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Ungleichheit
Demokratie

Kleidung gestohlen: Wieso Armut dich schneller in Untersuchungshaft bringt

Kleidung mitgehen lassen und dafür in Untersuchungshaft? Das gibt es wirklich. Wie arme Menschen für kleine Straftaten noch vor dem Urteil im Gefängnis landen und was wir dagegen tun können.

„Ich möchte mich entschuldigen, es tut mir sehr Leid“, sagt R. zur Polizei. Sie ist Hausfrau aus Usbekistan, hat laut eigenen Angaben kein Einkommen, aber einen jugendlichen Sohn. Gemeinsam mit U. und S. wurde sie im Donauzentrum beim Stehlen erwischt. Kleidung im Wert von rund 1.000 Euro aus drei verschiedenen Geschäften findet der Ladendetektiv bei ihnen.

Das Geständnis und die Reue helfen R. nicht. Sie muss in Untersuchungshaft. Das Gericht begründet das auch mit ihrer Armut:

„Der dringende Tatverdacht […] fußt auf die triste Einkommens (sic!) und Vermögenslage der Beschuldigten sowie auf die die (sic!) mehrfache Tatbegehung innerhalb kurzer Zeit.“

Praktisch wortgleich – inklusive Tippfehler – findet sich die Begründung in den Akten der beiden anderen. S. ist ebenfalls Hausfrau mit Kindern, hat kein Einkommen. U. ist LKW-Fahrer und Gemüseverkäufer. Etwa 500 Euro bekommt der dafür im Monat. Alle drei geben zumindest teilweise zu, gestohlen zu haben. Alle drei bleiben anderthalb Monate lang in Untersuchungshaft in Österreich.

Wer in Untersuchungshaft kommt, ist vor dem Gesetz – noch – unschuldig. Der Staat will sicherstellen, dass Beschuldigte bis zum Gerichtsurteil nicht untertauchen oder wieder Straftaten begehen. Kritiker:innen sagen, Untersuchungshaft wird hierzulande zu schnell verhängt. Betroffen sind davon vor allem arme Menschen und jene ohne österreichische Staatsbürgerschaft.

Wer muss in Untersuchungshaft?

2020 kamen 5.575 Menschen in Untersuchungshaft. 62 Prozent von ihnen haben nicht die österreichische Staatsbürgerschaft. Zum Vergleich: Der Anteil von „Fremden“ in Strafhaft beträgt rund 50 Prozent. Diese Gruppe kommt also deutlich öfter in Untersuchungshaft.

Aber auch arme Menschen sind auffallend oft betroffen. In jedem vierten Fall haben Beschuldigte kein Einkommen. In mehr als jedem zehnten Fall haben sie keinen Wohnsitz.

Welche Folgen hat Untersuchungshaft?

„Untersuchungshäftlinge werden vorverurteilt und durch die Haft massiv unter Druck gesetzt“, sagt Rechtsanwalt Gregor Klammer, der die drei Beschuldigten aus Usbekistan vertreten hat. Trotz des schweren Eingriffs der Maßnahme würden die entscheidenden Verhandlungen oft weniger als zehn Minuten dauern. „Als Anwalt kommt man kaum zu Wort“, sagt Klammer.

„Die Untersuchungshaft ist ein massiver Einschnitt im Leben“, sagt Rechtssoziologe Walter Hammerschick am Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie (IRKS). Ein großer Teil komme zum ersten Mal ins Gefängnis, der Schock sei schwer. „Man wird so schnell in Haft genommen, dass man keine Möglichkeit hat, etwas zu regeln. Da geht es um Arbeitsplätze, Rechnungen, Familie. Da kommt man in eine Extremsituation und hat keine Ahnung, wie das ausgehen wird.“

Hammerschick verweist auf die extrem hohe Suizidrate in Untersuchungshaft. Sie liegt 7 Mal höher als bei Strafgefangenen und 17 Mal höher als in der gesamten Bevölkerung Österreichs.

Zusätzlich kostet Haft extrem viel Geld. Kleidung im Wert von rund 1.000 Euro sollen R. und die beiden anderen gestohlen haben. Die Untersuchungshaft für alle drei kostet den Staat über 20.000 Euro. Jeden Tag fallen pro Person um die 150 Euro an.

All das sind Gründe, wieso Untersuchungshaft nicht leichtfertig verhängt werden sollte, sagt Hammerschick. Seiner Studie zufolge ist das aber viel zu oft der Fall. Besonders oft wird von österreichischen Gerichten das Argument verwendet, die Personen würden auf freiem Fuß wieder eine Straftat begehen. In 90 Prozent der Fälle wird die U-Haft so begründet.

Untersuchungshaft: Armut als Haftgrund

Kleidung klauen, ist das schon eine schwere Straftat? Das Schicksal von R., U. und S. hängt an einem Wort: gewerbsmäßig. Einmal Klauen, dafür kommt man kaum ins Gefängnis. Wird aber vermutet, dass dahinter ein Geschäft steht, reagieren Gerichte scharf. Aber: „Dass jemand gewerbsmäßig handelt, wird schnell angenommen“, sagt Rechtssoziologe Hammerschick. „Oft stimmt das auch. Aber nicht immer.“

Dazu kommt, dass Menschen in instabilen Lebenslagen häufiger und oft sogar wegen geringer Vergehen in Untersuchungshaft genommen werden. Wie bei R. Ihr fehlendes Einkommen wird als Risikofaktor angenommen. Weil sie „weder über ein ihre Bedürfnisse deckendes Einkommen noch über Vermögen verfügt“, heißt es in R.s Akten. Ein häufiges Argument, das auch Rechtssoziologe Hammerschick kennt. „Das lässt sich leicht argumentieren und auch nicht ganz von der Hand weisen. Ein bitterer Beigeschmack bleibt trotzdem“, sagt er. Denn tatsächlich ist Armut ein Grund, eher in Haft zu kommen. Gerade bei gewaltlosen Straftaten und Beschuldigten, die keine Gefahr für andere darstellen, stellt sich die Frage, ob das nicht anders gehen muss.

(In Deutschland trifft die Untersuchungshaft besonders oft wohnungslose Menschen. Mehr dazu hier.)

Was sind Alternativen zur Untersuchungshaft?

Eine Haft verbessert schwierige Lebensbedingungen aber nicht. Alternativen zur Untersuchungshaft könnten aber sehr wohl helfen. Hammerschick schlägt vor, die vorläufige Bewährungshilfe auszuweiten. Das würde bedeuten, dass die Beschuldigten vor dem Gerichtsprozess Hilfe und Beratung bekommen, etwa wenn es um Sucht oder Arbeitslosigkeit geht. Dort müssten sich Beschuldigte regelmäßig melden. „Wenn die sozialen Umstände verbessert werden, reduziert das nicht nur die Haftgründe, sondern bereitet im besten Fall auf ein rechtskonformes Leben vor.“

Schwieriger ist das, wenn die Betroffenen keinen festen Wohnsitz in Österreich haben. Doch auch hier gäbe es Alternativen zum Gefängnis. Man könnte betreuten Wohnraum für diese Menschen schaffen. Hammerschick fordert, hier kreativ zu werden.

Diese sogenannten „gelinderen Mittel“ werden aber nur selten eingesetzt, weiß er aus seinen Gesprächen mit Richter:innen. Die Sorge: Sie würden nicht wirken und die Beschuldigten untertauchen oder wieder eine Straftat begehen.

Alternativen zu Untersuchungshaft und ihre Wirkung nur wenig erforscht. Das Justizministerium liefert keine Daten zur Wirkung. Dabei wäre das wichtig. Belastbare Zahlen würden helfen, Vertrauen in Alternativen zu fassen. Dann könnte die Untersuchungshaft tatsächlich nur mehr als letztes Mittel eingesetzt werden, wo es wirklich nötig ist.

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