print print
favorites-circle favorites-circle
favorites-circle-full favorites-circle-full
Ungleichheit

Menschen mit Behinderung: Für einen Vollzeitjob bleibt nur ein Taschengeld

Menschen mit Behinderung, die in einer Behindertenwerkstatt arbeiten, bekommen keinen Lohn. Sie sind dauerhaft auf Sozialleistungen und die finanzielle Unterstützung ihrer Familie angewiesen.

„Taschengeld bekommen Kinder, wenn sie den Müll hinausbringen“, sagt Nicole Braunstein. Taschengeld bekommt auch sie mit 31 Jahren. 100 Euro im Monat, für einen Vollzeitjob in einem Büro der Lebenshilfe. Der Staat legt die Höhe fest und bezahlt das Taschengeld auch. Braunstein sitzt im Rollstuhl und hat ihre Lehre zur Bürokauffrau mit einer Teilqualifizierung abgeschlossen. Am regulären Arbeitsmarkt hat sie deshalb kaum Chancen.

Dieses Schicksal teilt sie mit rund 25.000 Österreicher*innen, die aufgrund ihrer Behinderungen in Tageswerkstätten tätig sind. Die Arbeiten, die dort erledigt werden, sind vielfältig: Sie reichen von kreativen Tätigkeiten über Handwerk und Gartenarbeit bis hin zum Verpacken von Waren oder Entrümpelungen.

„Vom Gesetz her bist du immer ein Kind“

Ihre Situation beschreibt die Volksanwaltschaft in einem Sonderbericht von 2019 als „unbefriedigend und unzulässig“.  Die Beschäftigten müssen weitgehend auf Arbeitsrechte verzichten: Sie haben keine eigene Sozialversicherung, keinen Anspruch auf Krankenstand und Urlaub, keine Möglichkeit, im Alter in Pension zu gehen. Das Taschengeld beträgt je nach Bundesland zwischen fünf und – in Ausnahmefällen – 200 Euro im Monat. Teilweise zahlen die Einrichtungen zwar zusätzliche Prämien aus, für ein finanziell unabhängiges Leben reicht es dennoch nicht.

Betroffene sind stets auf Angehörige und Sozialleistungen angewiesen. „Vom Gesetz her bist du immer ein Kind“, sagt Nicole Braunstein, die sich bei der Lebenshilfe auch als Selbstvertreterin für Menschen mit Behinderung engagiert. „Aber wir sind erwachsene Menschen, wir wollen uns eine Zukunft aufbauen.“

Unter den aktuellen Bedingungen ist das kaum möglich. Wem in Österreich eine Arbeitsfähigkeit von unter 50 Prozent attestiert wird, gilt als arbeitsunfähig. Diese Einschätzung stützt sich aber auf die medizinische Diagnose der Betroffenen, nicht auf ihre individuellen Fähigkeiten. Einmal für arbeitsunfähig erklärt, ist es kaum schaffbar, am sogenannten ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Das Arbeitsmarktservice ist für diese Menschen nicht zuständig, muss nicht versuchen, sie zu vermitteln oder ihnen Schulungen anzubieten. Damit bleiben nur noch Behindertenwerkstätten – mit all ihren Nachteilen.

Arbeiten mit Behinderung und Menschenrechte

„Ist das menschenrechtlich akzeptabel? Die Antwort ist nein“, sagt Martin Ladstätter. Er ist Teil eines  Monitoringausschuss, der die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Österreich überwacht. Dieses Übereinkommen soll Menschen mit Behinderung unter anderem das Recht sichern, „den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen“.

Genau das ist in Behindertenwerkstätten nicht der Fall. „Wir reden von Menschen, die angeblich therapiert werden, dabei aber arbeiten und nicht dafür bezahlt werden“, sagt Ladstätter. Die Tätigkeiten, die von Menschen in Tageswerkstätten erledigt werden, gelten rechtlich nicht als Arbeit – die Betroffenen sind schließlich als arbeitsunfähig eingestuft.

Wie weit aber tatsächlich von Therapie die Rede sein kann, hängt von der jeweiligen Einrichtung ab. Teilweise „verleihen“ die Werkstätten ihre Arbeiter*innen an Betriebe, beispielsweise für Industriearbeit – gegen Taschengeld.

Keine Lobby für Menschen mit Behinderung

Wie viel Taschengeld Menschen in den Einrichtungen bekommen, wird im Behindertengesetz des jeweiligen Bundeslandes festgelegt. Grundsätzlich sind sich Politik und Trägerorganisationen einig, dass hier Reformen nötig sind. Erst Ende April stimmten alle im Nationalrat vertretenen Parteien einem Entschließungsantrag der Koalitionsparteien zu, die Situation am Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung zu verbessern. Arbeitsminister Martin Kocher soll dazu bis Jahresende ein Gesamtkonzept ausarbeiten.

Einfach ist das nicht. Einerseits ist Behindertenarbeit Ländersache, es braucht also eine Einigung aller neun Landesregierungen. Andererseits müssten auch die Sozialleistungen, die Menschen mit Behinderungen erhalten, auf die neue Situation abgestimmt werden. Auf keinen Fall sollen diese voreilig gestrichen werden, sodass die Betroffenen zwar einen höheren Lohn erhalten, ihnen aber am Ende weniger Geld zum Leben bleibt als vor der Reform.

„Menschen mit Behinderung haben keine Lobby“

Für Dietmar Ogris, Obmann des Vereins „Selbstbestimmt Leben Graz“, sind das jedoch nicht die einzigen Gründe, warum Änderungen erfahrungsgemäß schleppend passieren: „Menschen mit Behinderung haben keine Lobby, keine Gewerkschaft, keine wirkliche Vertretung. Wir sind immer das Randglied der Gesellschaft gewesen, haben nie gelernt, politisch aktiv zu sein.“ Auch von den Trägerorganisationen wünscht er sich mehr Engagement: „Wenn alle Träger geschlossen auftreten und sagen würden, ‚wir wollen etwas ändern‘, hätten sie Macht“, ist er überzeugt.

Das längerfristige Ziel der „Selbstbestimmt-Leben“-Bewegung ist aber nicht bloß die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in Tageswerkstätten, sondern ein inklusiver Arbeitsmarkt, der auch für behinderte Menschen zugänglich ist.

Ausgrenzung beginnt in der Kindheit

Andere europäische Staaten haben bereits Modelle geschaffen, die es für Betriebe attraktiver machen sollen, Menschen mit Behinderungen anzustellen. Beispiel dafür sind die Niederlande: Ein Arbeitnehmer mit geschätzten 50 Prozent Leistungsfähigkeit erhält den vollen Mindestlohn, sein Arbeitgeber bekommt von der Gemeinde aber 50 Prozent dieses Betrags rückerstattet.

„Das wäre optimal“, sagt Nicole Braunstein. „Der Arbeitgeber hat keine Verluste und der Arbeitnehmer hat ein Selbstwertgefühl, denn er kann arbeiten gehen, wie jeder andere.“

Damit ein solches Modell funktionieren kann, müssten Menschen mit Behinderung allerdings von Kindheit an besser in die Gesellschaft einbezogen werden, glaubt Albert Grebenjak. Trotz seiner spastischen Lähmung und Lernschwierigkeiten ermöglichten ihm seine Eltern eine weitgehend „normale“ Jugend. Er besuchte eine Regelschule, war Mitglied der Pfarrgemeinde und des Fußballvereins und schloss eine Lehre zum Koch ab. Heute berät er Menschen mit Behinderung bei der Arbeitssuche.

„Wir wollen sagen können: Ich habe meinen Beitrag für die Gesellschaft geleistet“

Viele Kinder mit Behinderungen würden völlig abgesondert aufwachsen, überbehütet und in ständiger Sonderbetreuung. Die meisten Entscheidungen würden ihnen abgenommen, ihre Familien wollen nur das Beste für sie. „Behinderte Jugendliche haben oft nicht einmal die Möglichkeit, Fehler zu machen und daraus zu lernen“, sagt Grebenjak.

Es falle ihnen später schwer, soziale Fähigkeiten zu entwickeln und sich in der Gesellschaft – und damit auch am Arbeitsmarkt – zurechtzufinden. „Oft kommen Kunden zu mir und ich frage sie, was sie eigentlich tun möchten“, erzählt er. „Und die überlegen und sagen: Das hat mich noch nie jemand gefragt.“

Auch Nicole Braunstein sieht in Sachen Inklusion noch Aufholbedarf: „In den Köpfen ist noch drinnen: Der Mensch ist behindert, der kann ja eh nicht so recht. Aber wir haben was im Kopf. Wir wollen sagen können ‚ich habe meinen Beitrag für die Gesellschaft geleistet.‘“

 

    Neuen Kommentar hinzufügen

    Kommentare 0 Kommentare
    Kommentar hinzufügen

    Neuen Kommentar hinzufügen

    Es gibt noch keine Kommentare zu diesem Beitrag!