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Demokratie

Tage des Zorns in Belarus: Was passiert da eigentlich?

Tage des Zorns in Belarus: Was passiert da eigentlich?
Belarus explodiert: Nach der offensichtlich gefälschten Wahl protestieren BürgerInnen, die Polizei schlägt mit Härte zurück. Die Herausforderin von Präsident Lukaschenko muss das Land verlasssen. Doch der Widerstand bleibt hoch. Am Dienstag wurde zum Generalstreik aufgerufen, das Land erwartete die dritte Protestnacht in Folge. Was passiert in Belarus und warum entlädt sich jetzt der Zorn der Bevölkerung?

Es sind verstörende Bilder, die aus Belarus über soziale Medien verbreitet werden. In wackligen Filmaufnahmen ist zu sehen, wie Polizisten wahllos auf DemonstrantInnen einknüppeln, sie jagen, in Gefängnisbusse stoßen. Sie feuern Gummigeschosse ab, Blendgranaten fliegen, Wasserwerfer rollen durch die Straßen von Belarus‘ Hauptstadt Minsk. Auch DemonstrantInnen gehen auf Sicherheitskräfte los, wehren sich gegen Festnahmen. Bilder zeigen zahlreiche blutüberströmte Menschen.

Mindestens ein Protestierender kam bisher ums Leben. Laut Regierung sei ein Sprengsatz in seiner Hand explodiert, den er auf Polizisten werfen wollte. Ob das stimmt, lässt sich schwer prüfen. Oppositionelle Gruppen meldeten zuvor einen weiteren Toten: Bilder zeigen, wie ein Protestierender von einem Polizeifahrzeug niedergefahren wird. Die Regierung dementiert. Der Mann sei im Krankenhaus in Behandlung, er sei am Leben.

Die Proteste gehen weiter

Am Sonntag explodierte das vielen als Weißrussland bekannte Land am Rande Europas. Bis zu 100.000 Menschen gingen in der Hauptstadt auf Straßen. Von Brest im Westen bis Vitebsk im Osten: überall gibt es Proteste und Gewalt. In der Nacht auf Dienstag war sie laut BeobachterInnen noch heftiger als in der Nacht zuvor. „Die Wut geht durch das ganze Land“, sagte Nigel Gould-Davies, ehemaliger britischer Botschafter im Land und heute politischer Analyst dem Guardian.

Am Dienstag riefen oppositionelle Gruppen zum Generalstreik in den Betrieben auf. Über Twitter wurden Videos versendet, die zeigen, dass Beschäftigte ihre Arbeit niederlegten. „Der Sieg über den Tyrannen in den nächsten Tagen ist einfach offensichtlich“, schrieb zuvor die oppositionelle Plattform Strana dlja Schisni („Land zum Leben“).

Eklatante Wahlfälschung von Präsident Lukaschenko

Der „Tyrann“, das ist Alexander Lukaschenko. Seit 26 Jahren regiert er „die letzte Diktatur Europas“ mit harter Hand. Jetzt stellte er sich zur Wiederwahl. Wie schon vergangene Urnengänge war sie eine Farce. Doch diesmal übertrieb Lukaschenko die Schwindelei offenbar, allzu offensichtlich ist die Wahlfälschung.

Laut staatlichen Prognosen soll Lukaschenko 80 Prozent der Stimmen erhalten haben. Ein Ergebnis, das wohl fernab der Realität liegt. Ein offizielles Resultat gab es auch am Dienstag noch nicht. Einzelne Wahlkommissionen in Minsk verkündeten aber, in ihren Wahllokalen hätte die oppositionelle Kandidatin Swetlana Tichanowskaja haushoch gewonnen, teils mit 80 bis 90 Prozent der Stimmen. Die Organisation „Ehrliche Menschen“ meldete, dass sie in 85 Wahllokalen, in denen Beobachter vor Ort waren, gewonnen hätte.

Die Frau, die dem „Diktator“ gefährlich wird

Tichanowskaja war die einzige zugelassene Gegenkandidatin. Am Dienstag verließ sie das Land in Richtung Litauen, freiwillig, wie sie selbst sagte. Litauens Regierung meldete jedoch: Die Ausreise der Hoffnungsträgerin vieler EinwohnerInnen von Belarus erfolgte auf Druck der Behörden. Zuvor veröffentlichte sie über den populären Nachrichtendienst Telegram eine Videobotschaft.

„Ich will kein Blut und keine Gewalt“, sagte sie darin. Und: „Ich dachte, der Wahlkampf hätte mich abgehärtet und mir die Kraft gegeben, alles durchzustehen. Aber wahrscheinlich bin ich doch die schwache Frau geblieben, die ich zu Beginn war“, sagte sie. Berichten zufolge sollen auch hier die Behörden Druck auf sie ausgeübt haben, diese Erklärung abzugeben.

Die 37-jährige zweifache Mutter hatte nicht vor, gegen Lukaschenko anzutreten. Ihr Mann, der bekannte Blogger Sergej Tichanowski, wollte sich ursprünglich zur Wahl stellen. Doch der Regierungskritiker wurde Wochen vor der Wahl kurzerhand festgenommen. Seine Frau sprang ein. Lukaschenko ließ sie zur Wahl zu: Offenbar dachte er, mit der politisch zuvor nicht aktiven Tichanowskaja leichtes Spiel zu haben.

Lukaschenko unterschätzte seine Kontrahentin

Doch der 65-Jährige sollte sich irren. Zuvor von der Wahl ausgeschlossene KandidatInnen unterstützten Tichanowskaja. Sie organisierten Proteste, der Widerstand gegen Lukaschenko wuchs und gleichzeitig der Zuspruch für die Gegenkandidatin, die er als „Hausfrau“ verspottete. Es war nicht sein einziger Irrtum. Lukaschenko habe sich vom Volk abgekoppelt, schreiben Beobachter.

Lukaschenko ließ vor der Wahl Oppositionelle festnehmen, das stachelte den Widerstand wohl eher an. Am Wahltag musste ihm bereits klar gewesen sein, dass es Proteste geben würde. Schon bevor die Wahllokale geschlossen wurden, ließ er Minsk abriegeln. Die U-Bahn fuhr nicht mehr. Auch in anderen Städten waren Polizei und Militär präsent, Straßen wurden gesperrt und PassantInnen festgenommen. Das Internet war landesweit zeitweise abgeschaltet.

Als die Menschen dann auf die Straßen strömten, nannte Lukaschneko sie „die, die aus dem Ausland manipuliert worden sind“. Das fachte die Wut weiter an. „Das Land wird morgen nicht ins Chaos oder einen Bürgerkrieg stürzen“, sagte er am Sonntag. Inzwischen droht er damit, die Armee gegen die DemonstrantInnen einzusetzen. Ob er die Sicherheitskräfte noch hinter sich hat, ist unklar. In Städten wie Kobrin, Baranovichi und Schodsina legten sie ihre Schilde nieder und gingen nicht gegen Protestierende vor.

Lukaschenkos Corona-Ratschläge: Wodka, Sauna, Traktorfahren

Wie Lukaschenko die Coronavirus-Pandemie kleinredete, machte viele Menschen wütend. „Hier sind keine Viren. Sehen Sie welche herumfliegen?“ fragte er Ende März am Rande eines Eishockeyspiels in die TV-Kameras. Beinahe alle anderen Länder Europas waren zu diesem Zeitpunkt bereits im Lockdown. Dazu gab er skurrile Tipps, wie sich die BürgerInnen vor der Infektion schützen können: mit Wodka, Saunagängen und Traktorfahren.

Die Wirtschaft leidet, vor allem am Land leben viele Menschen in ärmlichen Verhältnissen. Das BIP pro Kopf betrug 2018 umgerechnet 5.300 Euro. In der EU waren es im gleichen Jahr 30.900 Euro. Selbst in Russland lag es mit rund 9.600 Euro noch fast doppelt so hoch. Dafür rühmt sich Belarus, die mit 0,5 Prozent niedrigste Arbeitslosenrate Europas zu haben. Allerdings sind viele ArbeitnehmerInnen unterbeschäftigt.

Russland: lieber geschwächten Lukaschenko als Umsturz

Das erinnert an die letzten Tage im real existierenden Sozialismus. Der gewesenen Sowjetunion ist er noch immer nostalgisch verbunden. Zu Russland hat Lukaschenko eine ambivalente Beziehung. Lange Zeit galt Belarus praktisch als Anhängsel des „großen Bruders“. Die Wirtschaft des Landes ist abhängig vom verbilligten Öl und Gas aus Russland.

Doch zuletzt gab es Spannungen: Eine Gruppe von 33 Mitgliedern der berüchtigten russischen Söldnertruppe Wagner wurde festgenommen. Sie sollen Terroranschläge und eine Revolution in Belarus geplant haben. Lukaschenko sei besorgt, Wladimir Putin könnte sein Land verschlingen. Bei den Protesten wurden jetzt auch russische JournalistInnen festgenommen und geschlagen.

Die meisten Beobachter sind sich aber einig: Putin ist ein geschwächter Lukaschenko lieber als ein Umsturz in Belarus. So kann er die Kontrolle und den Druck auf das Land erhöhen. Er gratulierte dem Amtskollegen umgehend per Telegramm zum Wahlsieg. Ein Belarus unter neuer Führung, das sich in Richtung EU wendet, kann er nicht gebrauchen.

EU und Österreich verurteilen Gewalt, neue Sanktionen fraglich

Und die EU? Die verurteilte die Gewalt gegen DemonstrantInnen: Diese sei „nicht die Antwort“, sagte Ratspräsident Charles Michel. Der Außenbeauftragte Josep Borrell zog das Wahlergebnis in Zweifel. Österreich schloss sich dieser Einschätzungen an.

„Wir beobachten die Lage mit großer Sorge“, sagte Außenministeriumssprecher Johannes Strasser am Dienstag zu MOMENT. Die Wahl habe nicht internationalen Standards entsprochen. „Es wird innerhalb der EU ein gemeinsames Vorgehen geben“, so Strasser. Auf die Frage, ob auch Sanktionen seitens der EU geplant seien, ging der Sprecher von Außenminister Alexander Schallenberg nicht ein.

Dessen deutscher Amtskollege Heiko Maas sagte allerdings, die EU solle neue Sanktionen gegen Belarus prüfen. Solche gibt es bereits, sie wurden in den vergangenen Jahren aber gelockert. Nun müsse die EU diskutieren, ob „wir an diesen Entscheidungen nicht doch noch einmal etwas verändern müssen und dies dann auch sehr zügig“.

Maas war am Dienstag pikanterweise in Moskau Gast von Russlands Außenminister Sergej Lawrow. Ein Problem der EU: Sanktionen gegen Belarus würde das Land wieder näher an Russland bringen. Außerdem ist die Staatengemeinschaft zerstritten. Mindestens Ungarns Ministerpräsident Victor Orbán steht offenbar fest an der Seite Lukaschenkos.

Wie es ausgeht? Völlig offen!

Der sagte nun, er sei zu keinerlei Zugeständnissen bereit. „Wir werden nicht zulassen, dass die Proteste das Land auseinanderreißen“, sagte er. Schon vor dem Wahltag sagte er, er werde sein geliebtes Belarus nicht aufgeben. Möglicherweise ist Belarus aber inzwischen ein anderes Land: „Es ist ein Geist aus der Flasche geholt worden und er wird nicht wieder hineingehen“, sagte Ex-Botschafter Nigel Gould-Davies.

„Ich weiß, dass die Menschen in Belarus morgen in einem neuen Land aufwachen werden“, sagte Tichanowskaja in der Wahlnacht. Es war die Nacht der größten Proteste in der Geschichte des Landes.

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