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Demokratie
Ungleichheit

Belarus: „Lukaschenko kennt nur ein Mittel – und das ist Gewalt“

Einschüchterung, Gewalt, Festnahmen, erpresste Geständnisse. Ein Jahr nach seiner offensichtlich gefälschten Wiederwahl, bekämpft Präsident Alexander Lukaschenko die Protestbewegung in Belarus mit harter Hand. Selbst im Ausland scheinen Oppositionelle nicht sicher. Es gibt immer weniger Stimmen im Land, die offen Kritik äußern. Wir sprachen mit einem Gegner des Regimes.

Erstarrung in Belarus. Ein Jahr ist vergangen, seit Hunderttausende Menschen auf die Straßen gingen und gegen Präsident Alexander Lukaschenko und dessen offensichtlich geschobene Wiederwahl protestierten. Heute sitzt Lukaschenko noch immer im Präsidentenpalast von Minsk.

Die von der Protestbewegung geforderte Neuwahl hat es nicht gegeben. Sicherheitskräfte erstickten die Straßenproteste, Zehntausende Menschen wurden festgenommen, Tausende sollen gefoltert worden sein, Hunderte politische Gefangene sitzen hinter Gittern. Gerüchte gehen um, es würden Konzentrationslager errichtet.

Dissident Protassewitsch kaum wiederzuerkennen

Das Regime geht hart gegen kritische Stimmen vor. Im Mai zwang es die Piloten eines internationalen Flugs mittels fingierter Bombendrohung, in Belarus zu landen. An Bord war der oppositionelle Blogger Roman Protassewitsch und seine Partnerin Sofia Sapega, beide wurden verhaftet.

Kurz darauf gab er ein öffentliches „Geständnis“ ab. Seit Ende Juni leben Protassewitsch und Sapega in einem von der Polizei bewachten Haus, dürfen sich frei bewegen. Auf seinem neuen Twitter-Account ist Protassewitsch kaum wiederzuerkennen angesichts seiner regimefreundlichen Beiträge.

Oppositionellen, die nicht mit den Behörden kooperieren, ergeht es schlecht. Adaria Guschtyn war Redakteurin beim ehemals erfolgreichsten und im Mai geschlossenen Nachrichtenportal des Landes Tut.by und Korrespondentin der Plattform Nascha Niva. Sie verfasste ein kritisches Facebook-Posting. Nur Stunden später wurde Jahor Mirzanowitsch, Guschtyns Ehemann und Chefredakteur von Nascha Niva, verhaftet und das Medium gesperrt.

Lukaschenkos Arm reicht bis nach Tokio

Anfang August verschwand in Kiew Regierungskritiker Witaly Schischow und wurde einen Tag später an einem Baum erhängt aufgefunden. Mitstreiter:innen sind überzeugt: Es war als Selbstmord getarnter Mord, ausgeführt von Lukaschenkos Regime und dessen Geheimdienst, der wie in der untergegangenen  Sowjetunion noch immer KGB heißt.

Während der Olympischen Spielen in Tokio sollte die Sprinterin Kristina Timanowskaja mit Gewalt nach Belarus zurückgebracht werden. Zuvor hatte sie in einem Video Sportfunktionäre ihres Landes kritisiert. Timanowskaja erhielt ein humanitäres Visum in Polen, reiste über Wien nach Warschau.

„Die Regierung Lukaschenko kennt nur eine Form, das Land zu beherrschen: und das ist mit Gewalt“, sagt ein Oppositioneller im schriftlich geführten Interview mit MOMENT. Er warnt: „Jetzt beginnt eine zweite Welle an Repressionen gegen Personen, die vor einem Jahr aktiv gegen Lukaschenko protestiert haben.“

Namentlich genannt werden möchte er aus Angst vor den Folgen nicht. Nur soviel: Er sei Mitglied der sozialdemokratischen Partei und lebe im Westen von Belarus. Welche Hoffnungen hat er noch, dass die Repressionen enden und Lukaschenko abtritt?

Alle Sektoren, die nicht direkt dem Staate unterstellt sind, sollen unter totale Kontrolle gebracht werden.

MOMENT: Ist die Protestbewegung gegen die geschobene Wahl und Präsident Alexander Lukaschenko inzwischen erlahmt?

Es gibt in Belarus seit November keine offenen Massenproteste auf der Straße. Aber das heißt nicht, dass die Proteste verschwunden sind. Die Proteste schwelen weiter im ganzen Land und wir haben andere Formen des Protestes gefunden. Ein wichtiger Umdenkprozess findet statt: In Belarus soll zukünftig kein Platz mehr für einen Diktator und eine Diktatur sein. Es gibt keinen Blick zurück. Die Belarusen sind bereit, die Macht zu übernehmen und für sich selbst verantwortlich zu sein.

MOMENT: Wie hat die Protestbewegung die Gesellschaft seit der geschobenen Wahl verändert?

Die Zivilgesellschaft emanzipiert sich immer weiter. Wir haben ein besseres Verständnis für die Realität in diesem Land. Das war nicht möglich vor Beginn des Wahlkampfes 2020. Wir Menschen in Belarus merken, dass unsere Rechte verletzt werden. Die meisten sahen früher ihre Bürgerrechte als etwas, das gar nicht existiert oder nicht wichtig ist. Das hat sich dramatisch geändert.

MOMENT: Alexander Lukaschenko hat auf die Proteste mit Härte reagiert und bekämpft seitdem massiv jegliche Form der Opposition. Welche Wirkung hat das auf die Protestbewegung?

Die Regierung kennt nur eine Form, das Land zu beherrschen: und das ist mit Gewalt. NGOs bekommen die Repressionen zu spüren, einige wurden aufgelöst. Privat geführte Unternehmen werden vom Staat „beaufsichtigt“ und unterdrückt. Der nächste Schritt wird sein, dass politische Parteien noch größere Probleme bekommen werden.

Eine Konferenz dreier Oppositionsparteien konnte nicht stattfinden, weil sich kein Veranstaltungsort dafür fand. In anderen Worten: Nach Lukaschenkos Logik des Regierens sollen alle Sektoren, die nicht direkt dem Staate unterstellt sind, unter totale Kontrolle gebracht werden.

MOMENT: Sehen Sie eine Chance, dass Lukaschenko in baldiger Zukunft abtritt?

Ich denke nicht, dass Lukaschenko zum Rücktritt gezwungen werden kann oder gestürzt wird. Lukaschenko hält sich für den Messias. Ich scherze nicht: Er sagte, es sei nicht möglich, Präsident zu werden. Als Präsident werde man geboren. Es sieht sich selbst als „Zar“ von Belarus, Gewalt ist für ihn der einzige Weg.

MOMENT: Haben Sie Angst, dass die Gewalt gegen die Bevölkerung noch zunehmen wird?

Ich sehe eine große Gefahr, dass es weitergeht mit der Gewalt gegen die Protestbewegung. Die Ängste sind verbunden mit der geleakten Information darüber, dass Konzentrationslager für politische Gefangene aufgebaut werden sollen. Jetzt beginnt eine zweite Welle an Repressionen gegen Personen, die vor einem Jahr aktiv gegen Lukaschenko protestiert haben.

MOMENT: Sind Sie selbst und Menschen in ihrem Umfeld Gewalt und Unterdrückung ausgesetzt?

Einige von meinen Freund:innen sind festgenommen worden und wurden inzwischen zum Glück wieder freigelassen. Andere Freund:innen sind ins Gefängnis gekommen und sind als politische Gefangene noch immer hinter Gittern.

 

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