Studieren als Arbeiterkind: Vom Seiltanz ohne Sicherung
Sie geht die viel zu weit auseinanderliegenden Stufen zu ihrem Termin hinauf. Kann jetzt doch noch etwas schiefgehen? Anna kommt alles immer noch unwirklich vor, als sie aufgerufen wird. Der Prozess danach ist kurz. Eine Frau haut einen Stempel auf die erste Seite ihrer Masterarbeit. Das hallt durchs ganze Zimmer. Fertig.
Zuhause scannt Anna sich ihr Abschlusszeugnis erstmal ein – zur Sicherheit. Dann hängt sie es an die Wand, damit sie in Ruhe realisieren kann: ich habe es geschafft.
Annas Hürden
Mit ihrem Abschluss hat Anna auch viele Ängste überwunden. Im Studium hat sie sich oft gefühlt, als stünde sie ungesichert auf einem Hochseil. Während sie deshalb vorsichtige Schritte machte, probierten manche ihrer Freude ein paar Saltos. Die hatten zwar nicht mehr Mut, aber einen Sicherheitsgurt: das elterliche Bankkonto. Das Studium abzubrechen, weil das Geld ausgeht? Für andere war das kein Thema, für Arbeiterkind Anna eine echte Sorge.
“Viele Dinge, die schön im Lebenslauf sind, waren für mich nie wirklich eine Option: wie unbezahlte Praktika oder Auslandssemester.” Vor allem das Auslandssemester hätte sie sehr gerne gemacht. Aber das finanzielle Risiko war ihr zu groß. Weil sie sowieso schon arbeiten musste, um sich das Studium zu finanzieren, hat sie ohnehin länger zum Master gebraucht. Sie fürchtet, das die längere Studiendauer und der fehlende Schmuck im Lebenslauf auch bei der Jobsuche nachwirken.
Universitäts-Novelle: “Ich find es gut, dass Leute sich darüber aufregen”
Zwei Drittel der Studierenden in Österreich haben keine Eltern, die studiert haben. Diese jungen Menschen haben es trotzdem deutlich schwerer zu studieren. Menschen aus bildungsfernen Haushalten nehmen nicht nur seltener ein Studium auf, sondern auch später im Leben. Wer Eltern mit zumindest Matura hat, studiert 2,5 mal so oft. Noch immer stehen wir mit der Bildungsgerechtigkeit in Österreich nicht da wo wir sollten.
Durch die von der türkis-grünen Regierung geplante Universitäts-Novelle droht Studierenden der Ausschluss vom Studium, wenn sie nicht eine gewisse Mindestleistung bringen. Das könnte vor allem Studierende aus Arbeiterfamilien betreffen. Denn wie Anna müssen die häufiger “nebenher” arbeiten. Eine weitere von vielen sozialen Hürde im österreichischen Bildungssystem.
Anna findet die Novelle bedenklich, weil nicht alle Studierende die gleichen Möglichkeiten haben, Leistungen zu erbringen: “Ich find es gut, dass Leute sich darüber aufregen.” Die Höhe der neuen Mindeststudienleistung beeindruckt sie aber wenig, denn es gibt ja bereits welche für Leute, die Studienbeihilfe beziehen: “Ich würd mir nur wünschen, dass die Leute sich auch darüber aufregen.”
Emrans Eltern wollen, dass er studiert – er auch
Jemand der Annas Weg gerne auch nehmen würde, ist Emran. Er ist 14 Jahre alt und geht in eine Mittelschule im 11. Bezirk. Seine Mutter ist Hausfrau und der Vater Lieferant. Beide konnten selbst keine Schule besuchen – wegen des Krieges. Denn geboren ist Emran in Afghanistan. Mit 8 Jahren kam er gemeinsam mit seiner Familie nach Österreich. Er und seine Familie zogen in das steirische Dorf Semriach. Dort lernte er sehr schnell Deutsch. Schon nach zwei Monaten konnte er für seine Eltern Unterlagen vom AMS übersetzen. Seine Eltern wünschen sich manchmal, sie dürften selbst nochmal in die Schule gehen. Es fällt ihnen schwer Deutsch zu lernen. “Sie sagen mir jeden Tag, dass ich studieren soll”, sagt Emran.
Emran geht gerne in die Schule und sagt, dass er dabei auch gut ohne die Unterstützung seiner Eltern auskommt. Er fühlt sich gut gefördert. “Die Lehrer unterstützen mich voll. Zum Beispiel will ich jetzt eine HTL besuchen und da hab ich viel Hilfe bekommen“. Von LehrerInnen – und unter anderem auch von Sindbad.
Bei Sindbad macht Emran seit November mit. Hier werden MentorInnen an bildungsbenachteiligte Jugendliche vermittelt. Sie sollen die jungen Menschen auf ihrem Weg unterstützen. Emran hat sich für Mentorin Laura entschieden, weil sie zur Uni geht und er auch gerne studieren möchte.
Der Traum vom Ingenieur
”Ich hab gehört je mehr man lernt, desto leichter wird der zukünftige Job. Auf einer Baustelle muss man dann zum Beispiel keine schwere Sachen heben, sondern gibt einfach Kommandos als Bauingenieur”, sagt er. Bauingenieur ist Emrans Traumberuf. Sein Vater hat ihm davon erzählt. Auch selbst hat er sich schon über den Beruf informiert und findet ihn cool. Mit dem Wunsch zu studieren ist Emran eine Ausnahme. In seiner Klasse wollen nur drei Kinder studieren. “Die haben keinen Bock weiter zu lernen – keinen Bock auf Schule”, erklärt er.
Zusätzlich zur Arbeiterfamilie ist auch Emrans Migrationshintergrund ein zweiter Faktor, der ihn statistisch am Weg zur Uni benachteiligt. Junge Menschen mit Migrationshintergrund nehmen halb so oft ein Studium auf wie jene ohne. Nur 5,9% aller Studierenden in Österreich haben Migrationshintergrund. Zwischen 2015 und 2019 ist die Quote mit Hochschulzugang sogar stark gesunken.
Doch Emran findet Bildung wichtig. “Mein Vater hat mich gefragt: Willst du jetzt eine Lehre bei Lidl anfangen und dein ganzes Leben als Mitarbeiter bei Lidl verbringen? Oder willst du zum Beispiel Boss auf der Baustelle sein? Das hat mich sehr zum Nachdenken gebracht und ja es hat mich auch überfordert.“ Weil er sich lieber aufs Hier und Jetzt konzentriert als auf die Zukunft. Über die Finanzierbarkeit eines Studiums hat er sich bisher noch nicht so viele Gedanken gemacht. Denn ein gerechtes Bildungssystem bedeutet für Emran, dass jeder entscheiden darf, ob er weiter in die Schule gehen oder eine Lehre machen will, keiner soll zu etwas gedrängt werden. Aber er ist zuversichtlich, dass seine Eltern da voll hinter ihm stehen und ihn unterstützen werden.
Weniger Optionen durch finanzielle Zwänge
Anna hat ihr Studium jetzt hinter sich. Studiert hat sie Socio-Ecological Economics and Policy im Master und Sozioökonomie im Bachelor. Um herauszufinden, wie man soziale Ungleichheit bekämpfen kann. Zwischendurch war sich Anna unsicher, ob der Studiengang das Richtige für sie ist. Aber sie hat es trotzdem weiter studiert, weil ihre Familienbeihilfe auf dieses Studium gelaufen ist und sie die auf keinen Fall verlieren konnte.
Anna ist 26 Jahre alt. Sie ist in Graz geboren und mit 10 Jahren nach Wien umgesiedelt. Ihre Eltern haben beide die Hauptschule abgebrochen. Im Gegensatz zum leiblichen Vater war Annas alleinerziehende Mutter sehr dahinter, dass ihre Tochter die Matura macht. Anna ging im 3. Bezirk auf ein Gymnasium. Aber sie und ihre Mutter sind oft umgezogen, sodass die Schulwege weit wurden. Wechseln wollten sie nicht, denn die Schule war gut und die LehrerInnen auch. Anna fühlte sich gefordert und gefördert. Aber auch anders: “Ich hab einfach gemerkt, dass Geld nicht so ein Problem ist bei den meisten”. Jedes zweite Jahr musste sie bei Schulreisen aussetzen.
Plötzlich wurde studieren selbstverständlich
Mit 15 Jahren besuchte sie die Schule von einem staatlichen Internat aus, das hat vieles erleichtert. Zuerst fand die Mutter das Internat zu teuer, aber Anna fand einen Samstags-Job im Supermarkt und Förderungen der Stadt Wien. Auch Annas Mutter hat ihre Tochter unterstützt so gut es ging. Noten wurden schnell besser und die Mutter sah ein, dass es das wert ist. “Sicher die bisher beste Entscheidung in meinem Bildungsweg”, erklärt Anna.
Einmal auf dem Gymnasium erschien es Anna auf einmal ganz natürlich zu studieren, einfach, weil das alle machen. Außerdem hatte sie guten Noten und die LehrerInnen haben in diese Richtung gedrängt. Ihren geringfügigen Job im Supermarkt behielt sie auch als es ans Studieren ging. Damit und mit den Alimenten des Vaters, mit Wohnbeihilfe und Familienbeihilfe sollte sich laut Annas Berechnungen die Finanzierung ihres Studiums ausgehen. Die Wohnbeihilfe hat sie dann aber nicht bekommen, wegen des Gehalts ihres Vaters. Die Alimente des Vaters auch nicht und die Studienbeihilfe war niedriger als erwartet. “Egal wo ich war, der Unterhalt ist immer zu meinem Einkommen dazugerechnet worden. Nur, dass ich ihn nicht bekam, hat niemanden interessiert”. Auf Anraten der Wohnbeihilfe ging Anna sogar so weit die Alimente von ihrem Vater einzuklagen – erfolglos. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihren Job auf 20h die Woche aufzustocken.
„Mir wäre es hundert Mal lieber gewesen, mich hätte jemand an der Hand genommen“
“Ich wusste: Wenn ich nicht die Matura mache, wird mir niemand später die Matura-Abendschule zahlen. Ich musste alle Möglichkeiten, die ich hatte voll nutzen und sehr viel selbst und alleine machen.“ Anna wurde oft für ihre Selbstständigkeit bewundert, doch sie sieht das in erster Linie als Folge fehlender Alternativen. “Viele Leute haben auch als Kompliment gesagt, dass ich so selbstständig bin. Aber mir wäre es hundertmal lieber gewesen, ich hätte nicht selbstständig sein müssen. Mir wäre es hundertmal lieber gewesen, mich hätte jemand an der Hand genommen. Das dann als Kompliment zu bekommen, konnte ich nicht leiden. Das tat immer ein bisschen weh, weil ich mir das nicht ausgesucht habe.”
Trotz allem empfindet sich Anna als privilegiert. Sie hatte eine Volksschullehrerin,die ihr eine Empfehlung fürs Gymnasium ausgesprochen hat, muss nicht die Nachteile eines Migrationshintergrund spüren, und eine Mutter, die Bildung schätzt. Anna weiß, was für eine wichtige Rolle auf ihrem Weg auch Glück gespielt hat.
Karin fand sich an der Uni nicht zurecht, und ist auch glücklich
Karin hatte dieses Glück nicht – und dann wieder doch. Sie ist 62 Jahre alt und wohnt in einem Kleingartenhäuschen in einem Vorort von Wien. Auch sie stammt aus einer Arbeiterfamilie. Der Vater war gelernter Mechaniker und Polizist, die Mutter Kindergartenpädagogin. Als sie jung war, hätte Karin gerne studiert. Daraus wurde aber nichts. Sie probierte es zwar, aber fand sich auf der Uni nicht zurecht.
Stattdessen machte sie eine Ausbildung zur Physiotherapeutin. Nun ist sie keine Akademikerin geworden, aber bereut diese Entscheidung bis heute nicht. Bildung ist für Karin trotzdem extrem wichtig: „Wissen ist einfach Macht. Du kannst in deinem Leben viel besser entscheiden.“ Aber Bildung gebe es auch abseits der Uni, sagt sie. Da gehe es darum, gesellschaftliche Zusammenhänge zu verstehen. Da lernt sie auch bei ihrem Engagement im zivilgesellschaftlichen Bereich viel.
Akademisierung der Arbeitswelt macht Studium wichtiger
Karin ist seit zwei Jahren in Pension. Ihren einstigen Beruf als Physiotherapeutin kann man heute auch studieren. Die Arbeitswelt “akademisiert” sich, sagt man. Ein Studium ist in mehr Bereichen wichtig als vor einigen Jahrzehnten. Heutige und künftige Arbeiterkinder werden natürlich auch noch Wege abseits des Studiums in ein gutes Leben haben – aber vielleicht werden es nur andere, vielleicht aber auch weniger Wege sein.
Unmöglich ist es für Arbeiterkinder natürlich nicht, in Österreich zu studieren. Um tatsächliche Chancengleichheit im Bildungssystem zu erreichen, muss aber noch vieles getan werden. Zu viel hängt heute noch von individuellem Kampfgeist und vor allem Glück ab.
Emran und Anna stehen an unterschiedlichen Punkten in ihrem Bildungs- und Lebensweg. Trotz aller Herausforderungen hat es Anna geschafft zu studieren. Und Emran ist auf dem besten Weg, bald der erste Studierende in seiner Familie zu sein.