ÖVP blockiert Renaturierung: Verantwortungsloser Versuch Stimmen zu fangen
Die ÖVP sorgt sich mal wieder. Aber nicht um Klima und Umwelt in Österreich, sondern um die Landwirt:innen. Ihre Landwirt:innen. Am Donnerstag dieser Woche traten Bundeskanzler Karl Nehammer und ÖVP-Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig vor die Kameras um klarzustellen: Das Renaturierungsgesetz der EU soll scheitern. Sie lehnen es ab.
Mit dem EU-Renaturierungsgesetz sollen Wälder aufgeforstet und Moore und Flüsse in natürlichen Zustand gebracht werden. Nehammer nennt das jetzt “ein dramatisches Beispiel für den Überregulierungswahn in Brüssel”. Damit bedient er sich der bekannten EU-feindlichen Wortwahl der FPÖ und anderer rechter Parteien in Europa. Das ist nicht wirklich neu. Dennoch ist jedes Mal bemerkenswert, wie die Volkspartei in Wort und Tat versucht, rechts zu überholen – um damit Stimmen zu fischen, die sie in der Mitte verloren hat.
Hingegen sollte man den von Nehammer so beklagten “Überregulierungswahn in Brüssel” loben. Würde die europäische Staatengemeinschaft so weiterwurschteln wie die ÖVP-geführte Regierung in den vergangenen Jahren, hätte sich bei Klima- und Umweltschutz gar nichts getan. Stichwort Klimaschutzgesetz. Das soll das von ÖVP und Grünen im Koalitionsvertrag vereinbarte Ziel von Klimaneutralität bis 2040 in konkrete Maßnahmen gießen.
Seit mehr als drei Jahren hat Österreich kein Klimaschutzgesetz. Und es wird auch im vierten Jahr nichts mehr werden. Im Herbst läuft die Koalition von ÖVP und Grünen aus. Die ÖVP blockiert das Klimaschutzgesetz beharrlich. Einfach, indem sie nichts tut. Jahr für Jahr wird es damit unwahrscheinlicher, dass Österreich die von der EU vorgegebenen Klimaziele erreicht. Diese sind verbindlich und von Österreich mitbeschlossen. Am Rande bemerkt: Sie nicht einzuhalten, könnte für das Land sehr teuer werden.
Einziges Argument von Nehammer und Totschnig gegen das Renaturierungsgesetz ist die Sorge um die heimische Landwirtschaft. Die würde Schaden nehmen, wenn es wieder mehr intakte Moore gäbe oder Flüsse wieder in ihren natürlichen Betten fließen würden. Denn klar: Mehr Naturflächen bedeutet potenziell weniger Anbauflächen für die Landwirtschaft. Der ÖVP-Bauernbund spricht dabei sogar von “Enteignung”. Er vergisst aber zu erwähnen, dass es den Landwirt:innen natürlich vergoldet werden würde, wenn sie Flächen abgeben.
Landwirtschaftsminister Totschnig spielt noch eine andere Karte: Das mit dem Renaturierungsgesetz sei alles so verwirrend. Es gebe ja schon Gesetze in Österreich, “da noch etwas draufzulegen, das führt zu einer Überbürokratisierung”, sagte er am Donnerstagabend in der “Zeit im Bild 2” des ORF. Um die befürchtete “Überbürokratisierung” zu vermeiden, könnte Österreich das EU-Renaturierungsgesetz auch in nationales Recht umsetzen. Klingt mühsam, aber dafür sind ja Ministerien irgendwie auch zuständig, oder?
In einem Offenen Brief forderten zuletzt 170 Wissenschaftler:innen, dass Österreich seine Blockade aufgibt. Totschnig wischte das im Interview einfach weg. Die Forscher:innen kämen schließlich vorrangig „aus der Ecke des Umweltschutzes“. Stattdessen bemühte er eine Anekdote: Am vergangenen Wochenende habe er einen Bauern getroffen, der ihm sagte, er kenne sich nicht mehr aus. Ja, da kann man natürlich nichts machen.
Oder doch? Wie wäre es denn, wenn der Landwirtschaftsminister und die ÖVP ihrem Stammklientel einmal erklären, was das Renaturierungsgesetz bringt und was sich für Landwirt:innen ändern würde? Und sie könnte erklären, wie sehr vor allem die Landwirtschaft von intakter Natur und höherer Artenvielfalt profitiert.
Totschnig könnte auch erklären, wie sehr Landwirtschaft und Nahrungsmittelsicherheit leiden, wenn sich in Österreich die Klimakrise verschärft. Denn das führt zu steigenden Lebensmittelpreisen, lässt die Wirtschaft leiden und macht uns abhängig von Importen. Also all dem, wovor die ÖVP warnt, sollte das Renaturierungsgesetz kommen. Und: Es gibt durchaus Landwirt:innen in Österreich, die das Gesetz unterstützen, weil sie wissen, was ihnen sonst blüht: nicht mehr viel auf ihren Feldern.
Der EU-Gesetzentwurf wurde schon einmal zu Gunsten der Landwirtschaft abgeschwächt. Nehammer und Totschnig betonen ihr Nein zur Renaturierung jetzt, weil in den Bundesländern der Widerstand gegen das Gesetz bröckelt. Die SPÖ-Länder Wien und Kärnten lehnen das Gesetz inzwischen nicht mehr ab. Bleibt es dabei, fällt die bisher geschlossene Mauer aller Bundesländer gegen das EU-Renaturierungsgesetz.
Ohne das Veto könnte die grüne Umweltministerin Leonore Gewessler im EU-Umweltrat dem Gesetz zustimmen. Dort ist sie Österreichs Vertreterin. Dort soll das Gesetz bald auf die Tagesordnung kommen. Und dort könnte Gewessler einen umstrittenen Alleingang wagen: Dafür stimmen, obwohl der Koalitionspartner dagegen ist.
Gewesslers Stimme könnte die entscheidende sein, damit eine qualifizierte Mehrheit der EU-Länder für das Renaturierungsgesetz stimmt – also mindestens 55 Prozent der Mitgliedsländer, die gleichzeitig 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren.
Die ÖVP warnt vor einem solchen Schritt. Landwirtschaftsminister Totschnig sagt, die Gesetzeslage sei klar: Fällt das Bundesländer-Nein, dann müssten er, Finanzminister Magnus Brunner und Europaministerin Karoline Edtstadler – alle ÖVP – noch zustimmen. Ein Schritt, der auszuschließen ist.
Allerdings zeigt ein Blick in die jüngste Vergangenheit: Für sich selbst nimmt sich die ÖVP gerne einmal das Recht heraus, auf die Meinung des kleinen Koalitionspartners zu pfeifen. Am 13. Mai stimmte der EU-Rat über die Gemeinsame Agrarpolitik der EU ab. Verordnungen wurden geändert, in denen Umweltauflagen für die Landwirtschaft gesenkt wurden. Das damit befasste grüne Umweltministerium widersprach. Unter Führung der ÖVP stimmte Österreich trotzdem dafür.
Geht auch Gewessler solch einen Schritt, könnte das der Stimmung in der Koalition wohl kaum noch schaden. Denn die ist in der endenden Beziehung von ÖVP und Grünen eh schon im Keller. Für Umwelt, Klima und auch Landwirtschaft gibt es mit dem Renaturierungsgesetz aber mehr zu gewinnen als ein paar Stimmen bei der nächsten Wahl.