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Kapitalismus

23.000 Räumungsklagen im Jahr: Dürfen Profitinteressen über Grundbedürfnissen von Menschen stehen?

Frau, die die Zwangsräumungsklage per Post erhält
Für eine Delogierung braucht es zwar einen triftigen Grund, oft geht es aber trotzdem schnell. Foto: Symbolbild Pexels
Eine Delogierung - die Zwangsräumung aus der Wohnung - will man als Mieter:in nicht erleben. Zu oft passiert es aber doch. Gründe gibt es unterschiedliche, Hilfsangebote, die das verhindern wollen, auch. Soziale Maßnahmen können aber keine Wohnpolitik ersetzen, sagen die, die sich täglich gegen Delogierung einsetzen.

In Wien wird fleißig gebaut. Kaum ein Grätzl bleibt von Baustellen verschont, viele Häuser werden aufgestockt und luxussaniert. Wer da stört? Alte Bewohner:innen, die die neuen, meist teureren Mieten dann nicht mehr zahlen können. Kommt es zum Konflikt oder werden die Mietschulden zu hoch, gibt es für Vermieter:innen ein Zauberwort: die gerichtliche Räumung der Wohnung.

Dafür braucht es zwar einen triftigen Grund, oft geht es aber trotzdem schnell. Laut Arbeiterkammer können etwa Mietrückstände von gerade einmal 2.500 Euro genügen – und daraus Folgekosten in Höhe von über 30.000 Euro entstehen zu lassen. Gerichtskosten, Räumung, Lagerung, Investitionen, Leerstand und alternative Unterbringung summieren sich.

Soziales Wohnen für alle 

Die meisten Delogierungen verlaufen im Stillen, nur selten wehrt sich jemand vor Gericht. Zahlen der Wiener Volkshilfe belegen: Im vergangenen Jahr gab es österreichweit rund 23.000 Räumungsklagen und Kündigungen, davon wurden 4.000 Wohnungen zwangsgeräumt. 

“Die Hälfte davon fand im Wiener Gemeindebau statt”, sagt Lucija*. Sie setzt sich mit der Gruppe “en Commun” für eine gerechtere Wohnpolitik ein. Auch in Gemeindebauwohnungen sind die Mieten gestiegen. Sozialhilfen und Löhne im gleichen Maß aber nicht. Der Gruppe gehe es nicht ausschließlich darum, eine Zwangsräumung zu verhindern. Sie stellt darüber hinaus auch die größere Frage: “Ist soziales Wohnen für alle Menschen möglich, wenn die Stadt genauso wie private Wohnungsunternehmen Menschen aus ihren Wohnungen räumt?” 

“Wohnraum bedeutet nicht nur: Ich habe eine Heizung, die funktioniert und ein Dach über dem Kopf.” Es gelte auch zu hinterfragen, wie das System dafür funktioniert. “Wohnen sollte als ein menschliches Grundbedürfnis keinen Profitinteressen unterliegen”, sagt Lucija. 

Ist das neue Wohnbaupaket sozial treffsicher? 

Der Wohnungsverlust ist meist der letzte Schritt einer langen Kette von Ursachen und Verschuldung. Um Delogierungen vorzubeugen, wird der österreichische Wohnschirm heuer um 60 Millionen Euro auf 125 Millionen Euro aufgestockt. Das ist ein Teil des Baupakets, das die österreichische Regierung vor kurzem verkündete. 

Ein weiterer Teil davon sind die rund 25.000 leistbaren Wohnungen, die im Zuge dessen entstehen sollen. Etwa 20.000 dieser Wohnungen sollen neu gebaut werden. 10.000 davon sind Eigentumswohnungen, die anderen 10.000 Mietwohnungen. Weitere 5.000 sollen saniert werden und dadurch wieder auf den Wohnungsmarkt kommen. Laut Regierung bedeute das, neuer Wohnraum für etwa 44.000 Menschen.

Auch wenn Wien als Best-Practice-Beispiel gilt, was soziales Wohnen betrifft, sei das österreichweit nicht ausreichend. “Wir müssen weg vom Wohnen als Spekulationsobjekt und Betongold”, sagt Tanja Wehsely. Sie ist Geschäftsführerin bei der Volkshilfe Wien, die sich für eine Delogierungsprävention einsetzt. Ihr gehen die staatlichen Maßnahmen nicht weit genug. 

Wohnen darf kein Nice-to-Have sein

“Gemeinnützigen Wohnbau anzukurbeln finden wir gut”, sagt Wehsely. Das funktioniere aber nur, wenn es genug Grundstücke gebe, auf denen gebaut werden darf. “Und diese Umwidmung wurde vor Jahren verschlafen, die Mängel zeigen sich jetzt”. Tanja Wehsely ist sich sicher: Die Situation wird in den nächsten Jahren erst einmal nicht besser werden. 

Das Wohnbaupaket sei dabei ein wichtiger Schritt, aber es würden konkrete mietdämpfende Maßnahmen fehlen: “Sowohl eine Bremse als auch ein Deckel bei Mieten – ohne eine funktionierende Wohnpolitik landet alles in der Sozialpolitik”. Die Wiener Volkshilfe fordert Wohnen als Menschenrecht. “Wohnen muss eine Basisausstattung des Lebens sein und kein Nice-to-Have”, sagt Wehsely. 

Doch wer hat Zugang dazu? 

“Die Stadt Wien ruht sich immer darauf aus, dass es Gemeindebauten gibt und soziales Wohnen kein Problem ist”, sagt Lucija. “Ganz viele Menschen haben aber von vornherein gar keinen Zugang zu diesen Wohnungen”. 

En Commun engagiert sich zum Beispiel auch im Schrotthaus am Gaudenzdorfer Gürtel (MOMENT.at berichtete). Seit über einem Jahr gibt es dort keine Heizung, kein Warmwasser und keinen Strom mehr. “Ausmieten”, nennt man diese Praxis, Menschen aus ihren Wohnungen vertreiben zu wollen. Dabei leben hier hauptsächlich Menschen mit Fluchtgeschichte, die kaum andere Möglichkeiten haben. Das ist auch eine Frage der Wohnpolitik, denn viele von ihnen haben keinen Anspruch auf eine Gemeindewohnung. 

Am Gaudenzdorfer Gürtel erlebe die Gruppe auch, dass man sich auf die Behörden oft nicht verlassen kann, erzählt Lucija im Gespräch mit MOMENT.at. „Als Schlösser ausgetauscht und Bewohner:innen unangekündigt aus ihren Wohnungen ausgesperrt wurden, haben wir die Polizei gerufen“. Die hätten aber nur zugeschaut und Vorwürfe gemacht, warum man sich nicht an die Mieterhilfe wendet. “E-Mails an die Bezirksleitung wurden erst spät beantwortet, aus dem Rathaus haben wir nie eine Antwort bekommen“, sagt Lucija. Und das, obwohl es seit über einem Jahr keinen Strom und kein warmes Wasser im Haus gibt. 

Fehlendes politisches Bewusstsein?

“Die Stadt Wien kann nur in ihrem Rahmen handeln”, heißt es aus dem Pressebüro von Kathrin Gaál. Sie ist Vizebürgermeisterin und Wohnbaustadträtin. Auch in Bezug auf Delogierungsprävention fordert die Stadt seit Jahren eine Reform des Mietrechtsgesetzes. Aber es tue sich nichts, so der Vorwurf an die Bundesregierung. “Die Stadt kann Mieter:innen so gut es geht unterstützen und das tun wir umfassend, zum Beispiel mit Sozialarbeiter:innen bei Wiener Wohnen”, so Pressesprecher Stephan Grundei. Dabei liegt der Fokus auf gezielter Aufklärungsarbeit, welche Angebote der Stadt es gibt und wer darauf Anspruch hat. 

“Damit konnten im letzten Jahr rund 600 Delogierungen abgewehrt werden”, sagt Grundei. Dennoch: Der geförderte Wohnbereich sei für ihn nicht das Problem. “Das veraltete Mietrecht verhindert, dass soziales Wohnen für alle möglich und leistbar ist.” 

Gemeinschaft statt Einzelkampf 

Lucija von en Commun ist der Ansicht, dass ein Bewusstsein darüber fehle, dass diese Probleme Struktur haben. “Wien ist sehr stark verwaltet”. Das heißt, es gibt immer sehr viele Ansprechstellen, verschiedene Orte, an die man sich wenden kann und muss, damit ein Einzelfall geklärt wird. Das funktioniere in manchen Fällen gut und in anderen aber nicht. 

“Diese Vereinzelung ist ein Problem”, sagt die Aktivistin. Wenn sich Leute einzeln vor Gericht gegen Delogierungen wehren, löst das nur den individuellen Fall. Im nächsten Schritt kauft der Hausbesitzer ein neues Haus und das Ganze geht wieder von vorne los. “Nur eine neue, soziale Wohnung zu bauen hilft also nicht, es muss sichergestellt werden, dass die Wohnungen für die Menschen verfügbar sind, die darauf angewiesen sind”, sagt Lucija. 

 

*Name von der Redaktion geändert. 

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