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Arbeitswelt

10 Jahre nach der Katastrophe von Rana Plaza: "Wir kehren zu den alten schlechten Bedingungen zurück"

Vor 10 Jahren stürzte in Bangladesch die Textilfabrik Rana Plaza ein. 1.134 Menschen kamen dabei ums Leben, über 2000 wurden verletzt. Die Katastrophe löste eine Debatte über die Missstände in der Textilbranche aus. Hat sich die Lage gebessert? "Wir erleben eine Kehrtwende" sagt Gewerkschafter Rashedul Alam Raju aus Bangladesch.
 
 

MOMENT.at: Zehn Jahre nach Rana Plaza: Wie einschneidend war diese Katastrophe für die Textilindustrie in Bangladesch und weltweit?

Rashedul Alam Raju: Es war einer der größten Industrieunfälle der Geschichte und hat das gesamte globale System der Lieferketten und auch den Produktionsprozess erschüttert. Alles. Früher dachten die Menschen nicht darüber nach, dass in der Lieferkette der großen Marken so viele Arbeiter:innen sterben.

MOMENT.at: Nur der öffentliche Druck nach Rana Plaza hat Veränderungen bewirkt. Was passierte, nachdem der in den vergangenen Jahren weniger wurde?

Raju: Im Moment erleben wir eine Kehrtwende. Wir kehren zu den alten schlechten Bedingungen zurück. Die Regierung von Bangladesch tut nichts, um die Lage der Arbeiter:innen in den Fabriken zu verbessern. Es gibt eine Behörde, die die Fabriken überprüfen soll. 400 Inspektoren sitzen in diesem Regierungsbüro, aber sie überwachen die Fabriken und Arbeitsbedingungen nicht aktiv.

MOMENT.at: Üben die Unternehmen Druck auf die Regierung aus, die Bedingungen in den Fabriken eben nicht zu verbessern und zu kontrollieren?

Raju: Ich sage nicht, dass die Arbeitgeber Druck ausüben. Aber ich muss sagen, dass es Einflüsse gibt. Denn die Arbeitgeber sind auch Teil der Regierung. Wann immer die Arbeitnehmer:innen nach Rana Plaza Gesetzesänderungen vorgeschlagen haben, kam die Seite der Arbeitgeber mit einem Gegenvorschlag. Und jedes Mal wurden Gesetze nach ihren Vorstellungen geändert. 

Um das zu veranschaulichen: Der ehemalige Staatsminister für Arbeit und Beschäftigung wollte sich mit dem Premierminister treffen. Der hat ihn drei, vier Tage lang warten lassen, bis er einen Termin bekam. Wenn die Vorsitzenden der Arbeitgeberverbände daran interessiert sind, den Premierminister zu treffen, dann klappt das innerhalb weniger Stunden. Sie können sich also vorstellen, wie groß der Einfluss der Industriellen und Geschäftsleute in Bangladesch ist.

MOMENT.at: Liegt es an den internationalen Marken, Druck auszuüben, damit die Regierung etwas tut?

Raju: Ja, es sind die Händler:innen und Marken, die Druck auf sie ausüben müssen, etwas zu ändern. Sie können ihre Verantwortung nicht leugnen. Die Fabriken und Arbeiter:innen stellen die Kleidungsstücke ja für sie her. Daher sollten sie auch Verantwortung für die Sicherheit der Arbeitnehmer:innen übernehmen.

MOMENT.at: Internationale Marken unterschreiben Verhaltensregeln, in denen sie davon sprechen, dass die Arbeiter:innen sich organisieren können. Funktioniert das?

Raju: Das Ziel der ausländischen und lokalen Marken ist ihre Gewinne zu erhöhen. Ja, es gibt diese Verhaltenskodexe, die Marken üben auch Druck auf die Produzenten aus, die Arbeitsrechte in den Fabriken einzuhalten. Aber sie handeln nur, wenn etwas passiert. Wie nach der Tragödie von Rana Plaza und nach dem Brand in der Tazreen-Kleiderfabrik. Danach gab es einen riesigen Aufschrei und Forderungen.

Jetzt ist es so: Wir kontaktieren die ausländischen Marken und bitten sie, uns zu helfen, diese Verhaltensregeln auch vor Ort umzusetzen. Aber meistens sehen wir keine positiven Reaktionen. Vielmehr sprechen sie im gleichen Ton mit uns wie die Arbeitgeber:innen vor Ort.

MOMENT.at: Was muss sich ändern, damit die Arbeiter:innen mehr Gehör finden, besonders bei internationalen Marken und Händlern?

Raju: Wir haben nur begrenzten Spielraum, mit den internationalen Marken und Händlern zu sprechen. Die Arbeiter:innen können nicht direkt mit ihnen Kontakt aufnehmen. Sie kommen auch nicht zu Interviews mit uns oder zu Diskussionsveranstaltungen. Sie sitzen immer nur mit den Arbeitgebern zusammen. Sie verhandeln nur mit den Arbeitgebern und schließen nur mit ihnen Geschäfte ab. 

Natürlich könnten sie Druck machen, die Rechte der Arbeitnehmer:innen zu verbessern. Aber die Arbeitgeber haben immer die Haltung, dass die Arbeiter:innen ihre Feinde sind. Sie sehen Arbeiter:innen immer als Bedrohung ihrer wirtschaftlichen Interessen. Ihretwegen können sie nicht genug Gewinn machen. Die internationalen Marken sollten Druck machen, dass auch wir am Verhandlungstisch sitzen. Nur so wird es einen sozialen Dialog geben, der diese Kluft schließt.

MOMENT.at: Was sollten Menschen tun, die Kleidung aus Bangladesch kaufen, um diese Art von Industrien zu stoppen?

Raju: Die Konsument:innen der globalen Modemarken spielen eine wesentliche Rolle und müssen darüber nachdenken. Denn natürlich können sie Druck auf die Marken ausüben, die Arbeiter:innen ausbeuten, indem sie diese boykottieren. Sie können nachlesen, was in deren Verhaltenskodex steht und wie sie die Arbeitsrechte in ihren Lieferketten einhalten. Die internationalen Marken führen sogenannte Audits durch, in denen die Situation untersucht wird. Es ist aber fraglich, ob diese Berichte tatsächlich unabhängig erstellt worden sind und die Lage der Arbeiter:innen fair und genau beurteilt wird.

MOMENT.at: Das Abkommen Accord brachte den Arbeiter:innen etwas höhere Löhne. Aber noch immer nicht existenzsichernd. Verbessert sich hier etwas?

Raju: Gerade werden in Bangladesch die Mindestlöhne neu verhandelt. Zuletzt wurden sie im Jahr 2018 erhöht – auf umgerechnet 95 US-Dollar. Nach 2018 wurden Tausende von Arbeitnehmer:innen gekündigt. Während und nach COVID-19 wurden Überstunden nicht ausbezahlt. Wegen des Krieges zwischen Russland und der Ukraine ist die Inflation in Bangladesch gestiegen und die Rohstoffpreise explodiert.

Dadurch sanken die realen Löhne der Arbeiter:innen. Die 95 Dollar von 2018 sind jetzt nur noch 75 Dollar wert. Wir fordern die Regierung auf, die Mindestlöhne auf 23.000 Taka brutto im Monat zu erhöhen. Das entspricht 200 US-Dollar. Bisher hat die Regierung das abgelehnt. Wir kommen mit unseren Forderungen nicht durch.

MOMENT.at: Warum ist es so schwer für die Arbeiter:innen in Bangladesch, ihre Interessen durchzusetzen?

Raju: Es gibt einen Mindestlohnausschuss. Die Mitglieder vonseiten der Arbeitnehmer:innen bestimmt aber die Regierung. Sie ernennen immer Vertreter:innen, die die Regierungslinie unterstützen oder sogar aus der Regierungspartei kommen. Sie vertreten nicht wirklich die Interessen der Textilarbeiter:innen. Im sogenannten Nachhaltigkeitsrat sitzen 18 Leute. Zwölf davon kommen von der Industrie und nur sechs vonseiten der Arbeitnehmer:innen. Wir sind also immer in der Minderheit. Unsere Themen werden unterdrückt, ihre Agenden durchgesetzt.

Inzwischen werden wir uns immer mehr Steine in den Weg gelegt. Unsere Anträge werden aus fadenscheinigen Gründen abgelehnt. Stattdessen lassen sie „gelbe“ Gewerkschaften (Anmerkung: Gewerkschaften, die von der Arbeitgeberseite dominiert werden.) problemlos zu. Bei uns dauert es Monate oder ein Jahr. Die Rechte der Arbeitnehmer:innen wirklich durchzusetzen, wird immer schwieriger.

MOMENT.at: Sie wurden vor einigen Jahren wegen Ihrer Gewerkschaftsarbeit verhaftet. Was waren die Gründe? Mit welcher Art von Repression waren und sind Sie konfrontiert?

Raju: Es ist nicht zu leugnen, dass sich nach Rana Plaza etwas getan hat: Die Arbeitsbedingungen sind besser, die Gebäude sicherer. Damals gab es riesigen Druck auf die Regierung vonseiten der Konsument:innen und der Firmen. Gewerkschaften wurden an immer mehr Orten zugelassen. Aber das hat sich wieder geändert.

Gewerkschafter:innen und Arbeiter:innen werden nun schikaniert und kriminalisiert. Die Polizei geht auf Druck der Arbeitgeber gegen uns vor. Wenn wir gegen Kündigungen vorgehen, reichen die Arbeitgeber Strafverfahren gegen uns und die Arbeiter:innen ein. Wir sind ständig mit Rechtsstreitigkeiten und falschen Anschuldigungen konfrontiert.

Es gibt auch andere Methoden: Anrufe von unbekannten Nummern, in denen wir bedroht werden. Arbeitgeber setzen lokale Schläger und einflussreiche Leute direkt gegen uns ein. Es geht ihnen darum, unsere Arbeit zu unterdrücken.

MOMENT.at: Zehn Jahre nach der Katastrophe wurden der damalige Inhaber Sohel Rana und 34 weitere Beschuldigte noch immer nicht für die Tode belangt. Warum dauert das so lange?

Raju: Es braucht den politischen Willen dazu. Sie hätten den Fall an ein gesondertes Gericht geben können, damit es schnell zu einem Prozess kommt. Aber das haben sie nicht. Stattdessen haben sie einen ordentlichen Prozess angestrengt, der 10 oder 20 Jahre dauern wird. Alles wird verzögert, das ist das Hauptproblem.
Und die Katastrophe war vermeidbar.

Es hätte nur 5 Stockwerke hoch gebaut werden dürfen. Der Besitzer hat illegal drei weitere Stockwerke gebaut. In jeder Etage standen schwere Maschinen, das Gebäude hatte sichtbare Risse. Die Arbeiter:innen weigerten sich, dort reinzugehen. Der Besitzer und die Arbeitgeber haben sie gezwungen, in die Fabriken zu gehen und weiterzuarbeiten. In keiner der Fabriken waren Gewerkschaften zugelassen, Arbeitnehmer:innen waren nicht organisiert. Sonst hätten sie das verhindern können.

MOMENT.at: Wurden zumindest die Familien der Todesopfer und die Überlebenden der Katastrophe angemessen entschädigt?

Raju: Nicht vollständig. Arbeiter:innen können ihre Rechte kaum durchsetzen. Die Arbeitsgerichte sind überlastet. Arbeiter:innen müssen weit reisen, um überhaupt zu den Gerichten zu kommen. Sie bekommen keinen Urlaub von ihren Fabriken, um vor Gericht zu erscheinen. Sie haben Anwaltskosten. Die Familienmitglieder von Verstorbenen haben inzwischen eine gewisse Entschädigung bekommen.

Für die, die verletzt wurden, arbeitsunfähig und traumatisiert sind, sieht es nicht so gut aus. Manche von ihnen haben etwas Geld erhalten. Das geht aber ausschließlich für die medizinische Behandlung drauf. Aber wie sollen sie jetzt überleben und ihre Existenz für sich und ihre Familien sichern? Es gibt keine Hilfe für sie. Das ist das Hauptproblem. Wir sprechen das immer wieder an, aber niemand hört zu.

 

Gewerkschafter Rashedul Alam Raju aus Bangladesch.

 

Zur Person: Rashedul Alam Raju ist Generalsekretär der Gewerkschaft Bangladesh Independent Garment Union Federation BIGUF. Im Jahr 2017 wurden er und andere BIGUF-Führer verhaftet. Die Polizei sprach auch gewaltvolle Drohungen gegen ihn aus.

 

 

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