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Gesundheit
Ungleichheit

Corona-Impfung: Warum Kinder bei Medikamenten vernachlässigt werden

Für Kinder unter 16 Jahren gibt es keine Corona-Impfung. Pharmafirmen zeigen oft wenig Interesse daran, Medikamente für Kinder und Jugendliche zu entwickeln. Es müsste mehr öffentliche Gelder für akademische Forschung geben. So bleibt KinderärztInnen oft nichts anderes übrig, als Kindern und Jugendlichen Medikamente zu geben, die nur für Erwachsene zugelassen sind.

Die Corona-Impfung beherrscht seit Monaten die Schlagzeilen: Zuerst ging es um den Wettlauf zwischen den einzelnen Herstellern. Dann kamen die Sensationsmeldungen, dass endlich der Durchbruch bei der Entwicklung des COVID19-Impfstoffes gelungen ist. Und seither geht es eigentlich nur noch darum, wann welcher Impfstoff ausgeliefert wird und wem dann überhaupt als erster die Spritze in den Oberarm gejagt werden darf. Dazwischen gibt es ärgerliche Meldungen über Bürgermeister, die sich vordrängeln oder Verzögerungen bei der Auslieferung.

 

Noch kein Corona-Impfstoff für Kinder und Jugendliche zugelassen

Bei all der Aufregung bleibt fast unbemerkt, dass eine Gruppe gar nicht vorkommt: Kinder und Jugendliche. Das erscheint auf den ersten Blick einleuchtend: Nur in seltenen Fällen kommt es in dieser Altersgruppe zu problematischen Krankheitsverläufen. Noch ist in Österreich niemand unter achtzehn Jahren an Corona verstorben. Als Risikogruppe gelten nebst Vorerkrankungen alle, die älter sind als 65 Jahre.

 

„Kinder sind keine Wähler, deshalb ist das Interesse an ihnen gering”

Doch dass Kinder und Jugendliche bei der Corona-Impfung so komplett außen vor gelassen werden, stößt etwa dem deutschen Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte sehr sauer auf. „Derzeit wird den Kindern nicht nur das Grundrecht auf Bildung beschnitten, sie kommen auch in der Impfstrategie gar nicht vor“, sagt der Berliner Kinderarzt und Verbandsprecher Jakob Maskeals. Vielen Eltern sei gar nicht bewusst, dass für ihre Kinder kein Impfstoff in Sicht sei, und die Politik ignoriere das Feld: „Kinder sind keine Wähler, deshalb ist das Interesse an ihnen gering.”

Maskeals spricht hier ein Problem an, das nicht nur in Deutschland, sondern auch in ganz Europa und natürlich auch in Österreich besteht.

 

Pharmakonzerne haben oft kein Interesse an Kindern und Jugendlichen

Pharmakonzerne haben oft kein Interesse daran, teure Studien für die verschiedenen Altersgruppen der Kinder und Jugendlichen durchzuführen. Außerdem ist es schwer, genügend kleine Teilnehmer für Studien zu finden. Denn welche Eltern stellen ihre Kinder schon gerne für medizinische Tests zur Verfügung? Da solche Forschungen auch alle Altersgruppen einschließen muss, kann es mitunter zehn Jahre dauern, bis es genügend Daten gibt, um eine Studie abschließen zu können.

Seit 26. Jänner 2007 werden die Pharmakonzerne zu den Bemühungen aber immerhin verpflichtet. Denn damals trat die EU-Verordnung über Kinderarzneimittel in Kraft. Sie verpflichtet die Pharmakonzerne dazu, ihre Wirkstoffe und Produkte auch in Studien mit Kindern zu überprüfen. Oft gibt es natürlich Medikamente, die in der Kinderheilkunde keinen Sinn ergeben – zum Beispiel, wenn es um Demenz-Erkrankungen geht. Dann können Pharmakonzerne eine Freistellung von dieser Verpflichtung beantragen – so werden auch unnötige Studien an Kindern vermieden. 

Eine wesentlich höhere Herausforderung ist, Pharmakonzerne überhaupt erst dazu zu bringen, spezielle Arzneimittel für Kinder und Jugendliche zu entwickeln. Es gibt oft weniger PatientInnen in der Altersgruppe – da ist mit ihr auch vergleichsweise wenig Geld zu holen. Die viel größere Masse an alten, kranken Erwachsenen ist lukrativer. Die EU vergibt daher Förderprogramme für die Entwicklung von Kinderarzneimitteln. Zudem gelten Patente für diese Präparate um sechs Monate länger. Doch hier könnte viel mehr passieren, meint der Kinderarzt Male-Dressler.

 

Mehr Fördergelder für akademische Forschung um Medikamente für Kinder und Jugendliche zu entwickeln

Die EU hat mit der Arzneimittel-Verordnung bereits einen wichtigen Schritt getan. Zehn Jahre nach der Umsetzung sind immerhin 238 neue Medikamente und 39 kindgerechte Darreichungsformen zugelassen worden. Vor 2007 gab es zum Beispiel kaum zugelassene Rheuma-Medikamente für Kinder, nun gibt es bereits acht. Doch noch immer werden zu wenige Medikamente speziell für Kinder entwickelt. 

Doch es müsste viel mehr passieren, ist Kinderarzt Male-Dressler überzeugt: “In manchen Bereichen wird ohne akademische Forschung nichts weitergehen, da diese Bereiche für Pharmaforschung uninteressant sind. Österreich und die EU allgemein geben viel zu wenig Fördergelder für akademische Forschung aus. In anderen Ländern wie den USA oder Kanada ist das anders.” Außerdem sei es hierzulande extrem schwierig und aufwendig, an solche Gelder zu kommen, deswegen lassen es viele gleich sein. Bis ein Förderantrag genehmigt ist, vergehen rasch fünf Jahre. Und da es ohnehin zu wenige KinderärztInnen für die allgemeine Versorgung gibt, haben diese ohnehin kaum Kapazitäten, um sich nebenher mit Forschung zu beschäftigen.

 

Kinder sind keine kleinen Erwachsenen

Denn oft reicht es einfach nicht, Kindern und Jugendlichen Medikamente für Erwachsene in geringer Dosis zu verabreichen. Der Stoffwechsel funktioniert bei ihnen ganz anders – je kleiner ein Kind, desto komplexer, erklärt Male-Dressler: “Manchmal brauchen sie sogar eine relativ höhere Dosis als Erwachsene. Vor allem, wenn es sich um Präparate handelt, die über die Niere ausgeschieden werden – denn Kinder bauen diese Substanzen schneller ab.” Je jünger die Kinder, desto größer des Missstand – am problematischsten ist das Arzneimittel-Dilemma also bei Kleinkindern und Säuglingen. Vor allem im Bereich von Krebs, Herz- und Nierenerkrankungen, psychischen und rheumatischen Krankheiten fehlt es an passgenauen Präparaten für Kinder und Jugendliche.

Impfstoff für Jugendliche frühestens im Herbst

Doch trotz aller Bemühungen der EU, Kindern und Jugendlichen eine bessere medikamentöse Versorgung zu verschaffen, wird auch nun am Beispiel der Corona-Impfung wieder deutlich – sie haben trotzdem noch immer das Nachsehen. Die Pharmafirmen Pfizer/Biontech und Moderna führen immerhin bereits Studien für Kinder durch und im Herbst könnten ihre Impfstoffe vielleicht schon für Kinder ab zwölf Jahren zugelassen werden. Für jüngere Kinder wird es aber erst frühestens im nächsten Jahr eine Zulassung geben. 

Besonders brisant ist, Kinder selbst sind zwar bei COVID-19 keine gefährdete Gruppe, wir können uns aber eventuell nicht leisten, gerade auf die kontaktfreudigsten Kleinen und Jungen bei der Herdenimmunität zu verzichten. Zuverlässige Studien, die Nebenwirkungen bei Kindern ausschließen können, sind daher besonders wichtig – oder als Alternative eben sogar eigene Impfungen, die gut verträglich sind. 

 

Kinder erhalten oft Medikamente, die nur für Erwachsene zugelassen sind

Bevor die EU Pharmakonzerne verpflichtet hat, auch Studien an Kindern und Jugendlichen durchzuführen, war mehr als die Hälfte aller an Kinder und Jugendliche verabreichten Medikamente nicht für ihre Altersgruppe geprüft worden. Und auch heute noch müssen oft Mittel verabreicht werden, die nur für Erwachsene zugelassen sind, wie Kinderarzt und Infektiologe Volker Strenger erklärt: “Dies wird als Off-Label-Use bezeichnet. Die Herausforderung dabei ist dann vor allem, die richtige Dosierung zu erwischen. Da braucht es dann oft teure Auswertungen im Labor, um das zu kontrollieren.” So werden kleine PatientInnen dann eben unfreiwillig zu Versuchskaninchen.

 

Off-Label Gebrauch für kleine PatientInnen oftmals die einzige Lösung

Daniel ist Vater von mittlerweile zwei erwachsenen Kindern, die jedoch beide schwer an Epilepsie erkrankt sind. Mit zugelassenen Medikamenten waren die vielen Anfälle nicht in den Griff zu bekommen. “Ich küsse heute noch die Hände von den mutigen Kinderneurologen, die es gewagt haben, mit einem Off-Label-Use von Medikamenten bis zu toxischen Schwellenwerten meine Kinder zu behandeln”, erzählt Daniel. Trotz heftiger Nebenwirkungen kann sein Sohn heute ein halbwegs normales Leben führen und hat sogar erfolgreich ein Studium abgeschlossen. Seine Tochter hat leider von den vielen epileptischen Anfällen so schwere Gehirnschäden davon getragen, dass sie heute ein Pflegefall ist.

 

Ärzte im schlimmsten Fall haftbar für Off-Label Verabreichungen

MedizinerInnen sehen sich also oft dazu gezwungen, Medikamente Off-Label zu verschreiben. Rechtlich sind die ÄrztInnen dann aber haftbar. Der Kinder- und Jugendpsychiater Christian Kienbacher kann sich an einen äußerst brenzligen Fall erinnern: “Ein psychisch kranker Jugendlicher, der in Behandlung war, ist einmal in einer Wohngemeinschaft durchgedreht. Ein Polizist, der den Fall aufgenommen hat, hat natürlich die Medikamente überprüft und bemerkt, dass eines davon erst ab 18 Jahren zugelassen ist. Die KollegInnen mussten das damals vor Gericht erklären.” Sie wurden freigesprochen, da sie plausibel erklären konnten, dass es für die Krankheit des Jugendlichen einfach keine anderen Medikamente auf dem Markt gibt. Doch die ÄrztInnen mussten doch einige tausend Euro an Anwaltskosten berappen.

Anstatt MedizinerInnen vor solche bürokratischen und juristischen Hürden zu stellen, sollte es mehr Bemühungen geben, die Forschung im Bereich der Arzneimittel für Kinder endlich auf Vordermann zu bringen. Damit kleine Menschen endlich die besten Medikamente bekommen, die ihnen die moderne Wissenschaft zur Verfügung stellen kann.

 

Mehr dazu: 

Ellen ´t Hoen: Wie Patente den weltweiten Zugang zu Medikamenten behindern

Ein Kinderpsychiater spricht: “Versorgung psychisch kranker Kinder ist eine Katastrophe”

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