeigt zwei Frauen, links steht Nastya in einer Blumenwiese. Sie trägt ein ein T-Shirt mit der Aufschrift Vive la rEVAlution und hat ihre Hände zu einem Herz geformt. Recht ist Volga im Bild, die in einem schwarzen Mantel auf einer Demonstration zu sehen ist.

Nastya Kouzma (links) engagiert sich bei der Oppositionsbewegung „Ehrliche Menschen“ in Belarus und war am Sonntag Wahlbeobachterin in Minks. Volga Emily Isaikina engagiert sich seit Jahren für die Sozialdemokratische Partei in der Opposition in Belarus.

 

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