Corona-Teilzeit: “Gesellschaftspolitischer Fortschritt wird ohne Arbeitszeitverkürzung nicht möglich sein”
Frauen haben die Hauptlast der Corona-Krise geschultert. Sie mussten häufiger als Männer ihre Arbeitszeit aufgrund der Kinderbetreuung reduzieren. Die österreichische Sozioökonomin Miriam Rehm forscht in Deutschland und fordert nun: Vor allem bei einem zweiten Lockdown braucht es eine Arbeitszeitverkürzung, die nicht zulasten der Frauen geht. Sonst riskiert Deutschland einen gesellschaftspolitischen und volkswirtschaftlichen Rückschritt. In Österreich schaut es nicht viel anders aus.
MOMENT: Sie schlagen im Falle einer zweiten Welle eine Corona-Teilzeit vor. Was genau verstehen Sie darunter?
Miriam Rehm: Wir haben gerade für die USA und Deutschland, aber mit Abstrichen auch für Österreich viele Daten und Untersuchungen, die klar belegen, dass Frauen die Hauptlast der Corona-Zeit getragen haben. Frauen haben in Deutschland stärker als Männer ihre Erwerbstätigkeit verringert, um ihre Kinder zu Hause betreuen zu können. Vor allem Familien mit mittleren und niedrigen Einkommen waren von dieser erzwungenen Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich betroffen. Und wenn es nochmals zu einem Lockdown kommt, so werden wieder viele Frauen gezwungen sein, weniger bezahlt zu arbeiten – und da muss endlich ein gewisser Ausgleich her. Deshalb sollte es eine Corona-Teilzeit geben, bei der die finanziellen Einbußen abgefedert werden und die dem Partner oder der Partnerin mit der höheren Erwerbsarbeitszeit zur Verfügung steht.
MOMENT: Wie soll das konkret aussehen? Und wer soll das bezahlen?
Rehm: Die Kurzarbeit hat sich in Deutschland schon bei der Finanzkrise 2008 als gute Hilfsmaßnahme erwiesen und es ist sehr wichtig, dass sie verlängert wurde. Aber sie muss weiterentwickelt werden. Da gäbe es natürlich verschiedene Ansätze. Ein großer Nachteil ist zum Beispiel, dass sie de facto regressiv wirkt – höhere Einkommen erhalten einen größeren Anteil ersetzt als kleinere. Außerdem teilen sich bei der deutschen Kurzarbeit im Grunde ArbeitnehmerInnen und der Staat die Kosten. Warum sollen die ArbeitgeberInnen nicht auch beteiligt sein? Ein Vorschlag von mir ist also, dass die Kosten paritätisch zwischen ArbeitgeberInnen, ArbeitnehmerInnen und dem Steuertopf geteilt werden.
MOMENT: Am Ende werden doch vor allem wieder Frauen und nicht Männer diese Corona-Teilzeit in Anspruch nehmen…
Rehm: Deswegen fordere ich, dass die Corona-Teilzeit an geschlechtergerechte Bedingungen geknüpft sein muss. So soll in einer Partnerschaft nur derjenige mit der höheren Arbeitszeit die Corona-Teilzeit in Anspruch nehmen dürfen. Wenn beide gleich viel arbeiten, dann können beide reduzieren. Um zu erreichen, dass mehr Männer die Corona-Teilzeit in Anspruch nehmen, könnte es auch ein Bonus-System vom Staat geben: Wenn die Eltern ihre Arbeitszeiten angleichen, dann gibt es zum Beispiel auch eine höhere Beteiligung vom Staat. Und freilich müssten hier auch die Selbstständigen bedacht werden.
Es braucht auf jedenfalls konkrete Maßnahmen, damit wir nicht einen enormen geschlechterpolitischen Backlash in Deutschland – und auch in Österreich – erleben.
MOMENT: Doch werden Frauen tatsächlich im Berufsleben so enorm diskriminiert, wenn sie für einige Zeit ihre Arbeitszeit reduzieren?
Rehm: Bereits vor Corona hat in Deutschland ein viel größerer Teil der erwerbstätigen Frauen Teilzeit gearbeitet als der erwerbstätigen Männer. Und dieser Anteil steigt seit Jahren an, nicht erst seit Corona. Das schlägt sich in niedrigerem Einkommen, geringerer Rente, schlechteren Aufstiegschancen und so weiter nieder. Diese nachteiligen Effekte wirken sich oft ein Leben lang aus.
Besonders sind nun in der Corona-Krise die ohnehin schon schlechter verdienenden Gesellschaftsgruppen betroffen, hier eben vor allem die Frauen. Nicht nur gesellschaftspolitisch müssen vor allem sie dringend unterstützt werden: Das könnte sich am Ende sogar positiv für die gesamte Wirtschaft auswirken.
MOMENT: Inwiefern?
Rehm: Es ist klar belegt, dass vor allem Menschen mit geringem Einkommen – und wegen der Einkommensschere daher insbesondere Frauen – wenig sparen können. Auch wenn sie plötzlich mehr Geld zur Verfügung haben, sparen sie es nicht, sondern bringen es schnell wieder in Umlauf und sichern damit den Unternehmen die Nachfrage. Das stärkt die gesamte Wirtschaft.
MOMENT: Sind bei der Geschlechtergerechtigkeit die untersten Einkommensschichten das Problem?
Rehm: Dort ist der Druck sicher am gravierendsten. Aber natürlich haben auch sehr viele Väter wegen Corona es kaum geschafft, Arbeit und Kinder unter einen Hut zu bringen. Da hat natürlich schon ein Umdenken stattgefunden und Gleichberechtigung wird mehr gelebt. Aber ich erlebe in meinem Arbeitsumfeld regelmäßig, wie junge Akademikerinnen und Forscherinnen verzweifeln, weil sie wissen, dass sie in der Corona-Zeit abgehängt wurden.
MOMENT: Wie äußert sich das?
Rehm: Junge Mütter in meinem Arbeitsumfeld können kaum mehr den Arbeitsrückstand aufholen, der sich gegenüber vielen männlichen Kollegen oder kinderlosen KollegInnen aufgebaut hat. Es gibt ja auch erste Evidenz, dass Frauen seit Corona zum Beispiel weniger publizieren als Männer. Mit der Arbeitszeitreduktion gehen eben auch viele Nachteile einher. Aber es gibt auch Vorteile: Mehr Zeit für die Familie zu haben, ist für viele sehr bereichernd.
MOMENT: Wäre deshalb nicht eine generelle Arbeitszeitverkürzung erstrebenswert? Für alle? Auch nach Corona?
Rehm: Gesellschaftspolitischer Fortschritt wird ohne Arbeitszeitverkürzung nicht möglich sein. Wer will schon in einer ewigen Tretmühle leben? Aber ich glaube, dass wir dafür viele unterschiedliche Ansätze brauchen – Sabbaticals und Auszeiten, mehr Urlaub, aber eben auch längere Wochenenden. Eine diesbezügliche Diskussion wird schon in manchen Branchen geführt und ist dort bestimmt zielführender, wie etwa der Pflege.
Die Corona-Krise hat uns viele wunde Punkte aufgezeigt. Die Frage, was wirklich systemrelevant ist, haben wir als Gesellschaft beantwortet, wenn etwa Schulen und Kindergärten geschlossen wurden, während Fleischereien weiter produzieren durften. Es wäre jetzt an der Zeit, diese gesellschaftlichen Werte zu hinterfragen, um diese Krise zu nachhaltigen Veränderungen zu nutzen.