Social Prescribing: Wie ein Rezept gegen Einsamkeit und Co. die Gesundheit neu definiert

Sind wir krank oder haben wir Schmerzen, gehen wir zu Hausärzt:innen. Bei psychischen Problemen probieren wir es vielleicht in der Therapie. Aber wer hilft uns bei sozialen und emotionalen Themen, die unsere Gesundheit betreffen, aber nicht in diese Schubladen passen? In den überfüllten Hausarztpraxen fehlt es dafür meist an Zeit, Ressourcen und Sensibilität.
Ein neuer Ansatz soll das ändern: Social Prescribing, auf Deutsch recht sperrig als „soziale Verschreibung“ oder „soziales Rezept“ bezeichnet. Der Ansatz kommt ursprünglich aus England und ist in Österreich so neu, dass man für die Praxis noch keinen guten Namen gefunden hat.
Der Name ist aber auch zweitrangig. Was zählt, ist, es flächendeckend und mit System umzusetzen – und das wirkt so naheliegend, dass man sich fragt: Wieso ist da nicht schon früher jemand draufgekommen?
Wie funktioniert Social Prescribing?
„Social Prescribing“ schaut sich Patient:innen als Ganzes an. Das bedeutet, dass unterschiedliche Bereiche der Gesundheit zusammenarbeiten. Ärzt:innen (und andere Gesundheitsbedienstete) arbeiten mit Verbindungsarbeiter:innen („Link Worker:in“) zusammen, die oft aus der Sozialarbeit kommen.
Wenn das System in einer Praxis angewendet wird, läuft das ungefähr so ab: Bei den Besuchen von Patient:innen stellt man fest, dass jemand ein Problem hat, das offenbar nicht medizinisch ist – aber relevant für die Gesundheit. Man empfiehlt das Gespräch mit einem oder einer „Link Worker:in“. Gemeinsam finden sie dann heraus, welche Belastungen da sind, welche Ressourcen sie haben und wie mögliche Lösungen aussehen.
Schlüsselrolle: „Link Worker:in”
Diese Verbindungsarbeiter:innen vermitteln also zwischen Ärzt:innen, Patient:innen, Behörden und dem Netzwerk an Angeboten und Institutionen einer Region. Sie wissen: Wo gibt es leistbare oder kostenlose Gemeinschaftsaktivitäten? Welche Unterstützungsleistungen gibt es und wo sucht man diese an?
In manchen Fällen besuchen sie die Menschen zuhause, um das Umfeld und die Lebensumstände besser einschätzen zu können. Manchen hilft am ehesten die Wandergruppe oder die Kartenrunde im Nachbarschaftszentrum, anderen die Ernährungs- oder Schuldnerberatung. Gibt es kein passendes Angebot, können „Link Worker:innen“ es zumindest anregen. Etwa bei der Gemeinde den Bedarf von mehr Kinder- und Jugendschutzeinrichtungen platzieren.
20 % gehen nicht wegen Krankheit zu Ärzt:innen
Die Methode könnte das Gesundheitssystem massiv verbessern – und entlasten. Mindestens hinter jedem fünften Arztbesuch dürften laut Untersuchungen zumindest nicht ausschließlich körperliche Ursachen stehen. Finden Ärzt:innen diese Ursachen nicht, sorgt das für Frust und Hilflosigkeit auf allen Seiten. Und es verbraucht Geld und Zeit – beides fehlt gerade in der Primärversorgung oft.
Daniela Rojatz leitet das Social-Prescribing-Projekt bei „Gesundheit Österreich“. Sie stellt immer wieder fest: „In den seltensten Fällen können die Leute klar sagen: ‘Frau Doktor, mir geht es schlecht, weil …’ Es ist eher so, dass jemand immer wiederkommt, und man findet nichts Medizinisches. Dann muss man hinter die Fassade blicken.“
Da war etwa die Patientin, die beinahe wöchentlich in eine der geförderten Einrichtungen kam. Man fand nichts. Erst bei einem Hausbesuch stellte man fest: In der Wohnung ist es kalt. Die Patientin konnte die Heizkosten nicht bezahlen. In der Arztpraxis konnte sie sich aufwärmen.
Hemmungen abbauen
Manche nehmen das Angebot für die Gespräche leichter an als andere. Michaela Lechner-Ertl ist Link Workerin bei einer Landärztin im steirischen Ottendorf. Sie kennt die Hemmungen der Patient:innen: „Oft nutzt die Ärztin für die Vermittlung an uns den üblichen Überweisungsschein für Fachärzt:innen, obwohl sie das nicht muss. Das hat eine gewisse Verbindlichkeit und einen medizinischen Touch. Viele nehmen es trotzdem nicht sofort an und sind erstmal sehr auf die Ärztin fixiert“.
Gerade im ländlichen Bereich brauchen derartige Projekte mehr Zeit, viele schämen sich, hilfsbedürftig zu sein. Der Besuch einer medizinischen Einrichtung ist weniger stigmatisiert als der einer sozialen Hilfseinrichtung.
Hilfe zur Selbsthilfe
Frau Gmoser sitzt im Beratungszimmer von Sozialberaterin Gaby Vezjak. Sie ist kaum zu bremsen, erzählt gerne, viel und ausschließlich positiv von ihren Erfahrungen mit der Methode. Frau Gmoser ist krebskrank, hat Übergewicht und orthopädische Leiden. Lange lief sie trotz Schmerzen von Praxis zu Praxis, irrte im Behördendschungel umher und gab Geld für wirkungslose Abnehmprodukte aus.
Heutzutage besucht sie im Primärversorgungszentrum Fünfhaus nicht nur ihre Sozialberaterin. Im selben Haus geht sie noch zum Arzt und zur Ernährungsberaterin. Zuhause macht sie regelmäßig Yoga.
Social Prescribing hat viel für sie verändert. „Als ich von dem Ansatz erfahren habe, fand ich das sehr hoffnungsvoll“, erinnert sie sich. „Man macht natürlich selbst vieles. Aber wenn jemand mithilft, gibt das einem Mut und Antrieb. Man muss nicht allein durch manövrieren, mit den ganzen eigenen Sorgen und Problemen.“ Vezjak betont: „Oft geht es nur um Motivation und Unterstützung, etwa wenn wir gemeinsam bei einer Behörde anrufen. Wir machen aber nicht die Stellvertretung. Es geht eher darum, Hilfe zur Selbsthilfe zu geben.“
Einfach mal gehört werden
„Social Prescribing“ geht auch auf das Bedürfnis von Menschen ein, gehört zu werden. Und es zeigt, wie groß die Wirkung sein kann. „Manchmal kommt es vor, dass Patient:innen bei unseren Ärztinnen und Ärzten sitzen und völlig aufgelöst sind, weil er oder sie gefragt hat ‘Sonst geht’s Ihnen gut?’ oder ‘Haben Sie sonst irgendwelche Schwierigkeiten?’ Und die Leute brechen in Tränen aus“, erzählt Martina Knopp, ebenfalls Link Workerin am PVZ Fünfhaus.
„Wenn wir Sozialberaterinnen da sind, nimmt der Arzt oder die Ärztin sie manchmal gleich an der Hand und sagt ‘Wir haben da jemanden, mit dem Sie reden können.’“
Probleme mit dem Gericht, Sorgepflichten oder Schulden sind mit Scham besetzt und belastend. Manchmal rücken die Leute erst beim dritten oder vierten Treffen damit raus.
Nicht immer sind es aber die großen Sorgen, manchmal gehe es einfach um ein „Baustellensortieren“ und um Ressourcenarbeit. In vielen Fällen reichen zwei bis drei Sitzungen, in denen Patient:innen zugehört wird. Und oft finden diese die Antworten in diesen Gesprächen schon selbst, indem sie darüber reden.
Social Prescribing könnte vielen unsichtbaren Gruppen helfen
Ohne Unterstützung ist es oft schwierig bis unmöglich, einen Überblick über alle sozialen und gesundheitlichen Angebote und Möglichkeiten zu kennen. Vielen fehlt es auch einfach an der nötigen Gesundheitskompetenz. Oder am Geld für teure Kurse.
Social Prescribing soll deshalb vielen Gruppen helfen, deren Lebensumstände sich auch auf die Gesundheit auswirken: Betroffene chronischer oder psychischer Erkrankungen, Armutsgefährdete, Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen.
Sorgenthema Einsamkeit
Einsamkeit ist ein besonderes Sorgenthema in Österreich. Soziale Isolation erhöht die Risiken von Gesundheitsproblemen bis zu 13-fach. Das Krankheitsrisiko soll dabei mit einem Konsum von 15 Zigaretten pro Tag vergleichbar sein. Es geht öfter einher mit Bluthochdruck, einem geschwächtem Immunsystem und einem erhöhten Sterberisiko. Soziale Teilhabe senkt daher auch das Risiko, krank zu werden.
Dass Menschen sich auf sich allein gestellt fühlen, erlebt die steirische Link Workerin Lechner-Ertl bei vielen Patient:innen aller Altersgruppen: „Wir haben immer wieder das Thema, dass Menschen mit psychischer Überlastung in den Langzeitkrankenstand kommen. Die können oft gar nicht darüber reden – man muss in der Leistungsgesellschaft psychisch belastbar sein. Enge Angehörige können es oft nicht nachvollziehen.“
Besonderer Bedarf bei Älteren
Besonderen Bedarf haben oft ältere Menschen. „Wir haben gesehen, dass immer mehr ältere Menschen quasi ‘unsichtbar’ werden“, beschreibt Klaus Siebenbrunner. Er ist Diplomand an der Med Uni Graz. In seiner Arbeit analysiert er Social Prescribing und zeigt, dass es auch im ländlichen Raum gebraucht wird.
Es gibt immer weniger Haushalte, in denen Menschen mehrerer Generationen zusammenleben. Durch den Verlust eines geliebten Menschen oder einen Lebensumbruch wie die Pensionierung rutschen ältere Menschen leicht in eine soziale Isolation. „Sie haben keine Anbindung an Vereine oder soziale Netzwerke. Hier braucht es nicht nur Angebote, sondern vor allem Begleitung, um Menschen in neue soziale Netze einzuführen.“
„Ich hatte einen älteren Herrn, der mit sich gehadert hat und nicht wusste, ob er noch allein kann oder ins Altersheim gehen soll“, erzählt die Wiener Link Workerin Martina Knopp. „Wir haben gemeinsam festgestellt, dass er aber auch noch jung genug ist, um in der Einrichtung sozial aktiv zu sein und eine Freude zu haben. Jetzt hat er sich dafür entschieden und macht sich gerade Besichtigungstermine aus – und er freut sich darüber.“
Gesundheitsförderung: Raus aus dem Schattendasein
Es gibt mittlerweile 20 Einrichtungen in Wien, Ober- und Niederösterreich, im Burgenland und in der Steiermark, die eine:n “Link Worker:in” beschäftigen. Seit 2021 gibt es Projekte in Österreich. Derzeit läuft die Verlängerung des dritten Fördercalls vom Gesundheits- und Sozialministerium, mit zehn teilnehmenden Einrichtungen.
Abgesehen von den positiven Rückmeldungen der Patient:innen zeigen auch erste Studien eine immense Verbesserung der sozialen Verbundenheit und der Gesundheit. „Inhaltlich sind wir auf einem ganz guten Weg. Das Interesse und das Bewusstsein sind da. Social Prescribing hat einen Nerv getroffen“, so Projektleiterin Daniela Rojatz.
Ein Thema, das noch mehr Gespräche erfordert, ist unter anderem die Frage der Finanzierung. Um die Notwendigkeit langfristig zu verdeutlichen, brauche es noch viel mehr Daten und Studien. Aber die entlastende Wirkung auf die individuelle Gesundheit und das ganze Gesundheitssystem scheinen zu offensichtlich, um den Ansatz nicht wachsen zu lassen.