Keine Angst vor der 35-Stunden-Woche
Der Fachkräftemangel in Teilen der Sozialwirtschaft – insbesondere der Pflege – scheint hausgemacht. Geringe Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen mindern die Attraktivität. Dass diese Prinzipien auch in einer großteils gemeinnützig organisierten Branche gelten, wird gerne vergessen. Nicht zufällig stimmen die Arbeitskräfte mit den Füßen ab und wechseln in andere Branchen. Unternehmen wären normalerweise gezwungen, höhere Löhne zu bieten.
In privatwirtschaftlichen Wirtschaftssektoren werden Dienstleistungen bei höheren Kosten nur mehr für jene erbracht, die sich die höheren Preise auch leisten können. In der Sozialwirtschaft ist das keine Option. Die Betreuung von älteren Menschen, behinderten Personen, aber auch arbeitslosen Menschen verlangt Qualität für jeden Einzelnen, die ihm oder ihr in einer anständigen Gesellschaft zustehen sollte. Gibt es diesen Konsens für ein würdevolles Leben, so müssen bei Personalknappheit die Arbeitsbedingungen verbessert werden. Dass sich in der gesamten EU nicht ausreichend Personal für die Altenpflege im kleinen Österreich finden lässt, spricht Bände.
Klar ist, dass die Träger die Lohnerhöhungen nicht alleine stemmen können. Es braucht ganz konkret die Bundesregierung. Eine fünfprozentige Lohnerhöhung in der Sozialwirtschaft kostet überschlagsmäßig rund 180 Mio. Euro – weniger als ein Zweitausendstel unserer jährlichen Wirtschaftsleistung. Nur ums Geld geht es offenbar nicht, schließlich plant die Regierung, das Zehnfache dieser Summe für eine Steuersenkung für Unternehmen einzusetzen. Und wir haben aktuell einen Budgetüberschuss (!) von 2,2 Milliarden Euro. „Wir haben kein Geld für die Pflege“ hat noch nie so wenig gestimmt wie jetzt.
Gut für die Volkswirtschaft
Geht es aber vielleicht darum, den Auftakt für eine generelle 35-Stunden-Woche zu verhindern? Gegen eine Arbeitszeitverkürzung wird oft ins Feld geführt, dass die Arbeitskosten der einzelnen Unternehmen steigen würden. Vergessen werden in dieser betriebswirtschaftlichen Betrachtungsweise aber die volkswirtschaftlichen Effekte. Höhere Reallöhne und mehr direkt Beschäftigte erhöhen den Konsum und bringen den Unternehmen zusätzlichen Umsatz. Kürzere Arbeitszeiten sorgen für weniger Krankenstände und steigern die Produktivität – also mehr und besser organisierte Arbeit in weniger Arbeitszeit -, was die Kosten ebenso senkt. Die französische 35-Stunden-Woche ist ein Positiv-Beispiel. Die Arbeitszeit wurde reduziert, ein Netto-Beschäftigungsanstieg kann in den meisten Studien nachgewiesen werden. Die Wettbewerbsfähigkeit des Landes litt nicht.
Für Österreich findet die letzte große Studie zum Thema (vom WIFO) geringe Effekte auf das Bruttoinlandsprodukt oder die Leistungsbilanz, aber einen bedeutenden Beschäftigungsanstieg. Selbst falls die Wettbewerbsfähigkeit leicht leidet, ist Österreich immer noch bestens aufgestellt. Wir leben derzeit nicht über, sondern unter unseren Verhältnissen! Als Volkswirtschaft produzieren wir um knapp 9 Mrd. Euro (oder 2,2% unserer Wirtschaftsleistung) mehr für das Ausland, als wir von dort einkaufen und konsumieren. Von Seiten der Wettbewerbsfähigkeit droht also noch lange keine Gefahr.
Was die Studie jedoch klar herausarbeitet: Bei vollem Lohnausgleich würden die Gewinne der Unternehmer deutlich fallen, während die Löhne stiegen. Und hier liegt wohl auch der Grund für die Aufregung mancher KommentatorInnen, WirtschaftslenkerInnen und PolitikerInnen. Dem Standort selbst – im Gegensatz zu manchen seiner selbsternannten VertreterInnen – wäre eine moderate, geordnete und sozialpartnerschaftlich sauber ausverhandelte Arbeitszeitverkürzung herzlich egal.
Der Kommentar erschien auch in der „Presse„.