Wie soll man bis 67 arbeiten, wenn schon die Generation 50+ Probleme am Arbeitsmarkt hat?

Männer gehen in Österreich im Schnitt 62,2, Frauen mit 60,2 Jahren in Pension. Manche in der Politik wollen das lösen, indem sie das gesetzliche Pensionsantrittsalter noch höher ansetzen. Doch das liegt schon deutlich über dem Alter, mit dem Menschen wirklich in die Pension gehen. Ein wesentliches Problem dabei liegt nicht an den Beschäftigten, sondern ganz woanders: Es gibt einfach nicht genug Unternehmen, die Menschen über 50 Jahre einstellen.
Jahrelang Arbeitslos
Lokalaugenschein in Wien. Gerhard Höcher hat vor gut drei Jahrzehnten aus einem Wirtshaus eine Buchhandlung gemacht. Bei ihm arbeiten dort derzeit Andreas* (57), Beate* (53) und Christian* (55). Andreas ist seit knapp einem Jahr hier, Beate ein halbes, Christian erst seit wenigen Monaten.
Beate, eine eher zierliche Frau und Mutter zweier mittlerweile erwachsener Kinder, hat auch vorher im Buchhandel gearbeitet. Zuletzt war sie über ein Jahr auf der Suche nach einer passenden Stelle. “Mögliche Arbeitnehmer haben mir dann trotz meiner Erfahrung gesagt, dass ich zu teuer oder unflexibel bin.”
„Meistens bekommt man nicht einmal eine Antwort“, Christian.
“Eigentlich wird es schon ab 40 schwierig“, erzählt Christian, ein Mann mit breiten Schultern, “viele Maßnahmen von BFI, AMS und Co. sind altersbeschränkt. Ich komme eigentlich aus der Gastro, hab in der Werbung gearbeitet, mich dann aber für Grafik umgeschult und auch beworben.“ Nach zwei Jahren zuhause “schreibt man jeden an. Meistens bekommt man nicht einmal eine Antwort.“ Ein Trainer habe gemeint: Logisch, die nehmen nur bis 35 Jahre.
“Ich war 20 Jahre AHS-Lehrer. Man hat mich, wenn ich das so sagen kann, entfernt“, sagt Andreas. Vor seinem Lehramtsstudium war er aber auch schon im Buchhandel. Die Arbeit hier ist also auch eine Art Rückkehr: “Mir passt das sehr gut, es ist ein bisschen nostalgisch.“ Dieser Job nun, der gibt ihm viel mehr als nur ein Einkommen. Er bietet vor allem geistige Ruhe, nach vielen Enttäuschungen am Arbeitsmarkt.
Arbeit als Identität
Vor allem die Arbeitssuche zehrt an den Menschen. Das individuelle Leid geht in den Statistiken oft unter. “Man kommt über die Runden und muss nicht hungern, das war es aber auch schon wieder“, erzählt Christian. An Urlaub ist etwa irgendwann nicht mehr zu denken. Auf dem Arbeitslosengeld könne man sich nicht ausruhen, es wird irgendwann weniger. Die finanziellen Verpflichtungen, wenn man etwa Kinder habe, nicht unbedingt.
„Viele Langzeitarbeitslose haben Panikattacken, Depressionen und Co“, Christian.
Das führt auch zu gesundheitlichen Konsequenzen. Eine großangelegte Analyse verschiedenster Untersuchungen belegt das. Langzeitarbeitslose haben im Vergleich zu erwerbstätigen Personen ein mindestens verdoppeltes Risiko für psychische Erkrankungen, insbesondere Depression und Angststörungen. Arbeitslosigkeit scheint demnach nicht nur Folge, sondern auch Ursache für Erkrankungen zu sein; so steigt offenbar auch das Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle in der Arbeitslosigkeit.
“Und dann bekommt man kein Feedback“, wirft Beate ein. All das nagt, “Dieser Selbstzweifel, ob man überhaupt noch einen Achtstundentag aushält. So eine lange Zeit wirkt utopisch. Das fällt dir ja gar nicht auf, wenn du im Arbeitsleben bist. Arbeitslos-sein ist keine soziale Hängematte.“
„Das Traurige ist, dass man Menschen früher betrauert hat, heute ist das fast ein Schimpfwort“, Beate.
Da herrscht. Einigkeit in der kleinen Runde.
„Ich bin 57 Jahre alt, da bin ich ein Auslaufmodell“, sagt Andreas, „Ich verstehe schon, dass man länger arbeiten soll, aber wie soll das denn gehen?” Hätte er einen belastenden Job, könnte er sich nicht vorstellen, den jetzt noch 10 Jahre zu machen.
Ohne Förderungen möglich?
Für Höcher ist es aktuell eine Prinzipsache, die Älteren einzustellen. Studierende wären jünger, seien aber nicht so treu im Job. Er arbeite auch lieber mit Menschen, die näher an seinem Alter dran sind. Beim WAFF (Wiener Arbeitnehmer*innen Förderungsfonds) und AMS (Arbeitsmarktservice) würde man ihn dabei derzeit mit Förderungen unterstützen, sagt der ruhige Mann.
„Wenn diese Förderungen wegfallen, könnte ich mir das aber nicht mehr leisten“, sagt Höcher. Er hofft, die wirtschaftliche Lage lasse zu, dass er alle im selben Ausmaß beschäftigen kann, wenn die Förderungen ausgelaufen sind. Sonst müsste er selber (noch) mehr arbeiten oder an jüngere Angestellte auslagern, schließlich sind die im Regelfall billiger. Und das wären dann wieder drei ältere Arbeitslose, die bis zur Pensionierung keinen Job mehr bekommen könnten.
Wenn, dann länger arbeitslos
Zwar haben ältere Beschäftigte ein geringeres Risiko, arbeitslos zu werden – verlieren sie ihren Job, haben sie jedoch schlechtere Chancen auf eine rasche Wiederbeschäftigung. Junge (15-24) sind laut Statistik Austria mit 10,4 Prozent viel stärker von Arbeitslosigkeit betroffen als ältere (55-64), mit 4,1 Prozent. Die Älteren suchen aber dreimal so lang eine neue Stelle.
Der Anteil Älterer unter Langzeitarbeitslosen ist in den letzten 15 Jahren deutlich gestiegen, seit zwei Jahren machen sie rund die Hälfte aller Langzeitarbeitslosen aus.
Über 50? Nein, Danke
Das liegt auch an den Unternehmen und Vorurteile. Das AMS selbst hat das gemeinsam mit Sora im Rahmen einer Pilotstudie untersucht und herausgefunden.
Man verschickte auf Stellenausschreibungen im Bereich der Lebensmitteleinzelhandel und Elektroinstallation fiktive Bewerbungen, die sich nur sehr wenig unterschieden. Das Ergebnis: fast die Hälfte der 800 Bewerbungen (45 %) blieb überhaupt unbeantwortet, bei einem knappen Drittel (30 %) kam es zu Nachfragen.
Tatsächlich eingeladen wurde jemand mit 34 Jahren in 44 Prozent der Fälle. Auch wenn die Person langzeitarbeitslos war (13 Monate), sank die Wahrscheinlichkeit eingeladen zu werden so gut wie gar nicht.
Aber war die Person älter (53 Jahre), sank die Einladungswahrscheinlichkeit von 44 auf 35 Prozent. Ist sie dann auch noch langzeitarbeitslos, liegt die Wahrscheinlichkeit nur noch bei 33 Prozent. Kurz gefasst wird fast jede:r zweite Jüngere eingeladen, aber nur jede:r dritte Ältere.
Es hilft, zu handeln
Und das sind die, die besonders betroffen sind. Das WAFF übermittelte auf MOMENT.at-Anfrage für Wien die aktuellsten verfügbaren Zahlen (2023). Unter den Arbeitslosen ab 50 Jahren lag der Anteil an Langzeitarbeitslosen bei 49,6 Prozent – in allen Altersgruppen zusammen beträgt der Wert 38,2 Prozent.
Maximal fünf Jahre vor dem gesetzlichen Regelpensionsalter waren noch rund drei Viertel (76,2 %) der 55- bis 59-jährigen Frauen, und nur knapp die Hälfte (48,1 %) der 60- bis 64-jährigen Männer erwerbstätig. Das Antrittsalter der Frauen wird in den kommenden Jahren auf 65 erhöht und an die Männer angepasst. Es ist anzunehmen, dass ohne passende Maßnahmen für ältere Arbeitnehmer:innen auch bei ihnen die Beschäftigung unmittelbar vor der Pension weiter sinkt.
Das hat wiederum finanzielle Langzeitfolgen. Denn bei Arbeitslosengeldbezug wird zwar in die Pension eingezahlt, aber klarerweise weniger als wenn man bezahlt arbeitet.
Also alles ein Teufelskreis. Die Unternehmen stellen lieber Jüngere ein, die Älteren müssen länger suchen und dann bekommt man nicht einmal Antworten auf die Bewerbungen. Das alles macht viele psychisch und auch physisch krank – und geht am Ende mit weniger Geld in die Pension. Und währenddessen richten einem Teile der Politik noch aus, dass man doch eigentlich bis 67 arbeiten solle.
Investieren ist notwendig
Unverschuldet ist die Arbeitslosigkeit zudem auch meist. Ein gelegentlicher Blick in die Wirtschaftsseiten der Tageszeitung genügt, um die aktuelle Lage zu erahnen. 50 Gekündigte hier, 1.000 Entlassungen da. Oft passiert das vor allem in Regionen, die nicht endlos viele Alternativen haben. Hinter jeder Zahl stehen Schicksale.
Die Gründe für den Jobverlust reichen laut WAFF von Pensionierung der Inhaber:innen über gesundheitliche Probleme bis hin zu Kündigung bzw. Betriebsauflösung. “Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, die Beschäftigungsfähigkeit älterer Beschäftigter zu erhalten bzw. wiederherzustellen und das wertvolle Arbeitskräftepotential am Arbeitsmarkt zu nutzen und mit entsprechenden Maßnahmen zu adressieren.“
Die Kosten sind überschaubar, seit Herbst 2019 wurden 30 Millionen Euro für rund 2.300 Betroffene zugesagt. Forschung zu anderen derartigen Maßnahmen – wie die Aktion 20.000 der Rot-Schwarzen Regierung ab 2017 – zeigen, dass diese Investition dem Staat unter dem Strich sogar Geld bringt, wenn knapp zwei von drei vormals Arbeitslosen langfristig beschäftigt bleiben. Denn das führt zu mehr Einkommen bei den Betroffenen, und für weniger Ausgaben und mehr Einnahmen für den Staat.
Und die Effekte der Joboffensive 50plus können sich sehen lassen: 87 Prozent der Teilnehmer:innen hatten ein Jahr später wieder Arbeit. In der Kontrollgruppe waren nur 24 Prozent beschäftigt, lediglich sechs Prozent durchgängig.
Was wollen ältere Arbeitnehmer:innen?
Ein Unternehmen ist letztlich viel mehr als nur eine Gegenüberstellung von Einnahmen und Ausgaben, gerade ältere Arbeitnehmer:innen bringen noch viel mehr mit: etwa Lebenserfahrung, Ruhe, vielleicht Gelassenheit. Also drehen wir den Spieß für einen Augenblick um: Was brauchen ältere Arbeitende laut unseren Gesprächspartner:innen?
„Eine überschaubare Anzahl an Arbeitsstunden um die 35 Stunden wäre wichtig“, meint Christian. Auch das Umfeld ist entscheidend: „Da geht’s um ganz normale Dinge. Man kommt in der Früh und die Chef:innen wünschen einmal einen guten Tag – dann wird’s meistens auch einer.“
„Betriebsklima ist das Um und Auf. Die Tätigkeit ist sekundär“, so Beate, „Wenn mir alle nur auf die Nerven gehen, macht mir das die Arbeitsatmosphäre kaputt. Selbst wenn ich jeden Tag 100 Häusln putzen muss, wäre es in einem wertschätzenden Umfeld gut.“
Andreas meint abschließend: „Wertschätzung und gegenseitiger Respekt sind ganz wichtig.“ Für das Betriebsklima sind die Menschen vor Ort schon auch stark verantwortlich.
Insgesamt unterscheiden sich diese Wünsche vielleicht gar nicht so sehr, von denen jüngerer Arbeitnehmer:innen. Aber bei den Punkten Finanzierung und überhaupt Wertschätzung gegenüber älteren Arbeitnehmer:innen, haben die Politik und Wirtschaft noch einiges aufzuholen: Nämlich ein Umfeld zu schaffen, dass es ermöglicht, überhaupt zu arbeiten. Es braucht nicht nur Förderprogramme, sondern auch einen Kulturwandel in dem verstanden wird, dass all die Erfahrung, die ältere Arbeitnehmer:innen mitbringen, einen Wert haben, die über die Kosten hinausgehen.
* Namen von der Redaktion geändert