Ein Bildungsforscher sagt: “Sozial benachteiligte Kinder werden jetzt zurückgelassen”
Bildungsexperte Mario Steiner vermisst Konzepte, um sozial benachteiligte SchülerInnen während der Corona-Krise zu unterstützen. Credit: Privat
MOMENT: Herr Steiner, Sie haben ja selbst drei Kinder. Wie gehts Ihnen persönlich mit dem Unterricht zu Hause?
Mario Steiner: Meine Kinder sind 10, 12 und 15, sie gehen in drei völlig unterschiedliche Schulformen, nämlich Volksschule, Mittelschule und HTL. Sie lernen sicher vier bis sechs Stunden täglich. Meine Frau ist derzeit vom Dienst freigestellt und meine Kinder arbeiten sehr selbstständig. Sonst wüsste ich nicht, wie wir das bewerkstelligen sollten.
Es gibt aber sehr viele Familien, bei denen die Voraussetzungen nicht so gut sind wie bei Ihnen. Wie sollen die das auf die Reihe kriegen?
Es läuft alles auf eine sehr schwierige Situation hinaus. Die ohnehin schon benachteiligten Kinder werden zurückbleiben. Und erste Umfragen wie jene der Bildungsinitiative “Teach for Austria” belegen das auch schon. Sie ist zwar nicht repräsentativ, aber momentan ist das die beste Informationsgrundlage, die wir haben. Die Befragung zeigt, dass rund zwanzig Prozent der SchülerInnen einfach nicht erreicht werden können. Das sehe ich auch bei den SchulkameradInnen meiner Kinder – bei vielen reagieren die Eltern nicht, weil sie vielleicht arbeiten müssen, oder die Schüler können einfach nicht kommunizieren, da ihnen kein entsprechendes Gerät zur Verfügung steht.
Was heißt das dann für die Zukunft dieser Kinder?
Ich befürchte, dass es mehr BildungsabbrecherInnen geben wird. Hier sprechen wir von Jugendlichen im Alter von 15-25 Jahren, die sich nicht in Ausbildungen befinden und maximal einen Pflichtschulabschluss erreicht haben. Die Zusammensetzung dieser Gruppe war immer schon sozial sehr selektiv. Wer beispielsweise in einem Drittstaat geboren wurde, hat ein vierfach höheres Risiko, in diese Gruppe zu fallen. Und ich befürchte, dass es hier einen sehr starken Anstieg geben wird.
Es heißt ja immer, dass schon bei normalem Betrieb die Chancengleichheit im österreichischen Bildungssystem im Vergleich mit anderen europäischen Ländern sehr schlecht ist. Warum ist das so?
Hier gibt es zwei wesentliche Faktoren. Einerseits wird bei uns viel Lernleistung privatisiert, sprich ins soziale und familiäre Umfeld verlagert. Wir sehen ja, dass viele Volksschulen nur halbtags geöffnet sind. Das ist teilweise bildungspolitisch so gewollt, Eltern sollen aktiv eine Rolle spielen. Aber das führt dann eben zu Ungleichheit. Wir sprechen dann auch oft davon, dass Bildung von den Eltern vererbt wird. Manche sind engagiert und können ihren Kindern viel beibringen, andere scheitern bereits an sprachlichen Barrieren. Das Problem ist ja der Politik auch bewusst und hier wird etwas getan, vor einem Monat hat die Stadt Wien etwa noch von kostenlosen Ganztagsschulen für alle SchülerInnen gesprochen. Nun ist aufgrund der Corona-Krise genau das Gegenteil der Fall!
Der zweite Grund für die starke soziale Selektion ist unser hochgradig differenziertes Bildungssystem. Mit 9 Jahren müssen sich SchülerInnen schon der Selektion stellen, da im Alter von 10 Jahren entschieden wird, ob sie auf ein Gymnasium weitergehen können, oder in eine Mittelschule und auch dort wird mittlerweile quasi wieder in Leistungsgruppen oder A- und B-Zug unterteilt. In vielen anderen Ländern, mit denen sich Österreich gerne vergleicht, erfolgt diese Aufteilung erst nach der Pubertät im Alter von 16 oder 17 Jahren. Die Weichen für den Bildungs- und Karriereweg werden also bei uns schon sehr früh gestellt
Zurück zur aktuellen Homeschooling-Situation. Es scheint auch sehr viel von den LehrerInnen abzuhängen. Manche sind sehr engagiert und halten Videounterricht, andere wollen Eltern und SchülerInnen bewusst nicht überfordern, andere wollen den gesamten Semesterstoff durchbringen. Sollte überhaupt neuer Stoff durchgenommen werden?
Je weniger neuer Stoff durchgenommen wird, desto eher wirkt man der auftauchenden Ungleichheit entgegen. Aber natürlich hängt alles nun von der Dauer der Krise ab. Irgendwann muss es Lösungen geben, die SchülerInnen können ja auch nicht ewig am selben Punkt stehen bleiben. Aber bevor ich mit dem Stoff weitergehen kann, muss ich dafür sorgen, dass auch alle diesen erarbeiten können!
Und wie soll das gewährleistet werden?
Es darf nun kein Defizitdiskurs geführt werden. Da schiebt die Bildungspolitik den schwarzen Peter wieder einfach den Eltern zu. Doch das ist nur eine Seite der Medaille, sie müssten auch die eigenen Versäumnisse einräumen. Jetzt hört man aber wieder oft, dass es sich die Eltern oft zu bequem machen, sie zu wenig dahinter seien, dass ihre Kinder mehr lernen und weniger Computerspielen würden. Doch viele Eltern haben jetzt einfach andere Probleme, müssen etwa selbst arbeiten, oder haben existenzielle Ängste, weil sie ihren Job verloren haben oder sie nicht wissen, wie es mit ihrem Geschäft weitergeht
Was müsste die Politik Ihrer Meinung nun tun?
Es wird derzeit viel Geld ausgegeben, um die Wirtschaft zu retten. Aber es gibt kein spezifisches Geld für Bildung. Doch viele Kinder brauchen nun finanzielle Unterstützung, auch hier steht etwas Wichtiges am Spiel, nämlich eine individuelle Zukunft. Es fehlt an zwei Dingen, nämlich der Hardware und der Software, wenn ich das einmal so benennen darf. Bei Hardware meine ich, dass viele Kinder tatsächlich einen Laptop oder Tablet bräuchten, einen Internetzugang, manchmal scheitert es am ungestörten Arbeitsplatz. Wer zu fünft in einer kleinen Wohnung sitzt mit Eltern, die auch von zu Hause arbeiten müssen, kann nirgendwo ungestört Hausaufgaben machen. So etwas ist oft ein generelles Problem und schwer zu lösen.
Mit Software meine ich eine entsprechende Unterstützung, nicht unbedingt ein Computerprogramm. Etwa eine persönliche, pro-aktive Hilfe über Video-Coaching für Eltern oder Kinder. Es bräuchte wohl auch mehr Sozialarbeiter, ob das virtuell möglich ist, wage ich aber zu bezweifeln.
Jedenfalls vermisse ich Konzepte und breitflächige Bemühungen, diese sozial benachteiligten Kinder aufzufangen. Auf keinen Fall reicht aber nun die Art von häuslichem Unterricht, die derzeit großteils stattfindet.
Wie sieht die aus?
Es gibt viele engagierte LehrerInnen, die ihr Möglichstes tun, um ihre SchülerInnen zu unterstützen. Eine weit verbreitete Praxis ist aber, dass gewisse Kapitel im Lehrbuch gelesen, oder Arbeitsblätter ausgeteilt oder ausgedruckt werden. Die SchülerInnen müssen diese dann möglichst selbstständig ausfüllen und dann abgeben oder digital hochladen. Und das wird dann beurteilt. Hier wird auf selbstständiges Arbeiten und die Unterstützung der Eltern gesetzt und das kann eben nur ein bestimmter Teil der Gruppe, ein anderer nicht. Und das liegt nicht daran, dass Kinder oder Eltern faul sind, sie können es eben oft aus gewissen Gründen nicht.
Aber natürlich ist die aktuelle Situation sehr besonders und einzigartig und viele Konzepte dafür müssen erst entwickelt werden. Wir haben nun einen Antrag erstellt, um zu untersuchen, welche Art der Lehr- und Lernleistung erbracht wird und welchen Effekt diese haben – und selbstverständlich wie sozial benachteiligte SchülerInnen unter diesen Bedingungen den Anschluss finden können. Wenn wir die Förderung bekommen, werden wir noch im April mit der Untersuchung starten.
Nun zur Matura – sollte diese ihrer Meinung nach verschoben oder gar abgesagt werden?
Ich glaub, die SchülerInnen wollen ja selbst die Matura ablegen und zeigen, dass sie die Leistungen erbringen können. Es wird schon Lösungen geben, wenn sie im Herbst stattfindet, dann wird es wohl auch verspätete Inskriptionsfristen an den Unis geben. Aber grundsätzlich muss ich zu dieser Debatte sagen, dass sie deutlich zeigt, dass sich die derzeitigen Debatten und Bemühungen mehr um das obere Ende der Bildungshierarchie Sorgen, als um das untere Ende.
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