Zu alt zum Arbeiten, zu jung für die Pension?

Heidi sitzt bei einem Vorstellungsgespräch bei einer Bank. Die 58-Jährige ist seit anderthalb Jahren auf Jobsuche. Der Bankmanager mustert ihren Lebenslauf, verzieht sein Gesicht und sagt: “Ah, sie sind ein 67er-Jahrgang.” Heidi ist die Kommentare zu ihrem Alter gewohnt. Am liebsten würde sie sagen: “Na und? Schau ich so aus? Du siehst doch, dass ich noch alle Zähne im Mund habe!” Ein paar Tage später bekommt sie eine Absage.
An einem anderen Tag bewirbt sich Heidi für eine Stelle im öffentlichen Dienst. Ob sie mit einem Computer umgehen kann, fragt der potenzielle Arbeitgeber. Heidi fühlt sich nicht ernst genommen. In ihrem Lebenslauf unter EDV-Kenntnisse zu schauen, hätte geholfen, denkt Heidi.
Sie spricht mehrere Fremdsprachen, hat im In- und Ausland gearbeitet und jetzt muss sie erklären, ob sie überhaupt mit einem Computer umgehen kann. Wenn man sie nehme, bekäme sie das Vollzeitgehalt einer Maturantin von 1.800 Euro Netto, sagt sie. Aber wenn sie in der Probezeit die ganze Zeit krank wäre, dann würde das Arbeitsverhältnis natürlich enden. Sie sieht alles andere als kränklich aus, weiß Heidi. Auch hier bekommt sie eine Absage.
Je älter Menschen sind, desto höher ist auch die Wahrscheinlichkeit auf Arbeitslosigkeit. Die Arbeitslosenquote liegt bei 5,8 Prozent bei Frauen zwischen 50 und 54 Jahren. Kurz vor der Pension steigt sie sogar auf 11 Prozent. Bei Männern mit 64 Jahren ist bereits jeder Siebte arbeitslos. Währenddessen fordert die Industriellenvereinigung die Anhebung des Pensionsalters auf 70 Jahre. Die Regierung will die Altersteilzeit und Korridorpension beschränken und verstärkt damit das Problem der Altersarbeitslosigkeit noch mehr.
Ein anderes Leben
Früher war Heidi unter anderem als Dolmetscherin tätig. Sie verdiente gut, kaufte sich ein kleines Eigenheim und war beruflich sehr zufrieden. Corona bedingt verlor sie ihre letzte Anstellung und nahm eine Stelle an, für die sie überqualifiziert war und schlechter bezahlt wurde. Von einem Tag auf den anderen kündigte ihr Arbeitgeber sie und einige Mitarbeiter:innen, ohne die vertraglichen Kündigungsfristen einzuhalten. Der Grund: Er könne sich die Stellen nicht mehr leisten.
Damit war Heidi mit 56 Jahren arbeitslos. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Seitdem lebt sie von einem Arbeitslosengeld von knapp 1.050 Euro im Monat – rund 600 Euro unter der Armutsgrenze. Und auch sie bekommt dabei zu spüren, dass das Arbeitslosengeld nicht an die in diesen Jahren so hohe Inflation angepasst wird.
Spezialfall Österreich
Im internationalen Vergleich ist das Arbeitslosengeld in Österreich ziemlich gering. Arbeitssuchende bekommen hierzulande gerade einmal 55 Prozent des vorherigen Gehalts (oft ist es auch weniger), während sie etwa in Luxemburg, Dänemark, Belgien, den Niederlanden oder Schweden 72 bis 89 Prozent bekommen würden. Durch die hohe Inflationsrate 2023 bekamen viele Arbeitslose sogar nur 50,7 Prozent ihres Letztbezugs.
Das Arbeitslosengeld ist außerdem eine befristete Leistung. Läuft diese aus, kann unter bestimmten Bedingungen die noch niedrigere Notstandshilfe gewährt werden.
Wenn das Arbeitslosengeld nicht reicht, um den eigenen Lebensunterhalt zu decken, kann Sozialhilfe beantragt werden. Dabei müsste Heidi aber ihr Eigenheim als “Vermögen” angeben. Sie entschied sich dagegen. “Nur weil ich ein Eigenheim habe, heißt das nicht, dass ich reich bin.” Beim Beziehen von Sozialhilfe gibt es einen Freibetrag von 7.254 Euro. Damit erübrigt sich die Sozialhilfe meistens für gerade ältere Menschen, die sich im Laufe ihres Lebens ein Auto oder ein Eigenheim zugelegt haben. Nach drei Jahren Bezug erfolgt ein Eintrag ins Grundbuch des Eigenheims. Das bedeutet, das Eigenheim kann zur Sicherung verpfändet werden.
Die Scham vor den Anderen
Heidi holt sich von ihrem Geld regelmäßig Essen von der App „Too Good to Go“. Mit der App können Nutzer:innen sich Essen, das in Restaurants beispielsweise übrig geblieben ist, günstiger vor Ort abholen. In einen Sozial-Supermarkt möchte sie nicht gehen. Zu groß ist die Angst, dass sie in dem Dorf erkannt werden könnte, indem sie lebt. Wo genau in Österreich möchte Heidi nicht verraten – Leute könnten über sie reden.
“Die meisten wissen gar nicht, dass ich arbeitslos bin”, erzählt Heidi. Die Scham sei zu groß. Außerdem müsse man dann lauter “depperte” Kommentare bekommen. Die 58-Jährige möchte nicht mehr hören, dass Arbeitslose ja nur zu faul zum Arbeiten wären und dass es ja so angenehm wäre, in der “sozialen Hängematte” zu liegen. Die Realität sieht für sie anders aus. “Es ist so demütigend”, erzählt Heidi.
Verhinderung von Arbeit(-slosigkeit)
Bei Heidis ersten Termin beim zuständigen Arbeitsmarktservice (AMS) empfiehlt der Dienststellenleiter den älteren Arbeitssuchenden in einem Einführungskurs, das Geburtsdatum bei Bewerbungen zu ändern oder am besten gar nicht erst zu nennen.
Eine Studie der TU Wien und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften belegte, dass schon der AMS-Algorithmus zur Verstärkung von Diskriminierungen führt. Dieser bewertet die Jobchancen einer arbeitssuchenden Person nach bestimmten Faktoren, wie zum Beispiel auch Alter. Aufgrund dessen steckt das AMS mehr Ressourcen in eine Person mit guten Jobaussichten, als mit schlechteren.
“Die vom AMS übermittelten Jobangebote führten bisher kein einziges Mal zu einem Bewerbungsgespräch”, erzählt Heidi. Das AMS schickt ihr immer wieder Jobs, für die sie sich bewerben muss. Einmal zum Beispiel schickt das AMS ihr eine Jobausschreibung als Juristin. Heidi muss erst einmal aufklären, dass sie doch gar keine juristische Ausbildung besitzt. Ein anderes Mal bekam sie eine Ausschreibung vom AMS, die gut zu ihrer Qualifikation gepasst hätte – doch keine Stunde nach der Bewerbung bekam Heidi wieder eine Absage.
“Ghost Jobs”
Also sucht sie nach Jobausschreibungen und schickt zahlreiche Bewerbungen aus. Über Arbeitgeber:innen, die mit Nüssen und Obst für ihre Mitarbeiter:innen in ihren Stellenausschreibungen werben, kann die 58-Jährige nur den Kopf schütteln: “Als ob ich ein Eichkatzerl wäre.”
Andere Stellenangebote seien nur “fiktiv”. Arbeitgeber:innen würden so günstigere Werbung für ihr Unternehmen machen, erzählt Heidi. Das habe ihr auch ihr AMS-Betreuer bestätigt: “Das AMS weiß davon.” Sogenannte “Ghost Jobs” machen laut verschiedener Studien rund ein Fünftel aller Jobausschreibungen aus.
Vorwände
In vielen Fällen antworten Arbeitgeber:innen gar nicht erst auf Bewerbungen, so Heidi. Damit ist sie nicht allein, eine SORA-Studie im Auftrag des Momentum Instituts zur Situation von arbeitslosen Menschen zeigte 2021, dass Menschen über 51 nicht einmal bei jeder zehnten Bewerbung zum Gespräch geladen werden und besonders oft Diskriminierung dabei erleben. Auch mit andauernder Arbeitslosigkeit sinkt die Antwort-Quote. Andere schicken Standardantworten, zum Beispiel: “Es haben sich so viele qualifizierte Bewerber:innen gemeldet, deshalb können wir Sie leider nicht in die engere Auswahl nehmen.” Heidi hält das nur für einen Vorwand: “Natürlich können sie mein Alter nicht als Grund nennen, sonst könnte der Staat sie ja zur Verantwortung ziehen.”
Und dennoch muss sie sich beim AMS für die Absagen rechtfertigen. Doch hinter jeder Absage steckt auch der Fakt, dass jeder dritte Betrieb keine einzige Person über 60 Jahre beschäftigt. Nicht immer steckt Diskriminierung dahinter. Aber Altersdiskriminierung ist kein subjektives Gefühl von Einzelpersonen, sondern die bittere Realität von älteren Arbeitssuchenden. Nach einer gewissen Zeit musste Heidi ein Formular ausfüllen, um zu erklären, warum sie glaubt noch keine neue Anstellung gefunden zu haben. “Solche Formulare sollten auch Arbeitgeber:innen ausfüllen müssen”, fordert Heidi.
Die Folge von Langzeitarbeitslosigkeit: eine Herabstufung beim AMS. “Das bedeutet, dass einem jeder Job vermittelt werden kann, zu einem niedrigeren Gehalt”, erklärt die Arbeitssuchende. Dafür gibt es Bestimmungen, welche Jobs für Arbeitssuchende zumutbar sind, wenn die Jobvermittlung am ersten Arbeitsmarkt nicht erfolgreich war.
Joboffensive 50plus
Als Gegenmaßnahme für das strukturelle Problem haben die Stadt Wien und das AMS Wien die Initiative “Joboffensive 50plus” ins Leben gerufen. Davon sollen ältere Arbeitnehmer:innen und Organisationen profitieren, die bereit sind, Personen mit langjähriger Berufserfahrung einzustellen. In der Praxis erhalten teilnehmende Betriebe eine Förderung für acht Monate. Was danach passieren würde, sei laut stellvertretender Chef-Ökonomin des Momentum Instituts Barbara Schuster ungewiss.
Arbeitnehmer:innen profitieren davon, ihre bisher erworbenen beruflichen Kompetenzen einsetzen zu dürfen, so die Selbstbeschreibung der Initiative. “Ältere Arbeitnehmer:innen sollten froh sein, überhaupt noch arbeiten zu dürfen”, übersetzt Heidi die Initiative aus ihrer Sicht. Es würden Billigjobs geschaffen werden, um die Förderung abzukassieren, kritisiert die 58-Jährige.
Zumindest die Gefahr dazu sieht auch Barbara Schuster: “Es besteht die Gefahr, dass Unternehmen schlecht entlohnte, temporäre Jobs schaffen, die den Arbeitnehmer:innen nicht die Entlohnung bringen, die ihnen zustehen würde, den Unternehmen jedoch zusätzliches (Steuer)-Geld und Arbeitskraft.“
Für Heidi schwingt die Nachricht mit, dass Betriebe großzügig wären, eine ältere Person einzustellen. Deswegen müsste man sie dafür auch noch zusätzlich finanziell belohnen. “Arbeitgeber:innen beschweren sich über Fachkräftemangel – gleichzeitig stellen sie Menschen mit jahrelanger Berufserfahrung nicht ein”, fasst Heidi die unterschiedlichen Botschaften zusammen. „Wenn es ein ernsthaftes Interesse daran gäbe, ältere Arbeitnehmer:innen einzustellen, bräuchte es keine „Zuckerl“ für die Arbeitgeber:innen.“ Das Gegenargument von Unternehmen sei oft, dass ältere Arbeitnehmer:innen mehr kosten würden. Doch auch mit Gehältern von Berufseinsteiger:innen würden ältere Arbeitssuchende nur Absagen bekommen, kritisiert Heidi.
Aktion 20.000
Inspiration für die Initiative war die Aktion 20.000, die 2019 von der türkis-blauen Regierung vorzeitig beendet wurde. Mit dem Projekt sollten 20.000 zusätzliche, staatlich geförderte und kollektivvertragliche Arbeitsplätze für Menschen über 50 Jahre geschaffen werden. Bis Ende Juni 2019 wurden 4.000 Arbeitsplätze geschaffen, dann drehten ÖVP und FPÖ das Programm ab. Zwischenberichte machten einen guten Eindruck, denn auch nach dem Auslaufen der Förderung blieben 4.000 Menschen weiterhin beschäftigt.
Die “Joboffensive 50plus” wurde in Wien als Ersatz beschlossen – jedoch mit einem Unterschied. “Während bei der Aktion 20.000 gemeinnützige Jobs vom Staat für die Allgemeinheit geschaffen werden, verschiebt die Joboffensive 50plus Steuergeld in die Privatwirtschaft”, erklärt Barbara Schuster.
Ein anderes Beispiel für ein Projekt gegen Langzeit- und Altersarbeitslosigkeit ist die niederösterreichische AMS-Initiative “MAGMA” bzw. “Marienthal” (wir berichteten).
Neben der Tatsache, dass solche Projekte deutlich günstiger für den Staat sind als Langzeitarbeitslosigkeit, gäbe es laut Barbara Schuster auch andere Vorteile: “Sie ermöglichen den Teilnehmenden mehr soziale Kontakte, mehr Geld, eine bessere Lebenszufriedenheit und psychische Gesundheit.”
Bonus-Malus-System
Ein finanzieller Anreiz für Unternehmen, ältere Arbeitssuchende einzustellen, kann ein Bonus-Malus-System sein. Das Vorbild dafür ist die Ausgleichstaxe für Unternehmen, die sie bezahlen müssen, wenn sie zu wenig begünstigte behinderte Menschen einstellen.
In der Praxis sähe das laut Momentum Institut zum Beispiel so aus: In jedem Betrieb ab 24 Dienstnehmer:innen müsse eine Person über 60 Jahre angestellt sein. Ist das mehr als ein Jahr lang nicht der Fall, wird eine Zahlung fällig – gestaffelt nach Unternehmensgröße.
Die Einnahmen aus den Malus-Zahlungen könnten für Projekte à la Aktion 20.000 genutzt werden. Betriebe, die ihre Quote erfüllen, würden Zuschüsse zu den Pensionsversicherungsbeiträgen für ihre Beschäftigten als Bonus bekommen. “Damit Unternehmen die Malus-Zahlungen nicht einfach bezahlen, wie im Fall von begünstigten Behinderten aktuell der Fall, muss die Höhe sensibel genug sein, um tatsächlich einen Anreiz zu schaffen”, stellt Barbara Schuster klar.
Recht auf Urlaub
Solange Unternehmen aber ältere Arbeitnehmer:innen meiden und die Politik nicht stärker eingreift, bleibt Heidi außen vor. Und dann bleibt sie zuhause, während Freund:innen und Bekannte in den Sommerurlaub fahren. Den kann sie sich nicht leisten.
Einmal seit ihrer Arbeitslosigkeit haben sie Freunde für ein Wochenende mit ins Ausland genommen, erzählt sie. Dafür habe sie sich natürlich den Vorschriften entsprechend beim AMS für die Zeit abgemeldet. “Das werde ich nicht wiederholen, weil ich für die abgemeldeten Tage kein Arbeitslosengeld bekomme und mir dann das Geld im Alltag fehlt”, bedauert Heidi.
Dabei könnte sie ein paar Tage Urlaub von ihren täglichen Sorgen wirklich gebrauchen: “Mit jeder Absage schwindet meine Hoffnung, eine sinnvolle und meiner Qualifikation entsprechende Arbeitsstelle zu finden.”