Wer darf wütend sein, Amani Abuzahra?

MOMENT.at: In deinem Buch geht es um Wut. Die wird in unserer Gesellschaft nicht allen erlaubt. Wer darf wütend sein, wer nicht?
Amani Abuzahra: Wut wird nicht allen zugestanden. Wenn marginalisierte Menschen ihre Wut ausdrücken, werden sie als bedrohlich gebrandmarkt. Sie werden in Schubladen gesteckt. Das Bild der “Angry Black Woman” ist eine prominente Schublade. Es wird gesagt: Du bist wütend, weil du Schwarz bist. Und dann gibt es die Seite der besorgten Bürger:innen. Sie dürfen wütend sein, sie dürfen auf die Straße gehen. Denken wir nur an die Corona-Demos, die sich sehr stark mit Rechtsextremismus vermischt haben. Oder Proteste gegen Geflüchtete, gegen Migration.
Weißen Menschen wird Wut zugestanden. Die Sorgen, die Emotionen dieser Bürger:innen werden ernst genommen. Sie gelten nicht als Bedrohung. Es wird versucht zu verstehen, warum sie wütend sind, warum sie was fühlen.
In der Wissenschaft wird das beschrieben als: “feeling power”. Gefühle werden zu einem Power-Tool, zu einem Privileg. Für viele ist es normal, ausdrücken zu können, wie man sich fühlt. Aber andere sind eingesperrt. Auf gesellschaftlicher Ebene gibt es ein Ungleichgewicht, wie wir auf Wut blicken.
MOMENT.at: Was macht das mit Menschen, wenn ihre Wut nicht erlaubt ist?
Abuzahra: Viele Betroffene erzählen mir, sie können Wut gar nicht mehr spüren. Stattdessen werden sie traurig, müssen weinen. Das ist vor allem bei Frauen, auch bei Weißen Frauen, ein Thema. Denn wütende Frauen galten lange und gelten noch immer als hysterisch. Dabei waren und sind sie berechtigterweise wütend. Aber anstatt nach den Gründen zu fragen, hat man ihnen Antidepressiva verschrieben, hat Sigmund Freud ihre Wut als Hysterie, “die Krankheit des Gegenwillens”, bezeichnet. Heute erlauben sich viele gar nicht, wütend zu sein.
Stattdessen wird von ihnen erwartet, stark zu sein. Dem Bild “Angry Black Woman” steht das “Strong Black Woman” gegenüber. Aber marginalisierte Menschen wollen und können vielleicht nicht immer stark und schlagfertig sein. Sind ja die anderen auch nicht. Zwischen “Angry Black Woman“ und “Strong Black Woman“ gibt es viele Facetten an Gefühlen, die ihnen nicht erlaubt werden.
Ich vergleiche Gefühle gerne mit Wegweisern auf einer Landkarte. Sie weisen mich durch Höhen und Tiefen. Wenn mir die Gefühle aber nicht zugestanden werden, werde ich an meinem Weg gehindert. Insofern sind die zwei Pole – “Angry” und „Strong“ – sehr einschränkend.
MOMENT.at: Wut steht also nicht für sich alleine. Wie sind die verschiedenen Gefühle miteinander verknüpft?
Abuzahra: Eigentlich sollte es in dem Buch nur um Wut gehen. Aber im Laufe des Schreibens habe ich bemerkt: Wut ist eine Deckel-Emotion. Hebt man den Deckel an, verbergen sich darunter ganz andere Emotionen: Angst, Trauer, Erschöpfung, Scham.
Marginalisierte Menschen müssen Angst davor haben, die Wohnung oder die Arbeitsstelle nicht zu bekommen. Viele sind hier geboren, hier sozialisiert. Sie fürchten sich trotzdem, ihre Existenz nicht sichern zu können, weil sie den Job nicht bekommen – wegen Rassismus. Und da steht Österreich ganz schlecht da. Im EU-Vergleich ist Österreich eines der rassistischsten Länder.
MOMENT.at: Du schreibst in deinem Buch, die europäische Landkarte der Gefühle ist von Hass und Angst durchzogen. Beides richtet sich gegen “die Anderen”. Wie entsteht diese Unterteilung?
Abuzahra: Sie ist nicht in Stein gemeißelt, kein gottgegebenes Gesetz. Sie ist konstruiert und verschiebt sich. Wenn wir geschichtlich zurückblicken, hat sich das Feindbild gewandelt. In Österreich gibt es aber schon einen roten Faden, der sich durch die Geschichte zieht: Oft waren Muslim:innen “die Anderen”. Denken wir nur an die Türkenbelagerung. Auch 9/11 haben europäische, rechte Parteien für sich genutzt.
Ein aktuelles Beispiel: Es wurde untersucht, welche frauenpolitisch relevanten Themen 2018 von Politiker:innen vorgeschlagen wurden. Thema Nummer eins war das Kopftuch. Da kann man sich auch fragen, wieso geht es nicht um Gender Pay Gap, Arbeitslosenrate, Frauenpension?
Manchmal glaubt man, die Unterteilung in “Wir” und “die Anderen” schadet nur den “Anderen”. Natürlich tut es das. Menschen sind direkt von Rassismus betroffen. Aber es schadet auch denen, die sich zu dem “Wir” zählen. Es fallen wichtige, gesamtgesellschaftliche Themen unter den Tisch, wenn man sich nur auf „die Anderen“ fokussiert.
MOMENT.at: Wie kann der Wut von marginalisierten Menschen Raum gegeben werden?
Abuzahra: Wut ist eine Emotion, die ganz klar aufzeigt, dass eine Grenze überschritten wird. Wir müssen zuallererst verstehen, dass es okay ist, wütend zu sein. Und dafür braucht es Räume, in denen man sich mit Inhalten und Gefühlen ausdrücken kann. Aber Gefühle zu zeigen, die vorher nicht erwünscht waren, braucht Zeit. Wut darf einen Raum haben. Das bedeutet nicht, basierend darauf sofort handeln zu müssen.
Es geht nicht darum, den Menschen den Hammer in die Hand zu drücken, sondern den Stift, das Mikrofon, den Pinsel. Es geht darum, anderen Leuten verstehen zu geben, warum ich wütend bin.
Es gibt das bekannte Zitat: If you’re not angry, you’re not paying attention. Wenn du wütend bist, und die Person neben dir ist nicht wütend, hat sie vielleicht nicht verstanden, wieso du wütend bist.
Es braucht also die Ermutigung, wütend zu sein und hinzuhören. Denn das bedeutet, dass Menschen an den Gründen meiner Wut interessiert sind. Das bedeutet, sie wollen Rassismus verstehen, Ungleichheit verstehen. Dann hat Wut einen reinigenden Moment, weil sie aufzeigt, wer sich mit mir solidarisiert. Dann kommen wir von der individuellen zur kollektiven Wut. Das bringt uns ins Handeln. Das bringt uns dazu, Politiker:innen zu kritisieren, Dinge zu verändern.