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Arnheim erlässt Schulden: Erfolgreicher Kampf gegen neoliberales Ammenmärchen?

Arnheim erlässt Schulden: Erfolgreicher Kampf gegen neoliberales Ammenmärchen?
Die Stadt Arnheim in den Niederlanden erlässt 50 Familien ihre Schulden. Ist das die Lösung?
Die niederländische Stadt Arnheim ist etwa so groß wie Innsbruck. Und sie startet ein ungewöhnliches Projekt zur Armutsbekämpfung: Sie befreit 50 Familien bedingungslos von ihren Schulden. Das Projekt “Immerloo schuldenfrei” soll über die Schuldenbefreiung dazu beitragen, andere Probleme zu lösen, die Frage aber nach strukturellen Lösungen bleibt offen.

Im Stadtteil Immerloo leben die ärmsten Menschen der Niederlande, knapp 40 Prozent von ihnen unter der Armutsgrenze. “Unsere Regierung muss anfangen, das Problem an der Wurzel zu packen, sonst wird es uns früher oder später überrollen”, sagt der Stadtrat der sozialdemokratischen Partei Mark Lauriks. Die Stadtregierung tut nun selbst etwas. Sie hat in Immerloo 50 Haushalte ausgewählt, an die sie eine Summe von insgesamt 700.000 Euro verteilt.  Um von der Stadt ausgewählt zu werden, musste man neben den Schulden bei mindestens zwei Gläubiger:innen auch zumindest ein Kind haben. 

Stadt muss um Gesetze herum arbeiten

“Wir wollen eine landesweite Debatte für höhere Mindestlöhne und gegen zusätzlicher Kosten, wenn Schuldner nicht bezahlen, lostreten”. Denn Arnheim selbst muss für dieses Projekt um geltende Gesetze herum arbeiten. “Der Stadtrat darf per Gesetz nicht einfach Gelder ausschütten. Wir versuchen dieses Gesetz so gut wie möglich durch private Fonds und unserem Projekt zu umgehen”, sagt Lauriks. 

Man finanziert das Projekt durch Spendengelder aus drei privaten Fonds. Dafür haben Gemeinden, verschiedene Wohlfahrtsorganisationen, eine Immobilienfirma und eine Krankenversicherung zusammengearbeitet. Ein Energieunternehmen leistet beispielsweise einen Beitrag, indem es die Schulden, die bei ihnen gemacht wurden, ganz oder teilweise erlässt. Steuern wurden keine dafür verwendet.

Im Gegenteil: Die Idee ist, dass die Gesellschaft mit solchen Programmen Geld spart – auch wenn es öffentliche Gelder wären. Die Folgen problematischer Schulden zu bekämpfen kostet in den Niederlanden jährlich 17 Milliarden Euro. Dabei wird die Höhe solcher Schulden auf nicht einmal 3,5 Milliarden Euro geschätzt. Es wird viel Aufwand betrieben, der vor allem einer ganzen Industrie an Inkassobüros nützt. Die Schulden einfach zu erlassen, wäre offensichtlich billiger und würde viel Leid vermeiden. Aber Gegner:innen davon warnen vor einem “moralischen Risiko”. Wenn der Staat hier hilft, was würde Menschen denn dann davon abhalten, sich heillos zu überschulden?

Ein neoliberales Ammenmärchen enttarnt: Bregmans Utopien für Idealisten

Dahinter steckt ein menschen- und armen-feindliches Weltbild, das in unserem Alltag tief verwurzelt ist und stetig weiter verfestigt wird. Die britische Ex-Premierministerin Margaret Thatcher bezeichnete Armut einst sogar als Charakterschwäche. “Heutzutage gibt es in westlichen Ländern keine Armut mehr. Wenn doch, dann nur als wirklich harte Charakterschwäche“, behauptete die neoliberale Regierungschefin. Kurz und knapp zusammengefasst: Du bist arm? Selbst schuld. In ein ähnliches Horn blasen konservative, rechte und neoliberale Politiker:innen, Kommentator:innen und Lobbygruppen immer wieder.

Der niederländische Historiker Rutger Bregman hat das in seinem Buch “Utopien für Idealisten” so beschrieben: “Wir glauben, dass arme Menschen nicht gut mit Geld umgehen können. Um ihnen zu ‘helfen’ haben wir deshalb irrsinnig viele Hilfsprogramme, mit Bergen an Papierkram, Registrierungssysteme und einer Armee an Inspekteur:innen in die Welt gestellt.” Der Grund sei ein ideologisch gestreutes Misstrauen gegenüber anderen Menschen: “Die unterschwellige Botschaft lautet immer: Bedingungsloses Geld macht Menschen faul. Wir haben genug Beweise dafür, dass das nicht stimmt.” 

Die Forschung zeigt, dass das nicht so ist. Arme Menschen sind nicht arm, weil sie faul sind. Armut kann allen passieren. Und einmal darin gelandet, ist es schwierig, aus ihr heraus zu kommen. 

Was sind langfristige Lösungen aus der Schuldenfalle?

In Arnheim können die ausgewählten Familien zwei Jahre lang auch dabei beraten werden, wie sie langfristig schuldenfrei bleiben. Wenn sie das möchten. Gegen Beratung ist nichts einzuwenden. Gleichzeitig lenkt das aber doch auch die Verantwortung wieder auf die Menschen, die von Armut betroffen sind. 

“In einer idealen Welt bekommen diese Leute einfach höhere Löhne. Ich denke, es ist klar, dass unser Projekt keine Langzeitlösung darstellt.”, sagt der niederländische Stadtrat Lariks. “Es gibt Studien, die zeigen, dass wenn Menschen keine Schulden mehr haben, sie den psychischen Druck nicht mehr spüren, um über die Runden zu kommen. Das gibt ihnen Raum, um über langfristige Lösungen nachzudenken.” 

Die Frage beantwortet das nur so halb. Denn Armut ist ein strukturelles Problem. Niemand will arm sein und Menschen tun in der Regel ohnehin ihr bestes, um diese schreckliche Situation zu vermeiden. “Das Projekt in Arnheim klingt spannend und manchen dieser Familien kann ein Schuldenerlass sicher helfen, um langfristig aus der Armutsfalle zu gelangen. Aber dafür muss man sich jeden einzelnen Fall genau ansehen”, sagt Karin Heitzmann, Armutsforscherin an der WU Wien und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Armutskonferenz. “Man muss sich die Umstände in dem Viertel Immerloo ansehen. Gibt es genug Arbeit dort? Verdienen Menschen genug, um davon zu leben? Gibt es die Möglichkeit, ihre Mieten zu verringern?” 

Armut: Situation in Österreich

Auch in Österreich sind mehr als 1,3 Millionen Menschen armutsgefährdet, das sind 15 Prozent mehr als noch vor fünf Jahren. 2023 galten 336.000 Menschen als “erheblich materiell und sozial depriviert” . Knapp eine Million Haushalte kann keine unerwarteten Ausgaben über 1.370 Euro tätigen. Sozialleistungen für Familien seien zwar an die Inflation angepasst worden. Aber: “Vor allem armutsgefährdete Menschen ohne Kinder sind seit Corona durch den Raster der Sozialleistungen gefallen. Mehr noch: man diskutiert weiter über Kürzungen”, sagt Heitzmann. 

Schon heute fehlen einer erwerbsarbeitslosen Person 2023 im Schnitt trotz Arbeitslosengeld rund 420 Euro, um die Armutsgefährdungsschwelle überhaupt zu erreichen. Dabei sind Inflationspreise noch gar nicht miteinbezogen.

“Dass Menschen zu wenig Geld verdienen, trifft vor allem Alleinerziehende, Migrant:innen und kranke Menschen.”, sagt Heitzmann. “Was aber besonders auffällig ist, ist der hohe Anteil an armen Menschen mit psychischen Krankheiten.” Oft sind die auch wiederum eine Folge von Armut. Denn Armut ist oft mit Scham, dem Gefühl des Selbstversagens und Depression verbunden. 

Es braucht: Bessere Löhne, Sozialleistungen und strukturelle Veränderung

Im Vergleich zu den Niederlanden bleibt man hierzulande von der Debatte über einen höheren Mindestlohn “verschont”. In Österreich gibt es nämlich keinen gesetzlichen Mindestlohn. Würden wir in allen Branchen den Lohn wenigstens an deutsche Mindestlohn-Verhältnisse anpassen, würde das 300.000 Menschen nützen. Nebenbei würden das die Kaufkraft um 950 Millionen Euro steigern.

Um Armut langfristig und großflächig zu bekämpfen, braucht es strukturelle Lösungen und armutsfeste Sozialleistungen. Das gilt nicht nur für die Niederlande, sondern überall. 

“Es ist wichtig, festzuhalten, dass Menschen, die in Immerloo leben, nicht das Etikett von Opfer oder “traurig” verdient haben. Das sind extrem resiliente Menschen, die etwas aus ihrem Leben machen – trotz der riesigen Steine, die ihnen in den Weg gelegt werden”, sagt Lauriks abschließend. 

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