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Arbeitswelt
Gesundheit

Grenzen dicht: Pflege in Österreich droht zusammen zu brechen

Schließen Ungarn und die Slowakei wegen des Coronavirus komplett ihre Grenzen, droht die Pflege älterer Menschen in Österreich zusammenzubrechen.

Aus Angst vor dem Coronavirus machen unsere Nachbarländer im Osten ihre Grenzen dicht. Österreich hat damit ein Riesenproblem: die Pflege älterer Menschen droht zusammen zu brechen. Die stemmen bei uns vor allem Frauen aus unseren östlichen Nachbarländern.

Blech so weit das Auge reicht: 45 Kilometer weit standen am Mittwochmittag die Fahrzeugkolonnen vor der Grenze nach Ungarn. Das Land hat aus Angst vor dem Coronavirus panisch seine Grenzen geschlossen.

In den Autos saßen viele RumänInnen, die in Deutschland und Österreich arbeiten. Sie wollen oder müssen zurück in die Heimat und strandeten jetzt in Nickelsdorf im Burgenland. Hier haben sich Dramen abgespielt, als 2015 Hunderttausende Flüchtlinge von Ungarn nach Österreich kamen. Jetzt droht in die andere Richtung ein Drama wegen der Coronavirus-Pandemie.

Er hoffe, „dass bald die Grenzen geöffnet werden, bevor es jetzt eskaliert“, sagte Nickelsdorf Stadtchef Gerhard Zapfl am Mittwoch. Am Nachmittag erlaubte Ungarn zumindest Personen aus Rumänien, Serbien und Bulgarien die Grenze zu passieren – allerdings nur bis Donnerstagmorgen. Schon am Tag zuvor gab es 30 Kilometer lange Staus. In der Nacht durften die Menschen durchfahren, dann wurde wieder dichtgemacht.

Pflege droht Zusammenbruch

Tage zuvor machte die Slowakei ihre Schotten dicht. Wer nicht StaatsbürgerIn ist oder in der Slowakei wohnt und arbeitet, darf von Österreich aus nicht mehr einreisen. Auch slowakische StaatsbürgerInnen müssten in Quarantäne, beschloss die Regierung.

Das betrifft auch SlowakInnen, die in Österreich arbeiten und hin und her pendeln. Sie sind vor allem Pflegerinnen – es sind fast nur Frauen – älterer Menschen in deren Wohnungen und in Altenheimen.

Und das wird für Österreich jetzt zum Riesenproblem. Sollten Ungarn und die Slowakei tatsächlich niemanden mehr hineinlassen oder müssten einreisende StaatsbürgerInnen in wochenlange Quarantäne, würde in Österreich die Pflege älterer Menschen zusammenbrechen. „Dann implodiert das System“, sagt Christoph Lipinski, Wiener Landesgeschäftsführer von vidaflex, einer gewerkschaftlichen Initiative für Selbständige und Ein-Personen-Unternehmen. 

Man kann davon ausgehen, dass es bald zu chaotischen Szenen kommt.
Christoph Lipinski, vidaflex

Schon jetzt strandeten viele Heimpflegerinnen auf dem Weg zu ihren Arbeitsorten nach Österreich an den Grenzen. „Einige wurden 72 Stunden lang festgehalten“, schildert Lipinski. „Das sind panische Zustände dort. Es kam schon zu Handgreiflichkeiten.“ Viele der Pflegerinnen hätten entnervt aufgegeben, seien wieder in die Heimat gefahren. „Die wollen auch nicht mehr zurückkommen“, sagt Lipinski.

„Man kann davon ausgehen, dass es In den nächsten zwei Wochen zu chaotischen Szenen kommt“, fürchtet er. Auch Bernd Wachter, Generealsekretär der Caritas, warnt vor dem Kollaps: „Wir schaffen das nicht wochenlang“, sagt er zu MOMENT. Schon jetzt „sind wir auf den Goodwill der Frauen angewiesen“. Viele hätten sich freiwillig bereit erklärt, zumindest bis Ostern zu bleiben.

Es braucht schnell eine Ausnahme von der Grenzschließung.
Rudolf Anschober, Gesundheitsminister

Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) appellierte: Es brauche schnell eine Ausnahme von Grenzschließung und Quarantäne, „damit die Betreuung pflegebedürftiger Menschen in Österreich gesichert bleibt“. Die Regierung arbeite mit Hochdruck an einer Lösung, hieß es. Gelinge die nicht, so Wiens Gesundheitsstadtrat Hacker, hätte Österreich „schlagartig“ ein riesiges Problem. Die Wirtschaftskammer schlug Alarm und auch die Gewerkschaften.

Ohne die Heimpflegerinnen aus dem Osten wäre der Pflegenotstand hierzulande auch in normalen Zeiten schon längst eskaliert. 60.000 von ihnen arbeiten in Österreich. „Die halten das System großartig aufrecht“, sagt Wachter. Fast die Hälfte von ihnen kommt aus Rumänien, ein Drittel aus der Slowakei. Ihre Arbeit ist anstrengend: Sie betreuen 24 Stunden täglich meist über zwei Wochen meist schwer pflegebedürftige Menschen. Dann werden sie von einer Kollegin abgelöst, dürfen für zwei Wochen in die Heimat.

Bedingungen mies, Gehalt „lächerlich“

Die Pflegerinnen sind oft nicht angestellt, sondern formal Selbstständige – allerdings abhängig von nur einem Auftraggeber oder einer Vermittlungsagentur. Soziale Absicherung gibt es kaum. Und das zu einem „für uns fast lächerlichen Gehalt“, so Caritas-Generalsekretär Wachter. Kurz gesagt: Es ist ein Job unter extrem miesen Bedingungen und Einheimische möchten ihn nicht machen. Nur 1,6 Prozent der Heimpflegerinnen sind Österreicherinnen.

Was, wenn die Grenzen ganz geschlossen werden, wie es Ungarn zeitweise bereits macht? Das würde tatsächlich „Panik auslösen“, sagt Wachter. „Die Frauen haben ja auch Kinder zuhause“. Die würden sie dann auf unbestimmte Zeit nicht mehr wiedersehen können

Und: Kämen keine KollegInnen mehr, die sie ablösen, „werden sie zusammenbrechen vor Erschöpfung“, fürchtet Wachter. 24 Stunden täglich, sieben Tage in der Woche pflegebedürftige und demente Menschen zu betreuen, sei kaum über Monate durchzuhalten. Unter solchen Bedingungen „bräuchten wir uns nicht wundern, wenn die Pflegerinnen nicht mehr hierher zurückkommen“, sagt Wachter.

Ausnahme für Pflegerinnen im Grenzgebiet

Seit Beginn dieser Woche gilt in der Slowakei eine Ausnahmeregelung, ausschließlich für Arbeitskräfte im Gesundheitswesen. Wer „im Grenzgebiet“ arbeitet, also in einem Umkreis von ungefähr 30 Kilometer hinter der Grenze, darf weiter ein- und ausreisen.

Ob Österreich hier erfolgreich verhandelt oder Druck auf die Slowakei gemacht hat, die Ausnahme einzuführen, ist nicht klar. „Es handelt sich hierbei um einen einseitigen Erlass der Slowakei“, sagt Ulrike Sangeorzan-Sporer, Sprecherin der Wirtschaftskammer. Auch vom Sozial- und Gesundheitsministerium gab es dazu gegenüber MOMENT bisher keine Auskunft.

Ohne die Regelung säßen slowakische Pflegerinnen praktisch schon jetzt hier fest. Wer von ihnen in die Heimat fährt, müsste jetzt erst einmal in eine 14-tägige Quarantäne – und zwar nicht zuhause, sondern in einer staatlichen Einrichtung. So hat es unser Nachbarland in der vergangenen Woche aus Angst vor dem Coronavirus beschlossen.

Slowakei ruft Notstand aus

Fraglich ist, wie lange die Slowakei das Schlupfloch für Pflegekräfte an der Grenze nach Österriech offen hält. Bisher hat die Pandemie des Coronavirus die Slowakei scheinbar weitgehend verschont. Am Mittwoch meldeten die Behörden erstmals mehr als 100 infizierte Personen.

Doch wer Medien des Landes studiert, merkt schnell: die Verunsicherung ist groß. Viele SlowakInnen waren bis vor kurzem noch im Skiurlaub in Italien. Das Gesundheitssystem ist schlecht aufgestellt. Insgesamt gebe es nur 480 Plätze für Intensivpflege. Experten rechnen damit, dass diese Kapazität Anfang April erschöpft ist.

Das Land hat den Gesundheitsnotstand ausgerufen. Braucht die Slowakei in der jetzigen Situation nicht irgendwann alle verfügbaren Fachkräfte im Gesundheitswesen selbst? Was passiert, wenn sich PflegerInnen infizieren, die in Österreich arbeiten?

Unorthodoxe Lösungen: Zivis und Kellner

Bernd Wachter von der Caritas muss nun darüber nachdenken, wie das Pflegesystem in Österreich angesichts der Corona-Katatrophe weitergeführt werden kann, ohne dass es kracht. Zivildiener könnten „mal einen halben Tag mithelfen und die PflegerInnen entlasten.“

Der Ministerrat stellte dafür am Mittwoch die gesetzlichen Weichen. Wachter schlägt auch einen Notfallfonds für die Pflegerinnen vor. „Jetzt wird viel Geld in die Wirtschaft gepumpt“, sagt er. Aber auch auf die sozialen Dienste gelte es „ein gutes Auge zu haben.“

Daran hätte ich vor zwei Wochen nicht einmal denken können.
Bernd Wachter, Caritas-Generalsekretär

Eine weitere Möglichkeit: „Wir könnten jetzt auch beschäftigungslose KellnerInnen für drei Monate anstellen“. Doch ob Zivildiener oder Gastronom: Beide dürften und könnten nur Hilfstätigkeiten in der Pflege leisten. Die ausgebildeten und diplomierten PflegerInnen seien weiterhin unverzichtbar.

Caritas-Generalsekretär Wachter erwägt deshalb auch „unorthodoxe Lösungen“. So könnten jetzt leerstehenden Reha-Kliniken und Hotels in „temporäre stationäre Einrichtungen“ für mehrere Pflegebedürftige umgewandelt werden. Wachter: „Daran hätte ich vor zwei Wochen nicht einmal denken können.“

 
 

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