Experiment Jobgarantie: Warum Sven Hergovich Arbeit für alle in Gramatneusiedl will
„Ich glaube, es gibt kaum etwas Schlimmeres als lange Zeit arbeitslos zu sein“, sagt Sven Hergovich. Mit dieser Einschätzung ist der Chef des AMS Niederösterreich nicht allein: Arbeitslosigkeit, die über ein Jahr dauert, wirkt sich nicht nur finanziell aus. Sie ist auch schlecht für die Gesundheit, das Selbstbewusstsein und die sozialen Kontakte.
Je länger man arbeitslos ist, desto schwieriger ist es wieder, eine Arbeit zu finden. Unternehmen geben langzeitarbeitslosen Menschen kaum eine Chance, die eigenen Fähigkeiten und Motivationen unter Beweis zu stellen. De facto unmöglich wird es, wenn es einfach zu wenig Jobs gibt.
Um diesen Kreislauf entgegenzuwirken, plant Hergovich gemeinsam mit ForscherInnen ein weltweit einzigartiges Experiment: Er gibt in einer niederösterreichischen Gemeinde allen Langzeitarbeitslosen einen Job.
Weltweit die erste Jobgarantie für alle
In Gramatneusiedl schafft das AMS mit dem Projekt “MAGMA“ öffentliche Arbeitsplätze für alle Langzeitarbeitslosen. So bekommen auch Menschen Arbeit, die keinen Platz in einem privaten Unternehmen finden. Für Personen mit Betreuungspflichten oder gesundheitlichen Problemen soll es auch flexible Arbeitszeitmodelle geben. „Das Ziel ist für jeden etwas zu finden, was zu den jeweiligen Fähigkeiten und Kenntnissen passt“, sagt Hergovich. Rund 150 Menschen machen voraussichtlich bei dem Projekt in Gramatneusiedl mit.
„Ich glaube, es gibt kaum etwas Schlimmeres als lange Zeit arbeitslos zu sein“, Sven Hergovich
Angeboten werden neben dem Arbeitsplatz über die nächsten drei Jahre auch eine Begleitung, Beratungs- und Trainingseinheiten. Niemand wird dabei zur Arbeit gezwungen. „Es ist ein Angebot“ betont der AMS-Chef in Niederösterreich. Er gehe aber davon aus, dass es praktisch alle annehmen wollen. Das sei aber eine Hypothese, die erst überprüft werden muss.
Mehrere Forscherteams aus Oxford und Wien begleiten das Projekt. Drei Studien prüfen die Wirkung des Modells auf TeilnehmerInnen und Volkswirtschaft. Das ist vergleichbar mit dem Test eines neuen Medikaments. Der Unterschied: Das „Medikament“ ist die Jobgarantie. Das Besondere daran: Es ist das erste Mal, dass eine Arbeitsplatzgarantie für alle in der Praxis getestet wird.
Geld für Arbeitsplatz statt Arbeitslosigkeit
Das Experiment ist derzeit besonders relevant. Seit der Corona-Wirtschaftskrise ist die Langzeitarbeitslosigkeit gestiegen. Und das kostet: Das AMS schätzt die Kosten für ein Jahr Arbeitslosigkeit in Österreich auf rund 30.000 Euro. Dieses Geld kann auch für das Schaffen neuer Jobs genutzt werden. Bei dem aktuellen Projekt werden die Kosten pro Person im Programm sogar geringer geschätzt als ein Jahr Arbeitslosigkeit pro Person. Und nicht nur das: Die geschaffenen Jobs sind auch gut für die Gesellschaft. Davon profitieren dann alle.
Die Idee nicht neu: Das „Recht auf Arbeit“ wird schon länger diskutiert. Oliver Picek, Chefökonom vom Momentum Institut, hat sie für Österreich durchgerechnet. Er schlägt eine Ausweitung der Aktion 20.000 und eine umfassende Jobgarantie für alle Langzeitarbeitslosen im Land vor.
AMS-Chef Sven Hergovich vermittelte selbst
Es ist kein Zufall, dass die Jobgarantie für Langzeitarbeitslose das erste Mal in Niederösterreich getestet wird. AMS-Chef Sven Hergovich hat sich schon in den letzten Jahren dafür eingesetzt, dass Menschen, die lange ohne Job sind, wieder eine Arbeit finden. So setzte er durch, dass alle Führungskräfte die Vermittlung von Langzeitarbeitslosen zur Chefsache machen und sich auch persönlich um deren Anliegen kümmern. Auch er selbst hat die schwierigsten Fälle betreut.
Die Initiative hätte doppelt gewirkt, meint Hergovich: Einerseits konnte jede Führungskraft 10 Langzeitarbeitslose intensiv betreuen. Außerdem haben MitarbeiterInnen die „schwierigsten KundInnen an ihre Chefs delegiert“. Dadurch sah er, wo es besondere Schwierigkeiten gäbe. Das war ausschlaggebend für die Entstehung des aktuellen Projekts der Jobgarantie. Sein erklärtes Ziel: Für alle einen Arbeitsplatz finden oder schaffen.
Denn es gehe um einzelne Schicksale: „Für einen Menschen heißt das, wieder einen Job zu bekommen, wieder ein Einkommen, wieder Anerkennung und Respekt. Das ist entscheidend.“
Die Arbeitslosen von Marienthal 2.0
Das Experiment erinnert an die bahnbrechende Studie, die vor 90 Jahren in derselben Gemeinde stattgefunden hat: „Die Arbeitslosen von Marienthal“. Nur umgedreht: Während es heute um die Auswirkungen einer Jobgarantie geht, ging es damals um die verheerenden Folgen von Langzeitarbeitslosigkeit.
In den 1930ern wurde mit einem Schlag eine ganze Siedlung arbeitslos. Die SoziologInnen Marie Jahoda, Hans Zeisel und Paul Lazersfeld beobachteten die Arbeitslosen von Marienthal und stellten fest, was Langzeitarbeitslosigkeit mit Menschen macht: Frust, Resignation und Apathie machen sich breit. Marienthal ist ein Ortsteil von Gramatneusiedl. Wo also vor 90 Jahren Arbeitslosigkeit studiert wurde, geht es heute um Beschäftigung.
Was erwarten sich SoziologInnen von der neuen Studie? Arbeitssoziologe Jörg Flecker von der Universität Wien begleitet das aktuelle Experiment: „Gibt man Menschen nach langer Erwerbslosigkeit die Möglichkeit, eine sinnvolle bezahlte Tätigkeit auszuüben, ermöglicht man gesellschaftliche Teilhabe und Stabilisierung der Identität. Das kann sich sehr positiv auswirken – sowohl für die Individuen als auch für die Gesellschaft.“
Bedingungsloses Grundeinkommen
Doch warum nicht gleich ein bedingungsloses Grundeinkommen? Es gäbe gute Argumente für beides, schreibt Ökonom Maximilian Kasy von der Universität Oxford auf Twitter dazu. Er und sein Kollege Lukas Lehner begleiten ebenfalls das Projekt. Während es aber bereits einige Experimente zum bedingungslosen Grundeinkommen gibt, hat es noch nie eine Jobgarantie für alle in der Praxis gegeben. Das mache das Pilotprojekt besonders spannend.