Mietschulden wegen Corona: Wie die Delogierungswelle gestoppt werden kann
Die Zahl der Arbeitslosen, die vielen Menschen, die in Kurzarbeit geschickt worden sind. Für Robert Blum von der Fachstelle für Wohnungssicherung der Volkshilfe ist klar: „Wir haben jetzt die größte Krise in der Zweiten Republik.“ Blum berät Menschen, denen Mietschulden über den Kopf gewachsen sind oder denen schon die Räumung ihrer Wohnung droht.
Mietschulden kommen schleichend
Im Mietwohnungsmarkt hat die Coronakrise bisher, zum Glück, noch nicht voll eingeschlagen. Blum weiß jedoch: Das ist eine trügerische Ruhe. Denn: „Wohnungslosigkeit ist ein Thema, dass nicht sofort schlagend wird“, sagt er und zieht einen Vergleich zur Finanzkrise, die 2008 ausbrach. „Fünf Jahre später, also 2013, hatten wir einen Höchststand an obdachlosen Menschen in Österreich“.
Wir müssen jetzt aufpassen, dass aus der Gesundheitskrise keine soziale Krise wird.
Robert Blum, Volkshilfe Wien
Es dauere lange, bis eine Krise bei einem der elementaren Grundbedürfnisse der Menschen ankommt: beim Wohnen. „Wir müssen jetzt aufpassen, dass aus der Gesundheitskrise keine soziale Krise wird“, sagt Blum.
Viele Menschen, deren Einkommen plötzlich wegbricht, kratzen Ersparnisse zusammen oder leihen sich Geld, um die Miete nur ja weiter zahlen zu können. Eventuell vorhandene finanzielle Spielräume sind aber irgendwann aufgebraucht. Im Coronajahr 2020 kam noch etwas hinzu: „Es wurden Stundungen gewährt, die Gerichte waren zeitweise nicht aktiv, auch die Exekutoren nicht“, sagt er zu MOMENT.
Warnung vor Lawine an Delogierungen
Auch deswegen ging die Zahl der Delogierungen und Räumungsklagen österreichweit im vergangenen Jahr sogar stark zurück, wie aus einer parlamentarischen Anfragebeantwortung des Justizministeriums hervorgeht. Mehr als 41.000 Räumungsklagen und 12.000 Exekutionsverfahren wurden im Jahr 2019 eingebracht. Im vergangenen Jahr waren es rund 27.500 Klagen und 8.200 Exekutionen (Link zum pdf). Doch, so Blum: „Stundungen laufen aus und die Verfahren werden eingebracht. All das kommt jetzt auf uns zu.“
Ich halte es für realistisch, dass sich die Zahl der Delogierungen heuer verdoppelt.
Thomas Ritt, Arbeiterkammer
Auch Menschen, die wieder anfangen zu arbeiten, drückten jetzt Mietrückstände von 4.000 Euro oder mehr. „Schulden, die sie unmöglich zurückzahlen können“, sagt Blum. Er warnt: „Da kommt es zu einer Lawine an Kündigungen und Räumungsklagen.“ Thomas Ritt, Wohnexperte bei der Arbeiterkammer, ist ebenso alarmiert. „Ich halte es für realistisch, dass sich die Zahl der Delogierungen heuer verdoppelt“, sagt er zu MOMENT.
Die Arbeiterkammer schätzte: Rund 48.800 Haushalte könnten in diesem Jahr so viel an Mietschulden anhäufen, dass sie Kündigungen und Räumungsklagen erhalten. Auf 83 Millionen Euro beziffert Ritt den Berg der Corona-Mietschulden, die in diesem Jahr zusammenkommen können. Rund 17.000 Haushalte könnten sogar delogiert werden, ihre Bewohnerinnen und Bewohner also aus der Wohnung fliegen.
Erst Arbeitslosigkeit, dann Mietschulden und Delogierung
So wie Paul. Der Kellner konnte im Coronajahr 2020 von einem Tag auf den anderen nicht mehr arbeiten, verlor den Job. „Plötzlich hatte ich nur 980 Euro im Monat. 800 Euro muss ich für meine Wohnung zahlen“, sagte er zu MOMENT – hier lest ihr den ausführlichen Artikel dazu. Paul häufte Mietschulden an, der Vermieter klagte auf Räumung. Mitte Juni muss der Familienvater aus seiner Wohnung raus.
Robert Blum begleitete Pauls Verfahren. Er sagt: “Das ist kein Einzelfall. Leider ist der repräsentativ.” Die Arbeiterkammer und die Volkshilfe fordern daher vom Bund, einen Mieter-Hilfsfonds in Höhe von 100 Millionen Euro einzurichten. Er soll helfen, das Schlimmste für Betroffene zu verhindern: wohnungslos auf der Straße zu stehen.
Ich bin der letzte der die Regierung verteidigt, aber man muss aufpassen, dass man nicht Panik verbreitet.
Christian Bartok, MieterHilfe Wien
„Dass Tausende Delogierungen drohen, ist schlichtweg falsch“, widerspricht Christian Bartok, Chef der MieterHilfe der Stadt Wien, den Schätzungen von Arbeiterkammer und Volkshilfe. „Ich bin der letzte der die Regierung verteidigt“, sagt der SPÖ-Bezirksrat in Wien-Liesing, „aber man muss aufpassen, dass man nicht Panik verbreitet.“ Dennoch müsse man „Druck auf die Bundesregierung machen, hier etwas zu tun. Denn die Krise ist nicht vorbei. Das kommt erst“, sagt Bartok zu MOMENT.
Mieter-Hilfsfonds? Das Ministerium prüft
Wie Blum schätzt auch Bartok, dass spätestens im Frühjahr 2022 die Krise voll auf den Markt der Mietwohnungen durchschlägt. „Man sollte die Zeit aber nicht abwarten, sondern jetzt präventiv handeln, um es nicht so weit kommen zu lassen“, sagt er. Selbst wenn es „nur ein paar Hundert Fälle sind, gibt es die Forderung an den Bund, etwas zu tun“, sagt Bartok.
Aus dem von den Grünen geführten Gesundheits- und Sozialministerium heißt es zu MOMENT: „Inwieweit eine Unterstützung seitens des Bundes beziehungsweise des Sozialministeriums sinnvoll ist und allenfalls gesetzt werden kann, wird geprüft.“ Ministeriumssprecherin Christina Ritschel verweist zudem darauf, dass Beihilfen fürs Wohnen „primär in der Zuständigkeit der Länder“ lägen.
Die Komplexität der Problemlagen nimmt zu.
Amt der Tiroler Landesregierung
MOMENT fragte in allen neun Bundesländern nach, wie groß bei ihnen das Problem überschuldeter Mietwohnungs-Haushalte ist, wie sie hier helfen und ob der Bund sich an Hilfen beteiligen sollte. Nur vier Länder antworteten. „Das ohnehin hohe Niveau der Mieten in Tirol wirkt sich derzeit zusätzlich stark auf die Zahlungsfähigkeit der betroffenen MieterInnen aus“, sagt Rainer Gerzabek, Sprecher im Amt der Tiroler Landesregierung. „Die Komplexität der Problemlagen nimmt zu“.
Steigende Mietschulden: Länder basteln an Lösungen
Die Zahl der durch Mietrückstände überschuldeten Haushalte und Delogierungen steige in Tirol derzeit leicht an. Das Land stehe Maßnahmen des Bundes, etwa einem Mieter-Hilfsfonds, „grundsätzlich offen gegenüber“. Tirol hat aber schon eigene Schritte dorthin unternommen. „Der Wohnungssicherungsfonds mit einem eigenen Kriterienkatalog steht unmittelbar vor der Umsetzung“, sagt Gerzabek.
Keine Notwendigkeit, einen Hilfsfonds für MieterInnen zu unterstützen.
Amt der Vorarlberger Landesregierung
Etwas weiter westlich In Vorarlberg sieht Landessprecher Florian Themeßl-Huber „keine Notwendigkeit, einen Hilfsfonds für MieterInnen zu unterstützen“. Im vergangenen Jahr wurde im Ländle in Zusammenarbeit mit der dortigen Arbeiterkammer ein befristeter Wohnkostenzuschuss gewährt.
Haushalte, die coronabedingt ins Schlingern kamen, wurden mit fast 400.000 Euro zusätzlich unterstützt. Zumindest auch in Niederösterreich und der Steiermark gab es Sonderaktionen und zusätzliches Geld.
Anderer Ansatz: Mietschulden erlassen
Christian Bartok von der MieterHilfe sagt, einen Mieter-Hilfsfonds des Bundes könne er „nur unterstützen“. Er schlägt aber noch etwas anderes vor, um überschuldeten Haushalten zu helfen. „Die einfache Variante ist, wenn der Vermieter sie entschuldet.“ Heißt: Mietschulden, die infolge der Coronakrise entstanden sind, sollten den Betroffenen vonseiten der Vermieterinnen und Vermieter erlassen werden. „Und dafür erhalten die einen Ersatz für nicht gezahlte Mieten vom Bund“, erläutert Bartok.
Wie bei den Fixkostenzuschüssen und Umsatzausfällen, müsse das laut Bartok über die COFAG finanziert werden, also die COVID-19 Finanzierungsagentur des Bundes GmbH. Sie verteilt Corona-Hilfsgelder an Unternehmen, in Summe rund 15 Milliarden Euro. Zuständig dafür ist das Finanzministerium. Doch: “Das legt die Ohren an, da kommt nichts, nicht einmal eine Antwort”, sagt Bartok. Auch gegenüber MOMENT äußerte sich das Finanzministerium trotz mehrfacher Nachfrage nicht.
Die Vermieter sind bisher die, die nichts beigetragen haben.
Christian Bartok, MieterHilfe
Wichtig bei seinem Modell sei, so Bartok: “Die Vermieter leisten auch einen Beitrag. Denn wir reden nicht von 100 Prozent Ersatz, sondern von 80 Prozent.“ Wem also Mieteinnahmen entgangen sind, bekäme nicht alles zurück, sondern nur einen – recht großen – Teil. Denn: „Die Vermieter sind bisher die, die nichts beigetragen haben“, sagt Bartok.
Immobilienwirtschaft auch für Hilfsfonds
Wohl nicht ganz selbstlos unterstützt auch der Österreichische Verband der Immobilienwirtschaft (ÖVI) die Forderung danach, einen Mieter-Hilfsfonds aufzustellen. Denn kommt der, sind ihre Mieteinnahmen in voller Höhe gesichert. „Natürlich muss man aufpassen, dass sich Vermieter nicht noch eine goldene Nase mit der Wohnungssicherung verdienen“, sagt Tanja Wehsely, Geschäftsführerin der Volkshilfe, zu MOMENT.
Wohnungslosigkeit ist das Teuerste und das, was am meisten Leid verursacht.
Tanja Wehsely, Geschäftsführerin Volkshilfe
„Das ist mir nicht wurscht. Aber wichtig ist jetzt, Menschen abzusichern, damit sie zur Arbeitslosigkeit nicht auch noch die Wohnung verlieren“, sagt Wehsely. Denn: „Wohnungslosigkeit ist das Teuerste und das, was am meisten Leid verursacht. Viele können sich nicht vorstellen, wie dein Leben praktisch endet, wenn du die Wohnung verlierst.”
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Delogierung wegen Corona-Mietschulden: „Es schreit nicht wer umsonst nach Hilfe“
Info:
Die Volkshilfe Wien unterstützt akut von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen und nimmt dafür Spenden an. Kontodaten und mehr Informationen dazu gibt es hier.