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Demokratie
Ungleichheit

Geflüchtete Ukrainer:innen in Wien: “Mehrere haben uns gesagt, wir sind nicht willkommen”

Geflüchtete Ukrainer:innen in Wien: “Mehrere haben uns gesagt, wir sind nicht willkommen”
Anastassija flüchtete allein aus ihrer Heimatstadt nach Wien. Ihre Eltern konnten nicht mit ihr kommen. Foto: A. Bachmann
Zu Tausenden kommen jetzt geflüchtete Menschen aus der Ukraine in Wien an. Im Austria Center können sie sich registrieren lassen. Doch schon mittags kommt niemand mehr rein. Daneben versorgen freiwillige Helferinnen die Ankommenden. Aus ganz Österreich trifft die Hilfe ein. Widerstand gibt es trotzdem - und zwar von der Nachbarschaft.

„Es ist zum Weinen“, sagt die 18-Jährige Anastassija. Für einen Moment stockt ihre Stimme, beinahe bricht sie tatsächlich in Tränen aus. Die zierliche junge Frau steht auf dem weitläufigen Betonplatz vor dem Eingang des Austria Centers in Wien. Sie ist aus ihrer Heimatstadt Krementschuk in der Ukraine geflüchtet. Allein. „Meine Eltern sind in der Ukraine geblieben. Der Abschied war furchtbar, wir haben viel geweint. Ich vermisse sie sehr“, sagt sie zu MOMENT.

Die Familie ist zerrissen. Anastassija Vater darf das Land nicht verlassen. Präsident Wolodymyr Selenskyj hat allen wehrfähigen Ukrainern die Flucht untersagt, nachdem Russland in die Ukraine eingefallen ist und einen Angriffskrieg begonnen hat. Das russische Militär beschießt auch Wohnsiedlungen und Krankenhäuser. In der Ukraine sterben Tausende Soldat:innen und immer mehr Zivilist:innen.

Anastassijas Mutter wollte ihren Mann nicht allein zurücklassen, setzte aber ihre Tochter in ein Auto, das sie aus der Stadt brachte. Dann ging es mit dem Zug weiter. „Es war sehr hart und gefährlich“, erzählt sie. Die Stadt liegt in der Mitte des Landes. Die russischen Truppen kämen immer näher.

Austria Center ab Mittag für Geflüchtete geschlossen

Anastassijas Freund wohnt in Wien, das ist ein Glück für sie. Tags zuvor kam sie an. Jetzt will sie sich registrieren lassen, weiß aber nicht wie. Neben dem Eingang zum großen Impfzentrum, in dem sich heute nur sehr wenige Menschen impfen lassen wollen, ist ein zweiter Eingang eingerichtet worden: Aus der Ukraine geflüchtete Menschen, die länger bleiben wollen,  können sich hier anmelden. Sie werden beraten und bekommen bei Bedarf eine Unterkunft vermittelt.

Heute jedoch nicht mehr. Vor dem Eingang ist ein Hinweisschild aufgestellt: Es können keine Geflüchteten mehr registriert werden. Sie sollen morgen wiederkommen, steht darauf auf Ukrainisch. Der Zutritt ist mit Stoffbändern geschlossen, in Grüppchen kommen ratlos wirkende Familien oder einzelne Personen wie Anastassija ans Absperrgitter seitlich des Eingangs.

Dort steht der Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma und versucht, ihre Fragen zu beantworten. Er könne Russisch, sagt er zu MOMENT. Das hilft ein wenig. Deshalb wird er von seinen Kollegen immer wieder zu den Leuten vorgeschickt, während die ein paar Meter entfernt stehen und tratschen.

Nur 300 Menschen könnten täglich aufgenommen werden, dann seien die Kapazitäten erschöpft, sagt der Mitarbeiter. Es ist kurz vor 12 Uhr mittags an diesem Donnerstag. Die 300 sind längst erreicht. Ohne sich registriert zu haben, verlässt Anastassija wenige Minuten später das Austria Center. Sie wird es morgen wieder probieren.

Dort wo sonst Feste steigen, werden jetzt Geflüchtete versorgt

Hinter dem Austria Center steht eine wuchtige Wohnhausanlage. Davor einmal links abgebogen und dann die Treppe runter ist ein Aufenthaltsraum für die Mieter:innen. Dort werden normalerweise Geburtstage oder Sponsionen gefeiert, jetzt haben Freiwillige hier ein Verteilzentrum eingerichtet. Es gibt Kleidung, Hygieneartikel und Babynahrung, eingeschlichtet in beschrifteten Pappkisten.

Heraus kommt Tatjana Ertl. Die 40-Jährige mit den zum Zopf gebundenen blonden Haaren hat die Hilfsstelle mitorganisiert. „Ich wohne gleich hier“, sagt sie, und schaut dabei einmal nach oben, entlang an der Fassade des Hochhauses. Sie lebt seit 10 Jahren in Österreich. Als Russland die Ukraine angriff, habe sie sofort begonnen, sich mit anderen zu vernetzen. Sie sammelten Hilfsgüter und schickten sie in die Ukraine. „Dann habe ich gemerkt, es kommen schon die ersten Geflüchteten an“, sagt Tatjana zu MOMENT.

Sie fragte bei der Hausverwaltung, ob sie den Raum nutzen können, um dort dringend benötigte Sachen an die vor dem Krieg in ihrer Heimat geflüchteten Menschen abzugeben. Sie durften. Es kommen vor allem Mütter mit ihren Kindern. Eine hat ihr Baby in einer Trage vor die Brust geschnallt. Vor dem Eingang sitzt ein Bub in einem Kinderwagen und weint. Wortlos kommt ein älterer Mann mit weißem Bart vorbei, öffnet die Tür, stellt ein Sackerl mit Kleidung drinnen ab und geht wieder weg.

Täglich kämen rund 30 Familien vorbei, sagt Tatjana. „Meine Helferinnen haben Erstausstattungen für sie vorbereitet.“ Die Helferinnen nennt sie „ihre Engel”. Eine andere, die im selben Hochhausblock wohnt, stammt aus Moskau. „Ich habe gesehen, da werden Sachen verteilt für die Flüchtlinge”, sagt sie zu MOMENT. Also habe sie gefragt, ob sie mit anpacken kann. Seitdem sei sie jeden Tag da, mindestens für ein paar Stunden. Sie macht das neben ihrem eigentlichen Job. Zu dem muss sie auch gleich, entschuldigt sie sich, und geht eiligen Schrittes.

Wir sagen ihnen nicht: Ich verstehe, was du fühlst. Denn wir können das nicht nachfühlen.
Tatjana Ertl, Helferin in Wien

Die Frauen verteilen nicht nur Sachen. Sie geben denen, die die tagelange und oft weit mehr als 1.000 Kilometer weite Tortur geschafft haben, auch einfach einen Tee in die Hand. Dann fragen sie: Wie geht es Dir? Hast du Verwandte hier? Was brauchst du? „Auch, um ihnen etwas Wärme zu geben“, so Tatjana.

„Wir sagen ihnen aber nicht, ich verstehe, was du fühlst und durchmachst. Denn wir können das nicht nachfühlen“, sagt sie und fügt an. „Ich bin nicht vor Bomben und Raketen geflüchtet mit nur einem Rucksack.“

 
Bild zeigt die freiwilligen Helferinnen Tatjana und Valeriya vor einer Hilfsstelle für Geflüchtete.

Die Helferinnen Valeriya (l.) und Tatjana haben innerhalb kurzer Zeit eine Hilfsstelle aufgebaut. Weil Nachbar:innen dagegen sind, müssen sie es räumen. Foto: A. Bachmann

Leicht zu finden ist der rund 50 Quadratmeter große Raum für die Ankommenden nicht. Mit Kreide haben die Frauen, die den Raum innerhalb kürzester Zeit organisiert haben, Pfeile auf den Betonboden gemalt. „Ein Schild, das den Weg zu uns weist, durften wir nicht aufstellen“, sagt Valeriya Kaiser zu MOMENT. „Warum, weiß ich nicht“, sagt sie und zuckt mit den Schultern.

Immer wieder klingelt ihr Telefon. Menschen rufen sie an, fragen, wie sie helfen können. „Das österreichische Volk ist sehr hilfsbereit“, sagt sie. Mit Autos kämen die Leute aus der Steiermark oder Kärnten zu dem umfunktionierten Gemeinschaftsraum hinter dem Austria Center und bringen so alltägliche, aber jetzt dringend benötigte Sachen wie Babywindeln vorbei. „Das ist ein Wahnsinn, ich bin sehr dankbar“, sagt Valeriya.

Nachbar:innen beschwerten sich, jetzt muss die Hilfsstelle weg

Doch nicht alle hier seien glücklich mit der Hilfseinrichtung, sagt sie. Mehrere Personen hätten sich bei ihr gemeldet, „um mir zu sagen, dass wir nicht willkommen sind“. Einige Familien, die auf der Stiege hier wohnen, „wollen das nicht. Sie sagen, es sei gefährlich“, so Valeriya.

„Aber was soll hier gefährlich sein?“, fragt sie beinahe entrüstet. Es kämen fast nur Frauen und Kinder, es gebe keinen Lärm oder Unruhe. Doch es hilft nichts. Während des Gesprächs erhält sie die Nachricht, dass sie den Gemeinschaftsraum wieder ausräumen und verlassen müssten. Jetzt brauchen sie dringend einen neuen Ort.

Valeriya kümmert sich hier beinahe rund um die Uhr um die Geflüchteten. „Gestern war ich von 9 Uhr bis 22 Uhr unterwegs“, sagt sie. Die 40-Jährige stammt von der seit 2014 von Russland annektierten Halbinsel Krim am Schwarzen Meer. Sie ist halb Ukrainerin, halb Russin, ihre Muttersprache ist Russisch, Ukrainisch versteht sie. Die Kommunikation klappt mit allen, die hier ankommen. Normalerweise arbeite sie in Wien als Fremdenführerin für Tourist:innen aus beiden Ländern. „Das wird jetzt ein bisschen schwierig“, sagt sie.

Es sind nicht zwei Völker, die im Krieg sind. Es ist Präsident Putin, der im Krieg ist.
Valeriya Kaiser, Helferin in Wien

In Russland habe sie viele Freund:innen. „Die sind sehr traurig jetzt. Einerseits haben sie Schuldgefühle. Andererseits wollen sie helfen, wissen aber nicht wie“, sagt Valeriya. Wer in Russland gegen den Krieg auf die Straße geht, wird verhaftet. Tausende kamen bereits hinter Gitter. Wer Flüchtlingen aus der Ukraine helfe, „sitzt bis zu 15 Jahre im Knast, ein Wahnsinn ist das“, so Valeriya. Sie sagt: „Es sind nicht zwei Völker, die im Krieg sind. Es ist Präsident Putin, der im Krieg ist.“

Wieder klingelt ihr Telefon. Es wird ein Hoffnung gebendes Gespräch. Jemand habe ihnen einen anderen Raum angeboten, in dem sie vielleicht umziehen können, nachdem sie in der Hochhaussiedlung nicht mehr willkommen sind. Klappt das, kann die Hilfe weitergehen. Die wird, das ist zu befürchten, wohl noch längere Zeit für in Österreich ankommende Menschen aus der Ukraine benötigt.

 

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