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Arbeitswelt

Langzeitarbeitslosigkeit: Was ist das Geheimnis des Erfolges von Wiener Neustadt?

Langzeitarbeitslosigkeit wird oft als individuelles Versagen dargestellt. Doch die wenigsten Unternehmen geben Langzeitarbeitslosen überhaupt eine Chance. Selten werden sie auch nur zu Bewerbungsgesprächen einzuladen. Ist eine zuletzt erfolgreiche Region im Kampf dagegen, ein Hinweis wie man besser dagegen ankommt?

Von einem „Aufwärtstrend“, „positiven Signalen“ oder „wirtschaftlicher Erholung“ ist derzeit viel die Rede. Nach zwei zähen Jahren Pandemie zieht die Wirtschaft wieder an und sinkt die Arbeitslosigkeit. “Mit Österreich geht’s wieder bergauf”, so die Erzählung. Insgesamt mag das zutreffen, doch man sollte ein paar Worte anhängen: ”aber nicht für alle”. Langzeitarbeitslose profitieren bis dato kaum vom Aufschwung. Besonders ältere Menschen bleiben auf der Strecke.

Um satte 4,5 Prozent wuchs Österreichs Wirtschaftsleistung im vergangenen Jahr. Damit hat das Bruttoinlandsprodukt (BIP) nahezu das Niveau vor der Coronakrise erreicht. Für 2022 erwartete das Wirtschaftsforschungsinstitut Wifo zumindest vor dem Krieg in der Ukraine nach der russischen Invasion einen weiteren Anstieg um 5,2 Prozent Auch die Arbeitslosigkeit hat – zumindest insgesamt – das Niveau von vor Corona erreicht. 

Doch unter den (Stand: Ende Februar) 376.861 Arbeitslosen und Schulungsteilnehmer:innen befinden sich 146.463 sogenannte Langzeitarbeitslose. Das sind Leute, die länger als ein Jahr beim AMS gemeldet sind. Und es sind deutlich mehr als vor Corona.

Wiener Neustadt: Schwierige Ausgangslage 

Der Job von Mevlüt Kücükyasar ist kein einfacher. Den Arbeitsmarkt in seiner Region beschreibt der Leiter des Arbeitsmarktservice (AMS) Wiener Neustadt als einen mit „typisch städtischer Struktur“. Anders ausgedrückt: eine überdurchschnittlich hohe Arbeitslosenquote, ein hoher Anteil von Personen mit maximal Pflichtschulabschluss und ein hoher Anteil Migrant:innen. 

In den 1970ern kamen viele Menschen aus der Türkei und dem damaligen Jugoslawien nach Wiener Neustadt, erledigten dort meist Hilfstätigkeiten in Fabriken. Das sind Jobs, die heute meist Maschinen und Roboter erledigen oder aus wirtschaftlichen Gründen ins Ausland verlagert wurden. Diese Gruppe, deren Angehörige heute meist über 50 sind, sei besonders von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen, erklärt Kücükyasar.

„Rascher wieder in Beschäftigung“ – aber wie?

Angesichts der Rahmenbedingungen lesen sich die Zahlen des AMS Wiener Neustadt überraschend gut. Die absolute Zahl der Langzeitarbeitslosen ging im Vergleich zu vor zwei Jahren nirgends so weit zurück wie hier. Gemessen an der Bevölkerungsgröße gibt es immer noch die viertgrößte Verbesserung.

In Wiener Neustadt scheint man eine Art „Sonderweg“ gefunden zu haben, der sich vom Zugang des ehemaligen IHS-Chefs und heutigen Arbeitsministers Martin Kocher teils gravierend unterscheidet. 

Auch Kocher ist der Meinung, Langzeitarbeitslose müssten „rascher wieder in Beschäftigung kommen“. Das betonte der ÖVP-Minister am Rande einer Enquete zur Reform des Arbeitslosengeldes. Aus dem Ministerium heißt es, wie in der Vergangenheit wolle man auch in Zukunft mit einer „aktiven Arbeitsmarktpolitik ein Hauptaugenmerk auf die Senkung und Verhinderung von Langzeitarbeitslosigkeit legen. Das speziell auf Langzeitarbeitslose zugeschnittene Programm „Sprungbrett“ ist mit insgesamt 300 Millionen Euro dotiert, speziell für ältere Arbeitslose setzt man unter anderem auf Eingliederungsbeihilfen, gemeinnützige Beschäftigungsprojekte und Arbeitsstiftungen. Laut Ministerium wurden in diesem Jahr bereits mehr als 47.000 Personen aus dieser Zielgruppe gefördert.

Druck über das Arbeitslosengeld

Weitaus umstrittener ist das sogenannte „degressive Arbeitslosengeld“, das seit Monaten öffentlich die Runde macht. Ein solches sieht vor, dass die Zahlungen umso geringer ausfallen, je länger eine Person Arbeitslosengeld bezieht. Der Reformvorschlag soll noch in diesem Halbjahr als Gesetzesentwurf vorliegen.

„Grundsätzlich kann ein degressives Modell dazu beitragen, die Langzeitarbeitslosigkeit einzudämmen und die Intensität der Arbeitssuche zu erhöhen“, heißt es aus dem Arbeitsministerium. Mit „stärkeren finanziellen Anreizen für Arbeitslose“ könnten diese „schneller wieder eine Beschäftigung finden“.

Hannah Quinz sieht ein solches Modell kritisch. Damit werde suggeriert, die Betroffenen würden nicht arbeiten wollen, seien also selbst schuld an ihrer Arbeitslosigkeit, kritisiert die Soziologin der Universität Wien. Dabei werde ignoriert, dass Arbeitslosigkeit ein strukturelles Problem ist – und damit unabhängig vom eigenen Bemühen.

Degressives Arbeitslosengeld? Moment mal mit Barbara Blaha

 

Langzeitarbeitslos, weil langzeitarbeitslos

Erschwerend komme hinzu, erklärt Quinz, dass Unternehmen Langzeitarbeitslose oftmals nicht einstellen, gerade weil sie eben langzeitarbeitslos sind. Laut einer Wifo-Studie sind lediglich 16 Prozent der Unternehmen bereit, Langzeitarbeitslose einen Job anzubieten. Schon um überhaupt zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden, müssen Menschen, die seit sechs Monaten oder länger ohne Job sind, im Schnitt 14 Bewerbungen abschicken.

Das Arbeitslosengeld ist in Österreich mit 55 Prozent des vorherigen Einkommens (Nettoersatzrate) im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich gering. Neun von zehn Arbeitslosen, zeigt eine SORA-Studie im Auftrag des Momentum-Instituts, leben unterhalb der Armutsgrenze (1.328 Euro monatlich für einen Einpersonenhaushalt). Expert:innen kritisieren: Ein degressives Arbeitslosengeld würde diese Problematik weiter verschärfen.

Jobgarantie in Gramatneusiedl

Soziologin Quinz forscht derzeit an einem Projekt mit dem Namen „Marienthal reversed“. Dabei knüpfen sie und ihre Kolleg:innen an die bahnbrechende „Marienthal-Studie“ aus dem Jahr 1933 an. Die Sozialwissenschaftler:innen Marie Jahoda, Paul Felix Lazarsfeld und Hans Zeisel analysierten damals die psychischen Folgen von (Langzeit-)Arbeitslosigkeit. Mit dem Ergebnis, dass Arbeitslosigkeit über Dauer passiviert, entmutigt, die Betroffenen resignierend zurücklässt.

Quinz und Kolleg:innen drehen diese Studie um: Sie begleiten die Teilnehmer:innen eines Pilotprojekts des AMS Niederösterreich. In Gramatneusiedl (Bezirk Bruck an der Leitha) wird allen langzeitarbeitslosen Personen für dreieinhalb Jahre ein kollektivvertraglich entlohnter Job garantiert. (Was ist eine Jobgarantie?) Die Teilnehmer:innen stellen beispielsweise Schulrucksäcke für Kinder her oder legen einen Radweg an.

Das Projekt läuft noch bis April 2023, ein vorläufiges Fazit kann Quinz jetzt schon ziehen: „Es gibt keinen typischen Langzeitarbeitslosen“. Die Lebensrealitäten der Betroffenen sind so unterschiedlich, wie Menschen eben unterschiedlich sind.

Mit Arbeit aus der Perspektivlosigkeit

Statt einzelne dazu zu drängen, sich den Gegebenheiten am Arbeitsmarkt anzupassen, geht man in Gramatneusiedl den umgekehrten Weg: Die Arbeit soll an die Bedürfnisse einzelner angepasst werden. Mittels Jobgarantie bekommen die Teilnehmer:innen je nach Alter, Qualifikation und individuellen Fähigkeiten eine Arbeit zugeteilt. Zum jetzigen Zeitpunkt sei bereits klar ersichtlich: „Die Möglichkeit, arbeiten zu gehen, holt Langzeitarbeitslose aus der Perspektivenlosigkeit heraus und schafft Hoffnung“, bekräftigt Soziologin Quinz.  

Herrschen bei „Marienthal reversed“ quasi Laborbedingungen vor, muss AMS-Leiter Mevlüt Kücükyasar mit dem Vorhandenen arbeiten. Und vorhanden ist teilweise relativ wenig. Im österreichischen Durchschnitt ist ein:e AMS-Betreuer:in für 250 Klient:innen zuständig. In Wiener Neustadt hätte man vieles versucht, „aber unter 1 zu 200 sind auch wir nicht gekommen“, bedauert Kücükyasar. „Sie können sich ausmalen, wie schwierig das ist, sich bei 200 Kund:innen auf jeden einzelnen einzulassen“. Dabei wäre genau das so wichtig und steht deshalb im Wiener Neustädter AMS auch so gut es eben geht im Fokus.

Für Arbeitslosigkeit gibt es vielfältige Gründe

Laut einer Studie des deutschen Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ist lediglich „eine sehr kleine Minderheit“ erwerbsarbeitslos, weil sie keine Stelle annehmen wollen. „Man kann diese fünf bis zehn Prozent nicht wegleugnen“, findet Kücükyasar. Aber sein Zugang ist ein anderer: Eingreifen, bevor Menschen in die Langzeitarbeitslosigkeit schlittern. 

Hierfür brauche es eine möglichst individuelle Beratung, also mehr Personal und mehr Geld. Denn die Gründe für eine lange Erwerbslosigkeit sind mannigfaltig und komplex, erklärt Kücükyasar. Zum Beispiel körperliche und psychische Probleme, Betreuungspflichten für Kinder oder Eltern. Auch erfahren Menschen mit Kopftuch und nicht-weißer Hautfarbe sowie Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt oftmals Diskriminierung, beobachtet der Chef des AMS Wiener Neustadt. Und ist der Stempel „Langzeitarbeitslosigkeit“ erst einmal drauf, werde es zusehends schwieriger, Betroffene wieder in Beschäftigung zu bringen.

Nach wie brauche es mehr Geld und mehr Personal, aber innerhalb eines gewissen Rahmens habe man mit gezielten Betreuungsmaßnahmen und Anreizen für Unternehmen Bedingungen geschaffen, um die Langzeitarbeitslosigkeit im Bezirk Wiener Neustadt deutlich zu senken. Die Zahl der langzeitarbeitslosen Personen liegt aktuell sogar unter dem Wert von 2019.

Ein gar nicht so geheimes „Geheimrezept“

Sein Geheimrezept? Statt auf „finanzielle Anreize“ zu setzen und Arbeitslosigkeit als individuelles Versagen zu betrachten, will Kücükyasar die jeweiligen Lebensumstände der Betroffenen stärker in den Fokus rücken. Hierbei setzt der Chef des AMS Wiener Neustadt auf mehr individuelle Beratung und auf Kooperationen mit Förderprogrammen und Beschäftigungsprojekten, die sich an unterschiedliche Zielgruppen richten – etwa an die besonders betroffenen über 50-Jährige richten. Kücükyasar überlegt. „So geheim ist dieses Rezept nicht“.

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